Wilhelm Muster: "Sieger & Besiegte"

Erzählungen


Wohlsortierte Eindrücke und hintergründige Innensichten: Wo (k)ein Wille ist, ist auch (k)ein Weg.

Neun Erzählungen versammelt der anno 1989 erschienene Band "Sieger & Besiegte", und erwartungsgemäß bestechen alle Texte durch sprachliche Präzision, unaufgeregte Haltung und außergewöhnliche Themen. Der Grazer Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Muster (1916-1994) ist nach wie vor ein unterschätzter Unbekannter. Sein intelligenter, zurückhaltender Stil kommt völlig ohne Getöse aus, die sprachliche Eleganz und nüchterne Klarheit seiner Texte harmoniert perfekt mit den erschaffenen Figuren. Darin, dass sich die Distanz zwischen Erzähltem und Leser während der Lektüre nicht verändert, dass sich Vergangenheit und Gegenwart, Wachen und Träumen stets auf einer gleichwertigen Ebene befinden und vermischen, besteht der besondere Reiz von Wilhelm Musters Werken.

Richard Reichensperger schrieb in "Der Standard" (29./30.01.1994) anlässlich des Ablebens des Autors: "Er wird noch entdeckt werden. Ein Sturz auf einer Treppe war für den 78jährigen Wilhelm Muster einerseits der Sturz aus dem Leben, andererseits wirkte dies aber auch wie aus einer seiner Geschichten genommen ..."
"Als der Universitätslektor für spanische Sprache 1978, nahe dem Pensionsalter, einen Herzinfarkt erlitt, sah er sich vor die Entscheidung gestellt, die Manuskripte, die sich bei ihm zu Hause stapelten, entweder allesamt zu vernichten oder sich doch endlich einmal um ihre Veröffentlichung zu bemühen. So kam es, daß ein seit seiner Jugend literarisch tätiger und in seinem Handwerk längst routinierter Autor 1980 mit immerhin 64 Jahren als vermeintlicher Debütant vor die Öffentlichkeit trat. (...) Der Tod, bald ironisch abgewiesen, bald in fremden Schicksalen vorweggenommen, einmal mit schierem Entsetzen, dann mit abgeklärter Resignation gestaltet, steht am Anfang von Musters literarischem Werk und an dessen Ende; der Tod, dem der Mensch nichts entgegenzusetzen hat als seine Fähigkeit zu träumen. Er lebt, solange er träumt", erläuterte Karl-Markus Gauß in seinem Nachruf (am 5. Februar 1994 in "Die Presse" erschienen).

Etwas irr bzw. wirr sind sie allesamt, Wilhelm Musters Protagonisten, Grübler zudem und Sonderlinge.

Neun Erzählungen mit distanzierten Figuren und jeweils mehreren Ebenen sind es also, die vor den Augen des Lesers Gestalt annehmen und sich alsbald wieder auflösen, im absurden Urgrund des Menschlichen versickernd. Es sind Texte, die für kurze Zeit Bilder präsentieren, dennoch rätselhaft bleiben und ihre Spuren schleunigst verwischen. Nicht selten liegt Unheil in der Luft, und das nahende Ende wirft Schatten auf die sorgsam ausgeführten Szenen. Gerhard Melzer merkte in seiner am 18. Oktober 1989 in der "Neuen Zürcher Zeitung" erschienenen Rezension an: "Muster stellt die Figuren seiner Erzählungen in Situationen, wo Welt und Gegenwelt entweder zum ersten oder zum letzten Mal aufeinanderprallen. Dabei wird deutlich, dass der Tod keine Frage des biologischen Alters ist: das Sterben setzt ein, wenn der Schleier der Wiederholung die Erscheinungen verhüllt und kein Begehren den Stillstand des Lebens aufsprengt."

Der ehemalige Schulwart Pospischil findet in der Erzählung "Der Hampelmann" nach einer brutalen Schülerattacke sowie langwierigem Sanatoriumsaufenthalt dank barmherziger Zeitgenossen eine Anstellung als Portier des Oberlandesgerichts, überwindet zögerlich sein existenzielles Scheitern sowie die in seiner Kellerwohnung zwanghaft in Schachteln archivierten Überbleibsel aus seinem bisherigen Leben und öffnet sich vorsichtig der Möglichkeit, das Glück zu finden; die wohl optimistischste Geschichte dieses Bandes. "Das war es! Waren die Menschen nicht arm? War er selber bis vor kurzem nicht arm gewesen, hatte er nicht über sich geweint, hatte er sich nicht umbringen wollen? Jetzt hatte er einen Fingerzeig, eine Handbewegung, nur durfte sie nicht so tölpisch sein, so abgerissen wie die des Hampelmanns." (S. 19)

