Manfred Mixner: "Geschichten von Anderen"
Feuilletons über Autoren
Ein
Leben mit und für Literatur, gespiegelt in
Autorenporträts und Lektüreeindrücken
Wie der 1947 in Graz geborene Manfred Mixner zum umtriebigen Leser und
Literaturvermittler wurde, sich quasi mit deutschsprachiger
Lektüre "infizierte", hat er auch bereits in seinem Buch
"Verstrickt in Geschichten" anno 2012 dargestellt. In "Geschichten von
Anderen" spinnt er somit die Fäden weiter, wie er im Vorwort
des gegenständlich besprochenen Titels erläutert, und
erzählt erneut von seinen höchstpersönlichen
Lektüreerfahrungen und von Begegnungen mit - vor allem
österreichischen - zeitgenössischen Schriftstellern.
Einen gänzlich anderen Weg hat übrigens der Autor und
langjährige Verleger Michael Krüger eingeschlagen,
der selbstverständlich ebenfalls hochkarätige
Schmankerln aus der Szene zu bieten hat: Er veröffentlichte
zuletzt einen Roman mit dem Titel "Das Irrenhaus", worin er gekonnt
auch das Absurde am Literaturbetrieb sowie am Schreiberdasein
thematisiert.
Zwar befindet sich Manfred Mixner seit dem Jahr 2002 im Ruhestand, doch
gilt dies nicht für seine Tätigkeit als Buchautor:
Seit einiger Zeit legt er im Jahresrhythmus Publikationen vor und ist
auf Basis einst gewonnener Einsichten bestrebt, der Literaturwelt
prägende Impulse zu geben, wie damals, als er an den
Schalthebeln des Rundfunks tätig war und sich in Graz ein
besonders modernes literarisches Klima entwickelte.
"Geschichten von Anderen" sind es diesmal also, die der seit seiner
Pensionierung einmal naturverbunden in Südschweden, dann
wieder im quirligen Berlin lebende Manfred Mixner unter
aussagekräftigen Überschriften erzählt, und
doch legen diese auch Zeugnis vom Werdegang ihres Verfassers ab, sie
ermöglichen Über-, Ein- und Rückblicke,
erläutern damalige Zusammenhänge, dichterische
Freundschaftsgeflechte und innerbetriebliche Netzwerke, frischen
Erinnerungen auf und gestatten Wiederbegegnungen mit alten Bekannten,
oder rufen völlig in Vergessenheit Geratene ins
Gedächtnis bzw. stellen bislang eventuell gänzlich
Ungekannte vor.
Nach seinem Vorwort, in dem Manfred Mixner wie erwähnt
angemessen kurz und bündig seine Herangehensweise und
Absichten erläutert, wird mit "Befremdung -
Beheimatung. Meine Lesart des Romans Die grüne Seite
- eine Hommage an Alfred Kolleritsch" ein 2013 entstandener Text
geboten, der Rezension und Interpretation gleichermaßen
darstellt.
Im in den Jahren 2015/2016 verfassten Beitrag "Fremdsein und Eigensein.
Gedanken beim Wiederlesen des Romans Das Verschwinden des
Schattens in der Sonne
von
Barbara Frischmuth" schildert Manfred Mixner seine
Lektüreerlebnisse und Überlegungen.
"Das Ende der Träume vor der Nacht. Über Bernhard
Hüttenegger" ist ein mit Zitaten angereichertes
Porträt des 1948 geborenen Autors.
Bei "Lesegier als sublimierter Lebenshunger. Einleitung zur Lesung von
Bettina
Galvagni am 22. Juni 1997 im Literaturhaus Berlin"
handelt es sich um eine auffallend gefühlvolle
Annäherung an das Werk der aus Südtirol stammenden
Schriftstellerin, damals noch gefeiertes Fräuleinwunder der
Literaturszene, heute Ärztin in Paris.
