Hanns-Josef Ortheil: "Was ich liebe und was nicht"


Der Mensch ist, was er tut.

Das Besondere und Unverwechselbare eines Menschen äußere sich in seinen Gewohnheiten, meint Hanns-Josef Ortheil. Nun läge ein Verweis auf ein "Facebook"-Konto mit Aufzählungen gehörter Musik und gesehener Filme oder mit mehr oder weniger öffentlichkeitsgeeigneten Fotos aus dem eigenen Alltag nahe, zumindest im breiten Trend. Doch wer vom selbsttherapeutischen Heil des Schreibens und der Musik im Leben des bis zum Schulbeginn verstummten, mutistischen Knaben weiß oder die autobiografischen Romane "Die Erfindung des Lebens" (Luchterhand 2009) oder "Der Stift und das Papier" (Luchterhand 2015) des Autors gelesen hat, wird vermuten, dass der jetzt Fünfundsechzigjährige nicht auf die Text- und Bildflut sozialer Medien zugreifen, sondern in ungemein reichhaltigen Zettelkästen und seinem wohlgeordneten Textarchiv fündig wird.

So ist kein Buch entstanden, das in einem Zug zu lesen wäre (wiewohl anders, nicht bildlich gesprochen Ortheil wortreich und stilsicher zu erklären vermag, warum er die Lektüre im Zug überaus liebt), sondern in kleinen, in sich abgeschlossenen Texten aus sechs Jahrzehnten Freude an geschriebener Sprache und an individueller Vielfalt vermittelt.

Wechselnd zwischen essayhafter Prosa, theatralischen Dialogen, pointierter Lyrik und lakonischen Auflistungen, z.B. von Wunschberufen und erhofften Rendezvous-Partnerinnen, führt der zweifingerdicke Band hin zur Bedeutsamkeit von Literatur und Musik, zu den beiden zentralen Beweggründen und Antriebskräften im Leben des Autors und Pianisten. Den Medien, den Künsten im weitesten Sinne und dem Philosophieren ist rund die Hälfte der Kapitel gewidmet. Darüber hinaus geht es häufig ums Reisen, Essen und Trinken - recht unverbindliche Vorlieben, die auch öffentlich ausgeübt werden und subjektive Geschmäcker zeigen, aber keine weltanschauliche Positionierung verlangen.

Das zweifellos persönlichste und aufschlussreichste Kapitel widmet der im aktiven Katholizismus rheinischer Ausprägung großgewordene Kölner dem Glauben und einer weltoffenen Glaubenspraxis, die sich in wöchentlicher und jährlicher Wiederkehr verfestigt und den Alltag durchdringt. Dadurch habe sein eigenes Leben Anteil am großen christlichen Kosmos. Im Buch führt er die Leser über Einsichten in eine hochgradig mit Bedeutung durchtränkte Umgebung hin zu einer weltdurchdringenden spirituellen Kulmination. Mit glaubensstarkem Urteilsvermögen und den undogmatisch-praktischen Methoden des Kulturkritikers Walter Benjamin und des französischen Strukturalisten Roland Barthes will er die Welt ergründen, nicht ihrem Schein erliegen. Unverständlicherweise schlichen sich aber gerade in dieses ungewohnt offene Bekenntnis zur nachhaltigen Sozialisierung in der Gedanken-, Bilder- und Erkenntniswelt der katholischen Kirche ein paar Verwechslungen zwischen Evangelisten, Aposteln und Jüngern ein, auch zwischen den traditionellen Attributen der Evangelisten Matthäus und Markus.

Im lesenswerten Vorwort misst sich der Vielschreiber an Sammlungen skizzenhafter Abhandlungen und Berichte in der klassischen japanischen Literatur und vor allem am französischen Semiotiker und Schriftsteller Roland Barthes und an dessen übermütig heiterem Buch "Über mich selbst" (dt. 1978; frz. Original: "Roland Barthes par Roland Barthes", 1975); dieser wandte die strukturalistische Methode und die radikale Frage nach dem Warum auch auf sich selbst an. Denn ein Mensch wird wie jedes Objekt erst im Vergleich mit anderen und durch das Betrachten seiner Stellung innerhalb von wechselseitigen Beziehungen verstehbar und somit unverwechselbar, also individuell und zum sozial agierenden Subjekt.

In der Anregung, diese Unverwechselbarkeit für sich selbst zu ergründen und schriftlich auszuführen, schwingt eine deutliche Einladung zum Mitmachen und Selberschreiben. Wer dazu Anleitungen wünscht oder benötigt, dem sei vom selben Autor "Schreiben über mich selbst - Spielformen des autobiografischen Schreibens" (2014, aus der Duden-Reihe "Kreatives Schreiben") herzlichst empfohlen.

(Wolfgang Moser; 11/2016)


Hanns-Josef Ortheil: "Was ich liebe und was nicht"
Luchterhand, 2016. 363 Seiten.
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