In "Partezettel und Mangrovenbäume" sinniert ein verwitweter Klavierspieler während seiner Darbietungen im Nobelhotel über das Dasein, seine sexuelle Orientierung, die Liebe und das Altern, schwelgt in Erinnerungen und erkennt schlagartig, dass ihm die Zeit buchstäblich zwischen den Fingern zerrinnt, doch scheint er dadurch nicht aus dem Takt gebracht zu werden. "Der Spieler kam nicht mehr vorwärts, er wurde nur älter und älter; was er erlebt hatte, war unbedeutend, was er noch erleben würde, ergab keinen Sinn." (S. 31)

Durch das Grazer Messegelände begleitet man zwei achtzehnjährige Mädchen in "C. und C.". Es geht um Freundschaft und die Entdeckung der Sexualität, jugendliches Geplapper, um Kuriositäten, Modetorheiten, Zufallsbekanntschaften und einen heimlichen Verfolger in Gestalt eines triebgesteuerten Theologiestudenten: "Der Jäger dachte: Nackt, meine Sünde, will ich dich sehen. Nackt sehe ich dich." (S. 48) Diese Erzählung mit zwei für Wilhelm Muster untypischen Figuren (jungen Mädchen) endet, wie so viele seiner Texte, im Ungewissen.

"Das Orchestrion" bietet Innenansichten eines zu einem Sterbenden gerufenen Arztes mit Selbstmordgedanken, Einblicke in dessen höchstpersönliche ausweglose Beziehungshölle sowie den perfekten Apparat, das Ein und Alles des Sterbenden. "Dann fuhr er auf die Autobahn, fuhr immer schneller in eine unbekannte Landschaft ohne schmerzende Kanten hinein. Er dachte noch: Der Alte hat alles erreicht, was möglich war, er hat seinen Willen durchgesetzt. Er gab Gas. Für mich der Burgring. Das heißt: unterkriechen, wie ein Hund auf dem Bauch. Ein Unfall? Selbst dazu bin ich zu feig. Sie hat recht." (S. 54)

"Langsam öffnete er die Augen, blinzelte zuerst, drehte dann ebenso langsam den Kopf hin und her. Sein Körper lag auf dem großen Wirtshaustisch, breit und behäbig lag er da, im Steireranzug, und über den Bauch weg konnte er die Schuhe sehen." (S. 57) Der kranke Wirt Alois Maier nimmt in "Schöne Leiche, lebendig" zunächst Geiseln, um unter Androhung von Waffengewalt seine eigene Begräbniszeremonie zu veranstalten und hält auch gleich selbst die Leichenrede, doch das Ende kommt anders als erwartet ...

Die längste Erzählung des Bandes trägt den Titel "Vierzehn Tage. Quince días". Darin kommt ein von der selbstherrlichen und erbgierigen Tochter über Silvester nach Mallorca "verbannter" wohlhabender Erfinder und Patenteinhaber namens Irenäus zögerlich-umständlich der ebenfalls kultivierten musikbegeisterten Agathe mitsamt ihrem Hündchen Lilith näher, erinnert sich in langen inneren Monologen an seine ihm fremd gebliebene längst verstorbene Gattin, an den aufgeweckten Enkel, an seine herzlos-schöne Tochter, an seinen braven Schwiegersohn, auch an berufliche Erfolge, und hat nebenbei aufmerksame Augen und Ohren für die Natur der Insel und deren Bewohner - jedoch auch für düstere Geheimnisse und magische Zeichen. Ein unheimlicher Pockennarbiger erregt gleich nach der Ankunft anhaltend seine Aufmerksamkeit, und auch mit dessen schlimmer Tochter macht Irenäus im weiteren Verlauf schmerzhafte Bekanntschaft. "Ich kenne einen Menschen, der es übernommen hat, die Toten von hier nach Hause transportieren zu lassen, per Flugzeug natürlich. (…) Sein Unternehmen floriert, und auch dies flüsternd, er ist Millionär, kein Mensch merkt etwas vom nicht abreißenden Sterben auf der Insel, ich schätze, er beschäftigt an die fünfzig Menschen, die einer seiner Vertreter dirigiert, bei dem steigenden Geschäftsgang habe ich redlich zu schuften, die Toten sind mindestens zur Hälfte deutscher Nationalität, falls ein Toter überhaupt noch einer Nationalität angehört." (S. 64, 65)
Eine Heiligenbiografie sowie ein steinerner Engel steuern weitere irritierende Unwägbarkeiten bei. Mit seinem Leben hat Irenäus trotz noch gelegentlich aufflackernder Gelüste anscheinend längst abgeschlossen, es ist keine Sehnsucht nach Zukunft mehr vorhanden, für alles ist es zu spät, wie er bitter erkennt, denn der Körper lügt nicht, und auch der Geist ist müde. Irenäus ist dennoch mitunter zu überraschender Grobheit fähig, was das zutrauliche Hündchen der eigenartig alterslos wirkenden Dame zu spüren bekommt. Das behutsame Kennenlernen der beiden älteren Menschen verläuft erstaunlich unterkühlt, keiner gibt sich eine Blöße, keiner öffnet sich tatsächlich für den Anderen, das Tarnen und Täuschen früherer Jahre hat offenkundig unwiderstehlich ermüdende Eigendynamik entwickelt. Das altbekannte (nicht bewährte) Beziehungsmodell entfaltet keine Anziehungskräfte mehr, man weiß, wie alles immer wieder abläuft, die Zentrifugalkräfte aus dem Leben hinaus werden stärker, die Routine genügt nicht länger, und zuguterletzt sind einseitig gesponnene Pläne hinfällig.