Mit Erinnerungen an den Schriftsteller Bruno Weinhals (1954-2006)
wartet das Kapitel "Schöne Grüße. Aus dem
Briefwechsel mit Bruno Weinhals: Geschichten vom Abenteuer des
Schreibens" auf, sowohl Privates als auch Berufliches
berührend, insbesondere die Entstehungsgeschichte eines
unvollendeten Odysseus-Projekts. Der Nachlass des Autors befindet sich
übrigens seit dem Jahr 2012 in der St. Pöltener
Dokumentationsstelle für Literatur in
Niederösterreich.
Bereits aus dem Jahr 1989 stammt der Beitrag "SCHREIBWUT. Über
Egon A. Prantl", kompakte Kurzbiografie des aus einer
begüterten Tiroler Hoteliersfamilie stammenden Enterbten und
Werkverortung zugleich.
"'das Leben selbst / ist der Sinn'. Für Emil Breisach",
entstanden anno 2011, beinhaltet kurzgefasste Erinnerungen an den im
Jänner 2015 einundneunzigjährig verstorbenen
ehemaligen Landesintendanten im "ORF"-Landesstudio Steiermark,
Begründer des "Forum Stadtpark", Schriftsteller und
Publizisten sowie Stilbetrachtungen.
"Lieber Herr Skwara, ... Einleitung zur Lesung von Erich Wolfgang
Skwara am 25. September 1992 im Literaturhaus Berlin" ist eine launige
Vorstellung von Person und Schaffen, man kennt derlei von
öffentlichen Veranstaltungen, originellerweise in Form eines
nicht abgeschickten Briefes gehalten.
In "Ernst Hammers Wirklichkeitssinn" berichtet Manfred Mixner von
seinem ehemaligen "ORF"-Kollegen und den Entstehungsbedingungen sowie
vorrangigen Eigenschaften der Werke des 1990 in Graz verstorbenen
Autors.
"SCHREIBLUST. Erzählungen von Ernst Wünsch" stellt
Motive, Figuren, Örtlichkeiten und Stilmittel des 1951 in Wien
Geborenen in den Mittelpunkt.
Einige sehr persönliche Erinnerungen an den Nestor der
steirischen Literatur Franz Nabl, garniert mit Zitaten des 1974 im
Alter von 90 Jahren verstorbenen Autors, sind in "Die unerbittlichen
Idyllen" versammelt.
"Wiengerald / Berlinbisinger. Ein Nachruf" bietet Werkzitate,
biografische Splitter und Interpretationsansätze, die in das
Schaffen des 1999 in Wien verstorbenen Gerald Bisinger
einführen.
"Gerhard Rühm - Universalästhet", 1990 entstanden,
liefert auf knapp elf Seiten Zeitgeschichte(n), z.B. über die
avantgardistische "Wiener Gruppe", erläutert damalige
Aufregerthemen und künstlerische Konzepte, bietet
überdies biografische Impressionen und beleuchtet das (wohl
nicht nur in jenen Jahren) offenbar besonders muffige Kulturklima
Österreichs.
Ein weiterer Nachruf trägt die Überschrift "Zum Tod
von Gunter Falk", es handelt sich naturgemäß um eine
Würdigung des am 25. Dezember 1983 im Alter von nur 41
Jahren verstorbenen trinkfesten Soziologen und Dichters,
wobei die anderswo detailfreudig festgehaltenen Exzesse des
jazzbegeisterten Grenzgängers, der u.A. mit Wolfgang Bauer
befreundet war, dem Anlass gemäß ausgespart bleiben.
Gunter Falk ist sogar ein zweiter Text in den "Geschichten von Anderen"
gewidmet: "Eine Rede. Laudatio für Gunter Falk
anlässlich der posthumen Verleihung des Steirischen
Landesliteraturpreises 1984". Das ist Österreich, wie es leibt
und lebt: Besser zu spät als nie!
Unter der Überschrift "Derwisch und Analytiker. Erinnerungen
an Helmut Eisendle" beschreibt Manfred Mixner gemeinsame Erlebnisse und
nostalgische Impressionen.
