Boris Pasternak: "Zweite Geburt"

Werkausgabe Band 2. Gedichte, Erzählungen, Briefe
Herausgeberin: Christine Fischer


Kürzlich ist im Fischer Verlag der zweite Band der Werkausgabe von Boris Leonidowitsch Pasternak erschienen. Er umfasst zwei Erzählungen, "Luftwege" und "Der Schutzbrief", und ein paar Briefe (drei an Olga Freudenberg, zwei an Marina Zwetajewa und einen an Rainer Maria Rilke sowie dessen Erwiderung). Im Anhang finden sich Anmerkungen, Quellennachweise, ein paar biografische Daten zu Boris Pasternak und ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin Christine Fischer. Von Christine Fischer stammen auch einige der Übersetzungen; insgesamt ist anzumerken, dass mit dieser Ausgabe eine ausgewogene Präsenz weniger Übersetzer und eine kluge Textauswahl und -zusammenstellung vorliegt. 

Die ausgewählten Gedichte stammen aus den Jahren 1921 bis 1941 und können somit, wie auch die übrigen Texte in "Zweite Geburt", der mittleren Schaffensperiode Pasternaks zugeordnet werden, wenngleich das Ende der Niederschrift des "Schutzbriefes" gewiss auch eine wichtige Zäsur darstellt

Mindestens bis zum "Doktor Schiwago", dem Roman seiner späten Jahre war Pasternak in erster Linie als Lyriker berühmt, kein Wunder bei dem sehr empfindsamen, musikalischen Menschen, dem die richtigen Sprachbilder mühelos, wie es den Anschein hat, zugeflogen sind. Ein optimistisches Grundgefühl, Durchlässigkeit und Durchdringung von Innerem und Äußerem und damit einhergehende Stimmungen, Eingebettetsein und ständige Rückbeziehung auf die Natur, eine Art zweite (der Buchtitel ist auch der eines Gedichtbands, aus dem sich hier etliche Gedichte wiederfinden), durch Symbolismus, Futurismus, die Erfahrung des Krieges und Sonstiges gebrochene Romantik, die mit des Dichters literarischen Verwandten, mit Goethe, Puschkin, Lermontow, Rilke über die Zeiten hinweg Dialog führt und in der, wenn es sein muss, Raum für alles, das Politischeste wie das Privateste vorhanden ist, sind Kennzeichen seiner Lyrik. In ihrem Nachwort, das auch eine kleine Einführung in die abgedruckten Texte darstellt, weist Christine Fischer auf einige Besonderheiten dieser Lyrik und einige konkrete literarische, aber auch musikalische (ein längeres Gedicht wird sogar ausdrücklich als "Thema mit Variationen" bezeichnet) Anspielungen hin.  

Voll mit stimmigen poetischen Bildern ist auch Pasternaks Prosa. "Man wusste nicht, wie man lebt mit ihm, und trat in ihn ein wie in eiskaltes Wasser.", heißt es beispielsweise über die Erfahrung des Ersten Weltkriegsbeginns im Hinterland. Ein besonderes Schmankerl ist der Text, aus dem das Zitat stammt, Pasternaks autobiografischer, 1931 erschienener "Schutzbrief" (in dieser Ausgabe umfasst er knapp 150 Seiten). Kurz nach dem letzten darin Beschriebenen abgeschlossen, erzählt Pasternak darin anhand weniger Ereignisse und vor allem Personen sozusagen sich selbst und versucht sich dabei über manches klar zu werden. Meist, so auch hier, wird daran der Kurztext, das "Nachwort zum 'Schutzbrief' Postumer Brief an Rainer Maria Rilke" angehängt.

