Hans-Ulrich Treichel: "Tagesanbruch"


Die Wunden, die sich nie schließen

Bei Tagesanbruch entdeckt eine ältere Frau und Mutter, dass ihr erwachsener Sohn, den sie zuletzt in ihrer Wohnung gepflegt hat, gestorben ist. Sie legt ihn zurück ins Bett und beginnt zu erzählen. So vieles möchte sie ihrem Sohn noch sagen, bevor ihn die Bestattung zu seiner letzten Reise abholen kommt.
"Der August war immer unser liebster Monat. Du wurdest im August geboren, du warst ein Sommerkind, ein Hitzekind. Im August fühltest du dich am wohlsten. Wenn ich es recht bedenke, war der Sommer die einzige Zeit, in der du nicht gefröstelt hast."

Langsam um verschiedene Themen kreisend, erzählt die Mutter ihrem toten Sohn aus ihrem Leben, aus dem Leben ihres längst verstorbenen Mannes, aus der Kindheit, von schwierigen Tagen, Steuerprüfungen und Steuernachzahlungen. Sie erzählt ihrem Sohn, wie es war, damals in Deutschland, während des Krieges und danach. Wie es war, aus Polen kommend Fuß zu fassen, das Geschäft aufzubauen. Ein Geschäft für Arbeitskleidung, denn die hübsche Mode, die konnte man ja nur verkaufen, wenn man danach aussah. Wie es war, mit dem Vater, der den rechten Arm im Krieg verloren hatte.
"An das Korsett musste er sich nicht gewöhnen, damit fühlte er sich schon vom ersten Tag an wohl. Obwohl es wahrlich kein schönes Kleidungsstück ist, so ein Korsett. So ein Männerkorsett. Bei Frauen ist das etwas anderes, da gibt es die schönsten Korsetts, die man sich denken kann."

Sie erzählt vom damaligen Deutschland, während sie nahtlos in das heutige Deutschland eintaucht. Sie erzählt von der eingewanderten tunesischen Nachbarsfamilie, mit der sie eine innige Freundschaft verbindet. Sie erzählt vom Aufpassen auf die Tochter der Familie, was wiederum nahtlos in die Hilfe der Frau bei der Pflege des todkranken Sohnes der Erzählerin übergeht. Geben und Nehmen, die beiden Faktoren, die hier integrativ das vermögen, was offensichtlich in unserer Zeit eine verlorene Erkenntnis zu sein schein.
Sie erzählt von der Kälte, von der Schwierigkeit, die Rechnungen für eine warme Wohnung zu bezahlen, von der Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Die Frau erzählt ihrem toten Sohn auch vom Klavier, einem Flügel, einem Markenklavier, das der Sohn letztendlich dann doch nicht spielen gelernt hat, da er sich viel lieber mit den Schallplatten diverser Musikgruppen seiner Zeit beschäftigt hat.
"Meine Hoffnung, dass du dich für das Instrument interessieren könntest, erfüllte sich nicht. Dein Interesse an dem Instrument flammte nur noch einmal auf, als der Klavierstimmer mit seinen Stimmwerkzeugen kam. Das hatte uns die Herstellerfirma in einem Begleitschreiben empfohlen, dass wir das Klavier vor Ingebrauchnahme stimmen lassen sollten."

Sie erzählt ihrem Sohn auch von Dingen, über die man nicht erzählen kann.
Nämlich davon, wie es war, als die Russen kamen, wie es war, dass man einem Peiniger dankbar für sein Leben sein muss, wie unauslöschliches Leid das zerstören kann, was die Liebe davor entfacht hat.

Wie Hans-Ulrich Treichel das bewerkstelligt, ist einfach umwerfend. Er lässt die Erzählerin fragmentarisch schüchtern erzählen, was ihm erlaubt, ohne konkret Dinge beim Namen zu nennen, alles in den verschiedenen Farbtönen zu zeichnen. Das ist, nicht nur in dieser Szene, bestechend bis ins kleinste Detail.

Im zweiten Teil scheint die Erzählerin nicht mehr den Toten anzusprechen, sondern den Leser direkt. Ein außergewöhnlich wirkungsvoller Kunstgriff, der in voller Länge aufgeht, weil dadurch eine neue Ebene der Wahrnehmung entsteht, die sonst wahrscheinlich so nicht entstanden wäre.
Dabei deckt sie Tatsachen und Möglichkeiten auf, die das, was die Wahrheit des gelebten Lebens war, teilweise ins Wanken bringen. Oder gar umstoßen.

Am Ende entsteht in der Spiegelung einiger Lebensgeschichten eine Spiegelung der deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Im kleinen Rahmen natürlich, doch stellvertretend für viele Schicksale auch im Gesamtbild.

Hans-Ulrich Treichels Prosa ist vielschichtig, poetisch und sehr wandelbar, nie beliebig und immer so genau auf den Punkt, dass man vermuten könnte, der Autor habe mit unendlicher Geduld und absoluter Hingabe genau an diesem literarischen Kunstwerk, das wie in Stein gemeißelt erscheint, gearbeitet.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 06/2016)


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