Ein weiterer Preisträger wird in "' ... eingenistet in einem
anderen inneren Bezirk ...' Laudatio für Hermann Lenz zur
Verleihung des Franz-Nabl-Preises 1981 der Stadt Graz"
präsentiert, unter besonderer Berücksichtigung der
Umstände dieses Schriftstellerdaseins sowie
persönlicher Eindrücke. Hermann Lenz' anno 1973
publizierter Roman "Der Kutscher und der Wappenmaler" wurde
übrigens im Oktober 2016 erneut bei Suhrkamp aufgelegt.
Hermann Lenz (1913-1998) verdankte seine späte Bekanntheit
Peter Handkes medialem Engagement und dessen Begeisterung für
Lenz' Werke, die beiden Schriftsteller unterhielten einen regen
Briefwechsel, der als Buch unter dem Titel "Berichterstatter des Tages"
im Jahr 2006 erschienen ist (Insel Verlag).
Dem 1950 in Graz geborenen Lyriker Joachim Gunter Hammer, dessen
Gedichtbände Titel wie z.B. "Aschenlieb" und "Die
Schattenflöte" tragen, ist der zweiseitige Text
"Verrückung der Sinne. Für Joachim Gunter Hammer"
gewidmet.
Um einen laut Benennung auf der eigenen Netzseite "Medienautor" geht es
in "Klugheit des Empfindens. Über Joy Markert und sein
Malta-Buch". Das thematisierte Buch "Malta. Reisen eines Ahnungslosen
in die Steinzeit" ist jedoch nur noch antiquarisch verfügbar.
In "Erinnerungen im Aufstellhaus. Für Jürg Laederach
zum Siebzigsten" wird der am 20. Dezember 1945 in Basel geborene
Schriftsteller und Übersetzer gewürdigt, auffallend
sind der gehetzte, atemlose Stil (eine Nachahmung Laederachs?) und die
persönlichen Bezüge. Über Laederachs
Erzählband "Harmfuls Hölle" schrieb Martin Zingg in
seiner am 3.3.2012 in der "NZZ" erschienenen Rezension:
"(...) Wo soll man einhaken bei Laederachs Texten, die
buchstäblich Haken schlagen, von einem Satz zum
nächsten, dreizehn Episoden lang? Nicht überfliegen
und nicht nacherzählen, diese Mühe ist umsonst.
Genuss verspricht am ehesten das langsame Lesen, das alle Kurven
ausfährt, sich dem Sprachwitz und dem Duktus
überlässt - und sich dieselben Freiheiten nimmt wie
der Erzähler. (...)"
Manfred Mixner äußert sich in "Ein Gruß an
Milo
Dor" über seine Bekanntschaft mit dem Autor sowie
einige Positionen des 1923 in Budapest Geborenen und 2005 in Wien
Verstorbenen.
Elf Seiten umfassen 1984 entstandene Betrachtungen zum Thema "'Die
Schule der Wahrnehmung'. Über
Peter Handke": "(...) Das kurze Porträt,
das ich für dieses Forum hier formuliert habe, misst die
literarische Bedeutung am philosophisch-poetischen Wert der Werke
Peter
Handkes, nicht an deren Rezeption oder an den gesellschaftlichen
Effekten des öffentlichen Autors. Das klingt vielleicht etwas
esoterisch gekränkt, so, als wäre Publizität
an sich schon verwerflich, hat aber einen anderen Grund: Literatur
begleitet eine bestimmte Zivilisationsform als eine Art Spiegel, als
sehr differenziertes Aufzeichnen der verborgenen, geheimen
Zustände einer Gesellschaft und ihrer kollektiven
Bewusstseinsbewegungen, sie ist Quellenmaterial für die
Erforschung dessen, was mit Zeitgeist gemeint ist, und selbst ein
Erkenntnisinstrument. (...)" Manfred Mixner schildert Handkes
biografische Stationen, seinen Werdegang als Schriftsteller, streift
schlaglichtartig Handkes Werke in chronologischer Reihenfolge,
umreißt deren jeweilige Themen und garniert ein weiteres Mal
mit persönlichen Lektüreerfahrungen wie auch
Empfehlungen.
