Stefan Slupetzky: "Der letzte große Trost"


Der 1962 geborene österreichische Schriftsteller Stefan Slupetzky ist den vergangenen Jahren vor allem als Autor vielfach ausgezeichneter Kriminalromane auch über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt geworden.

Nun hat Stefan Slupetzky, der auch als Verfasser und Illustrator von Kinderbüchern hervorgetreten ist, die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Familiengeschichte zum Anlass genommen, einen Roman zu schreiben, in dem es nicht nur um ein Stück österreichischer Nazigeschichte geht, sondern auch um die Frage, wie ein Zeitgenosse mit der schweren Bürde einer Familiengeschichte und mit dem Abschiednehmen umgeht.

Sein Protagonist heißt Daniel Kowalski. In seiner frühen Jugend ein Feingeist, der sich zum Künstler berufen sieht, muss er nach dem frühen Tod seiner Vaters erleben, dass sein einige Jahre älterer Bruder Georg ihn nach einem Hirnschlag der Mutter mit deren Pflege allein lässt, mit Sack und Pack in einen Flieger steigt und nach Amerika auswandert.

Allein seine Frau Marion, die er später kennenlernt, und mit der er Zwillinge bekommt, ist ihm noch eine Stütze: "Dass ihn die letzten zwei Trabanten seiner Jugendzeit verlassen hatten - seine Mutter geistig und sein Bruder körperlich -, bedeutete ein weiteres Verlöschen der Vergangenheit. Daniel hatte seine Chronisten verloren, er war nun endgültig Vollwaise."

Es ist ein Brief, der ihn mit einer ganz anderen Vergangenheit konfrontiert. Eine Tante, die in Israel lebt, teilt ihm mit, dass sie ein Haus aus ihrem Besitz in Österreich verkaufen will, und fragt an, ob er es vorher noch besuchen möchte. Daniel, so erfährt der Leser in diesem Zusammenhang, hat eine jüdische Mutter, deren gesamte Familie im Holocaust vernichtet wurde, und einen Großvater, der zu den größten Kriegsverbrechern der Nazizeit gehörte und in dessen Chemiefabrik das Gift Zyklon B hergestellt wurde, mit dem die Menschen in den Konzentrationslagern vergast wurden.

Daniel fährt zu diesem Haus und macht in dessen Keller einen Fund, der während der nächsten Jahre seinen ganzen Geist und sein gesamtes Leben bestimmen wird. Unter etlichem anderen Gerümpel entdeckt er ein Tagebuch seines Vaters. Als er es atemlos liest, ist für lange Zeit der Verdacht in sein Herz gepflanzt, dass sein Vater seinen Tod nur inszeniert hat, um für sich selbst ein zweites Leben zu beginnen:
"Fest stand, dass der Vater Phantasien über seinen vorgetäuschten Tod entwickelt hatte. Dass er, wenn auch, wie er schrieb, rein theoretisch, damit kokettiert hatte, aus seinem Leben auszusteigen, um an einem anderen Ort ein völlig neues zu beginnen.
Vorstellungen dieser Art waren Daniel nicht fremd. Er hatte früher oft darüber nachgedacht, dass jede Form der Existenz nur einen winzig kleinen Stein im Mosaik der nicht gelebten Möglichkeiten bildete. (...) Der Mensch war einem pausenlosen Abschied unterworfen, einem dauernden Verzicht auf nie gekannte Daseinsvarianten."


Warum spielte der Vater mit solchen Gedanken? Wollte er der unerträglichen Last der Geschichte und Schuld seines Vaters, des Kriegsverbrechers, entfliehen, sozusagen aus seiner eigenen Geschichte flüchten und die Identität wechseln?

Immer wieder mit Rückblenden versehen, welche die belastete Familiengeschichte Daniels reflektieren, lässt Stefan Slupetzky seinen Daniel Kowalski insgesamt elf Jahre an einem Plan festhalten und ihn schließlich ausführen. Mittlerweile auf eine fast manische, aber vor seiner Familie streng geheim gehaltene Weise, plant er seine Suche nach dem Vater und ordnet diesem Vorhaben sein Leben völlig unter. "Der letzte große Trost" sollte es für sein Leben werden. Denn: "Er hätte seinen Vater (als Kind) so gerne aufgemuntert, ihn getröstet, doch er war weder mutig genug, um die richtigen Worte zu suchen, noch alt genug, um sie zu finden."

Doch ein Gespräch mit einem alten Freund seines Vaters und die wachen Sinne seiner Frau Marion bringen eine Wende ...

Stefan Slupetzky ist ein großer Erzähler. Mit seiner reichen Sprache, die den Leser schon nach wenigen Seiten in ihren Bann zieht, erzählt er die Geschichte einer von der Vergangenheit belasteten Vater-Sohn-Beziehung vor dem Hintergrund einer jüdischen und nationalsozialistischen Vergangenheit, einer starken Ehe und die Geschichte von der Fantasie eines Ausstiegs aus der eigenen Identität.

(Winfried Stanzick; 03/2016)


Stefan Slupetzky: "Der letzte große Trost"
Rowohlt, 2016. 256 Seiten.
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Stefan Slupetzky erhielt für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, "Der Fall des Lemming", im Jahr 2005 den "Glauser-Preis", für "Lemmings Himmelfahrt" den "Burgdorfer Krimipreis". "Lemmings Zorn" wurde anno 2010 mit dem "Leo-Perutz-Preis" ausgezeichnet.

Einige weitere Bücher des Autors:

"Lesereise Mauritius. Zum Segatanz unter dem Flammenbaum"

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"Atemlos. Kurzgeschichten" zur Rezension ...

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