In "Feuerland" müht sich ein unkonzentrierter Handpuppenspieler vor kritischen Kindern durch Geschichten, dabei geht ihm mancherlei durch den Kopf. Die unklaren, verstörenden Gefühle gegenüber dem Mädchen Friederike und deren Mutter Sophie durchkreuzen seine Gedanken, auch Erinnerungen an wohlige und bedrohliche Szenen mit beiden. Er vermischt Impressionen einer Weltreise, spürt geheimen Zeichen nach und befasst sich mit menschlicher Lächerlichkeit, Vergänglichkeit, kindlicher Neugier, dem ewigen Warum, Unsicherheiten, Vergeblichkeiten. Die Erwähnung eines Räubers namens Wischenbart in der Geschichte des Puppenspielers mag übrigens als von Wilhelm Muster öffentlich versteckte Anspielung zu deuten sein.
"Bin ich nicht glücklich in ihrer Nähe? (er dachte an Sophie wie an Friederike): Aber ich wünschte, in einer anderen Welt zu leben. In einer Welt, wo Wahrheiten Gefühle waren, nicht bewiesen werden mußten, weil sie nichts mit Wirklichkeiten zu tun hatten, wo man mit den Augen sprach und so auch verstanden wurde, aber in einer Welt, in der die Primeln sproßten und der Regen die Felswände niederrann." (S. 141)

Victor, nach Buenos Aires ausgewanderter Plakatkleber, erörtert in der Erzählung "Sieger und Besiegte" seinen Alltag, seine Enttäuschung angesichts versandeter Träume, seine Sorgen und Ängste bezüglich seiner kranken Frau Rosario. "Die tote Katze lag wieder im Garten. Bevor er ihn betrat, begriff er, daß es in diesem Leben keine Sieger, nur Besiegte gab; er war als junger Mensch ausgerissen, in der Summe veränderte das nichts. Da lief ihm Rosario schon entgegen. Sie war dunkelhäutig, nicht sehr hübsch, doch zierlich: so hob er ihr Gesicht, ihm schien, als seien ihre Augen verschwollen, doch wußte er, daß sie selber reden mußte, er durfte nicht fragen." (S. 166)

Ein Kriegsveteran fantasiert sich in der ethnologisch angehauchten Erzählung "Der Samurai" auf eine Insel, wo er scheinbar nach Jahren völliger Einsamkeit in seinem selbstgebauten Unterstand und im Glauben, es herrsche immer noch Krieg, in Kontakt mit den "Eingeborenen" kommt, an schamanischen Sitzungen und Bärenopfern teilnimmt. Großartige Naturbeschreibungen und detailreiche Schilderungen der Sitten und Gebräuche der übermäßig behaarten "Fremden" nehmen breiten Raum ein. Die Geschichte endet mit überraschenden Ereignissen, beispielsweise der Konfrontation von Eigen- und Fremdwahrnehmung des Protagonisten, und lässt verschiedene Lesarten zu.

Der Sprachvirtuose Wilhelm Muster bereicherte die Welt der Literatur mit mosaikartigen Bewusstseinsströmen und entlarvenden Dialogen, die fleischgewordene Unstimmigkeiten perfekt abbilden, das menschliche Herumstümpern gnadenlos (dabei völlig unaufgeregt) aufdecken und dem unausweichlichen Ende kunstvolle Geschichten mit interessanten Wendungen in den Weg stellen.

Mein besonderer Dank gilt Frau Marita Bührmann von der Pressestelle des Stuttgarter Verlags Klett-Cotta und Herrn Dr. Rainer Götz vom Grazer Literaturverlag Droschl für das freundlicherweise zur Verfügung gestellte umfangreiche Archivmaterial über Wilhelm Muster.

(kre; 08/2016)


Wilhelm Muster: "Sieger & Besiegte. Erzählungen"
Droschl, 1989. 209 Seiten.
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