Es folgt "Eingebildete Figuren. Einleitung zur Lesung von Peter Rosei
am 17. November 1987 im Literaturhaus Berlin" - damals war Roseis "Der
Aufstand" frisch erschienen. Peter Rosei, am 17. Juni 1946 in Wien
geboren, arbeitete seinerzeit zwei Jahre lang als Sekretär des
Malers Ernst Fuchs, war u.A. mit H.C.
Artmann befreundet und ist seit dem Jahr 1972 als vielfach
mit Preisen bedachter freier Schriftsteller tätig, der auf ein
ebenso umfangreiches wie vielfältiges Gesamtwerk
zurückblicken kann. Seltsamerweise ist seine Kurzbiografie
nicht in Manfred Mixners Geschichtenband enthalten. Peter Roseis
Vorlass befindet sich seit dem Jahr 2010 in der Wienbibliothek im
Rathaus.
Als eine Art Beipackzettel, der fürsorglich bis scherzhaft
über Wirkungen und Nebenwirkungen der Werke eines weiteren
steirischen Autors informieren will, können die
"Benützungsvorschriften für das literarische Werk
Reinhard Peter Grubers. Zur Verleihung des Steirischen
Landesliteraturpreises 1982" gelesen werden. Zur Erinnerung: Aus der
Feder des am 20. Jänner 1947 geborenen Journalisten und
Schriftstellers stammt die derbe Heimatsatire "Aus dem Leben
Hödlmosers. Ein steirischer Roman mit Regie", welche Reinhard
Peter Gruber im Jahr 1973 den Durchbruch als Autor bescherte, und
über die der Droschl Verlag schreibt: "(...) ein
Pop-Roman mit Gamsbart, eine Philosophie-Parodie im Steireranzug."
Um die Radiokunstwerke des 1945 in Washington D.C. geborenen
israelischen Komponisten geht es in "Richard Fabers Radiokunst", einem
knapp zweieinhalbseitigen Artikel aus dem Jahr 1996.
In "Rudolf Stibills Kunstsinn" erinnert sich Manfred Mixner an den
Dichter, an einen Ausflug nach Rendsburg, wo sich der in Graz geborene
Rudolf Stibill eine Zeitlang niedergelassen hatte, an dessen Besuch im
Grazer Rundfunkstudio und weitere Begegnungen im familiären
Umfeld, vor allem jedoch an Gespräche und die besondere
Auffassungsgabe des Künstlers.
Ein im Jahr 1975 aufgezeichnetes Gespräch mit
Urs
Widmer wird unter dem Titel "Das Schreiben - die zweitbeste
Lösung" geboten.
Mit dem Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Muster befasste
sich Manfred Mixner in seiner Laudatio zur Verleihung des
"Landesliteraturpreises" anno 1983, die Rede stand unter dem Motto "Ein
heilender Traumreisender".
Als dem Grazer Wilhelm Muster auf
Antrag von Landesrat Kurt Jungwirth am 26. November 1983 der
"Literaturpreis des Landes Steiermark" verliehen wurde, fungierte
Manfred
Mixner als Festredner. Die "Kleine Zeitung" brachte
am 27. November 1983 einen Artikel unter dem verwegenen Titel "Schamane
im Schatten", dem folgende Zeilen entstammen: "Manfred Mixner,
Leiter der Abteilung Literatur im ORF-Studio Steiermark, schilderte in
seiner Laudatio, die ihn als Kenner des Werkes und des Menschen Muster
auswies, den Schriftsteller als Schamanen 'auf der Suche nach dem
Wissen jenseits der Vernunft.' Einer brach vor 30 Jahren
plötzlich auf und ging nach Spanien, um ein Gedicht von Lorca
zu verstehen; der Schamane als Traumreisender, der sich der Vernunft
der Poesie ausliefert und der seine Geheimnisse wahrt, an die man
nicht
rühren darf.