Mit ebendiesem nun schon mehrmals erwähnten Rainer Maria Rilke beginnt auch der Schutzbrief, als "jemand in einem schwarzen Tiroler Umhang", der mit einer hochgewachsenen Frau und Boris' Vater, einem angesehenen Maler, am Kursker Bahnhof zusammensteht und Deutsch redet, eine erinnerte Kindheitsszene, die dem Knaben Boris lange, bevor er sich von Rilkes Versen verzaubern ließ, deutliches Zeichen hätte sein können. Damit angeschlagen wird gleich das Hauptmotiv des Schutzbriefes und ebenso wohl in Pasternaks Leben, Verehrung und Ehrung jener Personen, denen er geistige, ihn zu einem edleren Menschen machende Gaben verdankt. Ausführlich wird im ersten Teil über des jugendlichen Boris' Beziehung zum Freund der Familie, dem Komponisten Alexander Skrjabin, dem er schüchtern und unsicher eigene Kompositionen vorlegen darf, berichtet, im zweiten Teil, der von einer Schweiz- und Italienreise abgesehen durchgängig in Marburg, wo Pasternak vor dem Krieg Filosofie studiert, spielt, ist es der Neukantianer Professor Hermann Cohen, der dem Studenten aus Moskau zwei Spezialitäten seiner Schule, Selbständigkeit des Denkens und Historismus, mit auf den Weg zu geben vermag. Im dritten und letzten Teil, unter anderem einer sehr poetischen Schilderung der Moskauer Künstlerszenen der frühen zwanziger Jahre und ihres Lebensgefühls, gilt die Verehrung des Dichters einem drei Jahre jüngeren Kollegen. Pasternak berichtet von seiner Bekanntschaft und Freundschaft mit Wladimir Majakowski, versucht sich auf seine Art dem Fänomen Majakowsi, dem Auserwählten, der der neuen Zeit ihre eigene Stimme gab, der alle zugleich spielte, keine Rolle annahm, sondern mit dem Leben selbst auftrat, wie es verschiedentlich heißt, zu nähern. Als diese Rolle schließlich endet, ist im Zimmer mit dem aufgebahrten Selbstmörder sein Vers "Und fühle - 'Ich' für mich langt nicht ... " geradezu körperlich zu spüren, und aus dem Fenster blickend empfängt Pasternak die Vision der frappierenden Ähnlichkeit des Verstorbenen mit dem Sowjetstaat ("unser in die Zeitalter brechender und für immer in sie aufgenommener, unerhörter, unmöglicher Staat").   

Die Briefe schließlich, vor allem der nicht postume an Rilke und die beiden an Marina Zwetajewa, komplettieren den Band 2 der Werkausgabe und runden sie thematisch ab, der zweite an Zwetajewa allerdings auf eine schmerzhafte, an eine Marburger Episode von Schwärmerei und Abfuhr erinnernde und so etwas wie eine Schattenseite des Dichters in Form einer seinen Zeitgenossen wohl bisweilen allzugroßen Überschwenglichkeit deutlich machende Art.

(fritz; 05/2016)


Boris Pasternak: "Zweite Geburt"
Werkausgabe Band 2. Gedichte, Erzählungen, Briefe.
Herausgeberin: Christine Fischer.
Fischer Taschenbuch, 2016. 480 Seiten.
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Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 "Doktor Shiwago" abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. A. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau.

Noch ein Buchtipp:

"Meine Schwester - das Leben"

Werkausgabe Band 1. Gedichte, Erzählungen, Briefe.
Herausgeberin: Christine Fischer.
Als 1958 "Doktor Shiwago" mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, fehlte einer: sein Schöpfer. Boris Pasternak wurde von den russischen Behörden die Ausreise verwehrt, sein Autor blieb im Dunkeln. Dabei erzählt Pasternaks Leben das gesamte letzte Jahrhundert: Als Sechzehnjähriger spielte er Skrjabin vor, er studierte in Marburg Philosophie, wechselte Briefe mit Rilke und war mit Zwetajewa, Majakowski und Mandelstam befreundet. Im Gegensatz zu ihnen überlebte er den stalinistischen Terror und rächte sich im "Doktor Shiwago". (Fischer Taschenbuch)
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