Wilhelm Muster dankte mit einer kurzen Rede voll
ironisch-hintergründiger Anspielungen."
Die Zeitung "Neue Zeit" berichtete in ihrer Ausgabe vom 27. November
1983 ebenfalls über die Preisverleihung, nachstehend ein
Auszug aus dem Artikel:
"20 Jahre nach seinem ersten Roman 'Aller
Nächte
Tag' erschien 1980 sein zweiter Roman 'Der
Tod
kommt ohne Trommel'. Beide Bücher kreisen um das
Thema des Todes in unserem Leben oder, wie Manfred Mixner in seiner
freundschaftlich-literarischen Laudatio auf den Preisträger
sagte: 'Jede Geschichte Wilhelm Musters ist auch eine
Liebesgeschichte', getragen von einem 'Wissen jenseits der Vernunft'.
Zum Dank für die öffentliche Auszeichnung stellte
Wilhelm Muster die nicht nur für Politiker unangenehme Frage
nach der Stellung des Künstlers heute, indem er, was er bisher
nicht getan hat, eine kurze Erzählung las."
Auch die "Süd-Ost Tagespost" brachte in ihrer Ausgabe vom 27.
November 1983 einen Bericht unter dem Titel "Landespreis für
Literatur übergeben. Späte Ehrung", der wie folgt
beginnt: "Lebenseinstellung und Grundtendenz wiesen den nun
67jährigen Literaten Wilhelm Muster als einen der Stillen im
Lande aus, der für die Freiheit des Schriftstellers eintrat.
In einer Feierstunde im Weißen Saal der Burg ehrte das Land
Steiermark mit der Zuerkennung des Literaturpreises 1983 sein
Schaffen.
Landesrat Prof. Kurt Jungwirth überreichte im Namen des
Landeshauptmanns Dr. Josef Krainer diese Auszeichnung."
Kennt man die Grazer Gepflogenheiten auch nur ansatzweise, erstaunt es
keineswegs, dass das 1977 stattgefundene "Gespräch mit
Wolfgang Bauer" breiten Raum in den "Geschichten von Anderen" einnimmt:
Stolze 20 Seiten sind dem im Alter von 27 Jahren mit seinem
Skandalstück "Magic Afternoon" (1968 in Hannover
uraufgeführt) bekannt gewordenen Autor und
Bürgerschreck (1941-2005) gewidmet.
Die österreichische Autorin
Marlene
Streeruwitz, übrigens im Jahr 2015 mit dem
"Franz-Nabl-Preis" ausgezeichnet, schrieb in ihrem am 1. September 2005
unter dem Titel "Revolutionär im Kampf gegen Etiketten. Zum
Tod des Schriftstellers Wolfgang Bauer" in der "Zeit" erschienenen
Nachruf zielsicher: "(...) Wolfgang Bauer blieb in seinem
Verzicht auf die Theaterrealität immer Avantgarde. Das ist ein
Kunstwerk an sich, ein langer Kampf gegen die öffentliche
Etikettierung. Im Nachruf des ORF werden die frühen
Stücke als die künstlerischen Höhepunkte
Wolfgang Bauers bezeichnet. So wird einer zu einem
Frühverbrannten gemacht. Die Kritik benutzte Bauers
angegriffenen Gesundheitszustand, um die Texte der letzten Jahre abtun
zu können. Das sind Probleme einer Kritik, die der Literatur
ihrer Zeit nicht gewachsen ist. (...)"
"Auf dem Weg hinaus. Einleitung zur Lesung von Wolfgang Hermann am 26.
August 1988 im Literaturhaus Berlin" lautet der Titel des
abschließenden Beitrags, einer geografisch-launigen
Kurzvorstellung des 1961 in Bregenz geborenen Schriftstellers und
seines zu jener Zeit gerade erschienenen Romans "Das schöne
Leben".
Zur Abrundung der abwechslungsreichen "Geschichten von Anderen" werden
Nachweise, Kurzbiografien und ein Inhaltsverzeichnis geboten.
Manfred Mixners selbstbewusste Ausführungen über
viele männliche und wenige weibliche Schriftsteller und deren
Werke regen fallweise dazu an, auf Entdeckungsreise durch Antiquariate
zu gehen, denn nicht von allen einstigen Szenegrößen
sind derzeit Neubücher erhältlich.
(kre; 10/2016)
Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Rainer Götz vom Grazer Literaturverlag Droschl für das freundlicherweise zur Verfügung gestellte Archivmaterial über Wilhelm Muster.
Manfred
Mixner: "Geschichten von Anderen. Feuilletons über Autoren"
edition keiper, 2016. 232 Seiten.
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Manfred
Mixner war in den Jahren 1970/71 Kulturredakteur der Grazer "NEUEN
ZEIT", 1972 arbeitete er am "Grazer Schauspielhaus" mit, von 1973 bis
1979 war er freier Journalist, 1979 bis 1983 Abteilungsleiter für
Literatur und Hörspiel im "ORF Graz", 1984 bis 1986
Abteilungsleiter für "Ö1 - Radioliteratur" in Wien, 1987 bis
2002 Leiter der Abteilung Hörspiel und Radiokunst am "Sender
Freies Berlin".
Manfred Mixner übte Lehrtätigkeiten in Salzburg,
Klagenfurt, Berlin und Jena aus.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Verstrickt in Geschichten"
Aufwachsen mit Büchern, zu lesen beginnen noch vor dem Verstehen der
Literatur, unwillkürlich in Verbindung kommen mit Autoren,
hineingeraten in einen Künstlerverein, langsam begreifen, wie Texte
und Geschichten entstehen, welche Funktion Literatur für den Einzelnen
und für ein Gemeinwesen haben kann, und schließlich das
Entfalten eines literarischen Bewusstseins. Die in diesem Band
versammelten Versuche, Reden und Miszellen von Manfred Mixner
dokumentieren die Stationen des literarischen Denkens und Empfindens,
das zur immer tieferen Verstrickung in die weiter und weiter
anwachsende Zahl gehörter und gelesener, erfundener und
erlebter Geschichten führt. (edition keiper)
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"Der Ziegenkopf"
Eine seltsam düstere norddeutsche Familiengeschichte, an deren Anfang
eine Untat steht. Im Oktober 1992 wurden in der Uckermark durch Zufall
die Überreste einer Frauenleiche gefunden. War es ein
grausiger Mord oder ein unseliger Todesfall? Der Berliner Kommissar,
der mit der Aufklärung beauftragt wird, ist ein Sonderling. Er
dokumentiert seine eigenwilligen Nachforschungen nicht nur für die
Behörde, sondern auch für sich privat. Es ist der letzte Fall
vor seiner Pensionierung. (edition keiper)
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"Reise nach Abydos"
Die "Reise nach Abydos" ist ein Roman des Suchens: nach der
Wirklichkeit von Ich und Welt, nach einem alten Sammler von Werken des
Surrealismus, nach einer früheren Geliebten. Ein
einfühlsamer und sinnlicher Text über Liebe und Tod,
in dem die labyrinthischen Wege des Lebens und der Kunst sich
ineinander verweben. (edition keiper)
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"Tote Musik und andere Erzählungen"
Manfred Mixner zu seinem Erzählband: "Die
Erzählungen in diesem Buch sind in der Einsamkeit des
südschwedischen Waldes entstanden. Die Figuren tauchten
unvermutet auf, leisteten mir an langen Winterabenden und Regentagen
Gesellschaft, betrachteten mich als immer anderen
Gesprächspartner. Sie brachten ihre Geschichten und ihre
Landschaften mit, schufen eine festliche Gleichzeitigkeit von hier und
dort, von damals und jetzt, dass es mir, der ich ja trotz aller
Wandlungen als Erzähler immer der Gleiche bleibe, zu viel zu
werden drohte. Ich war jedes Mal froh, wenn sie mich wieder verlassen
hatten. Verheimatet in der Fremde ist es ein Leichtes, Bilder
schwerelos kommen und wieder verschwinden zu lassen. Du trittst heraus
aus deiner Lebensgeschichte, aufgeregt oder still, um zu
erzählen, für keinen Verrat und keine Niedertracht
musst du dich dabei rächen. Die Geschichten sind an ihrem
Horizont miteinander verknüpft. Sie haben ihren Ort, ihre Zeit
- nie und nirgendwo." (edition keiper)
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Weitere
Buchtipps:
Michael Krüger: "Das Irrenhaus"
Dieser Mann ist ein Glückspilz: Von der Tante einer Tante erbt
er in bester Lage Münchens ein großes Mietshaus.
Also hängt er seine Stelle als Archivar an den Nagel, bricht
alle Zelte ab und zieht in eine freie Wohnung seines neuen Hauses ein.
Unter falschem Namen, versteht sich, immerhin will er dem
Müßiggang frönen und sich nicht
unnötig mit seinen Mietern herumschlagen. Da hat er die
Rechnung ohne die illustre Nachbarschaft gemacht: vom unbeugsamen
Derivatehändler und der notorisch einsamen
Studienrätin bis zum Vorgänger in seiner Wohnung, ein
Schriftsteller, der überall Spuren hinterlassen hat und immer
noch sonderbare Post erhält.
Kurzerhand beschließt der Mann, in die Haut des
ominösen Autors zu schlüpfen. Er kopiert dessen
Schrift, trägt dessen Gedichte vor, eignet sich das Verhalten
eines echten Schriftstellers an und erkundet, wie sich dieses neue
Leben anfühlt. Bis eines Tages eine Nichte desselben vor der
Tür steht, und kurz darauf eine Frau, die behauptet, er habe
ihre Werke plagiiert und gestohlen. Was tun? Aus dem Einsamen wird ein
Verfolgter. Als die Schlinge sich immer stärker zuzieht, plant
er seine Flucht.
"Das Irrenhaus" ist ein vergnüglicher Roman, in dem Michael
Krüger wunderbar hintersinnig und hinreißend komisch
einen Käfig voller Narren
mitten in München
porträtiert. Zugleich erzählt er die Geschichte eines
Mannes, der mit dem Glück, das ihm in den Schoß
fällt, partout nichts anfangen kann ... (Haymon Verlag)
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Volker
Weidermann: "Dichter treffen. Begegnungen mit Autoren von Arjouni bis
Zaimoglu"
Dicht dran an den Dichtern: Porträts von
Arjouni
bis Zaimoglu, von Franzen bis
Houellebecq,
von Handke bis Wolf.
Volker Weidermann kennt sehr viele Autoren, trifft aber nur diejenigen,
die ihm wirklich gefallen. Während er in "Lichtjahre" die
Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1945 bis heute
erzählte, stellt er nun die Schriftsteller vor, die ihm am
wichtigsten sind - in intensiven und anschaulichen Porträts.
In seiner Arbeit als Kulturjournalist und Literaturkritiker hat Volker
Weidermann für die "taz", die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
sowie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" geschrieben und ist
seit 2015 Literaturredakteur beim "Spiegel". In über
fünfzehn Jahren porträtierte er mehr als 50
Schriftsteller, einige in Nachrufen, die allermeisten bei Begegnungen
an für sie bedeutsamen Orten. Dabei fand er Vögel am
Tegeler Fließ, Weißbier am Chiemsee, den Erdgeist
von Oregon, die Büsten von Mailand, den
Teppichhändler von Monte Carlo und den Fliehenden von Madrid.
Volker Weidermann spricht mit internationalen Schriftstellern
über das Schreiben und das Leben, ihre Themen und ihre
Herkunft, ihre Hoffnungen und ihre Ängste, die Vergangenheit
und die Gegenwart, das Eigene und das Fremde. Er stellt konkrete Fragen
und bekommt originelle und überraschende Antworten, und der
Leser erhält tiefe Einblicke in das Leben und Werk der
Porträtierten. Ein ganz eigener und aufschlussreicher
Leitfaden durch die Literatur der letzten zwei Jahrzehnte. (Kiepenheuer
& Witsch)
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Elisabeth
Borchers: "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment"
"Wenn das gelingt, was mir Arnold empfohlen hat, müsste der
Titel lauten: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nach nahezu
40 Jahren ein rücksichtsloser Blick auf Verlag, Autoren,
Bücher, Manuskripte ..."
So beginnt ein Manuskript, das Elisabeth Borchers, die große
Lyrikerin und legendäre Lektorin ("Das literarische Gewissen
des Suhrkamp Verlags", pflegte Siegfried Unseld über sie zu
sagen), hinterlassen hat. Zwischen 1999 und 2005 hat sie an einem
autobiografischen Text gearbeitet, den sie nicht beenden konnte. Auch
wenn sie Arnold Stadlers Anregung zunächst folgt und von ihren
Begegnungen mit Dichtern wie
Bohumil
Hrabal, Uwe Johnson,
Martin Walser oder Jurek Becker erzählt (und sich
dabei nicht vor kräftigen Aussagen und harten Urteilen scheut,
nehmen ihre Aufzeichnungen bald eine überraschende Wendung.
Mehr und mehr gleitet sie ins eigene Ich, das Ich einer Frau, die sich
im hohen Alter noch einmal der Wucht und der quälenden Macht
einer großen Liebe aussetzt. Wie sie, eine grande dame par
excellence, dieses Lieben erfährt, ist der
Kristallisationspunkt dieses Fragment gebliebenen Manuskripts - und ein
ergreifendes Dokument. (Weissbooks)
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Leseprobe:
EIN HEILENDER TRAUMREISENDER
Laudatio zur Verleihung des Landesliteraturpreises 1983 an Wilhelm
Muster
Einmal von etwas wissen, das ist nicht mehr
rückgängig zu machen; und wenn man viel
weiß, wäre es ein Zustand des Ausgleichs,
für verlorene Unschuld Würde erworben zu haben;
für die Beweglichkeit kann dann Güte einstehen,
für die Gelenkigkeit das Aufleuchten der Augen, für
die Kapriolen der Lust wären Verstehen und ein guter Rat der
Lohn. Warum fügt sich das so selten, ist so wenig davon
erfahrbar? Das Wodurch hat keine Regel: Stolz, Mut, Neugier, Handeln
aus Überzeugung, die keine Sicherheitsnetze kennt, und ein
sechster Sinn für die vielen Wahrheiten in einem Augenblick
des Bewusstseins.
Mit Letzterem mag vieles beim kleinen Wilhelm Muster, der geboren
wurde, als der alte Kaiser schon im Sterben lag, begonnen haben - eine
Kindheit in der Ebene, an der Grenze, der Vater ein gütiger
Zöllner; nicht das Politische, bestenfalls das Soziale war
für ihn erlebbar. Wie er erzählt, dass er vor Angst
fast umgefallen ist, aber frech der finsteren Holzwand getrotzt hat.
Und einmal hat er ganz ruhig zugeschaut, wie sich der Knoten des Seils,
das sein Leiterwägelchen mit dem Fuhrwerk des Vaters verbunden
hatte, löste, und er ist allein dagestanden, hat die Weiden am
Wegrand betrachtet, mit dem Wind geatmet, die Krähen
beobachtet und dann dem zurückgekehrten Vater verwundert ins
zornige Gesicht gesehen. In der Nacht ist er aufgestanden und in die
andere Wirklichkeit gegangen, manchmal hat er auch tagsüber
plötzlich sein Elternhaus verlassen: "Er ist wieder
unterwegs", hieß es da - in seiner Erinnerung war es immer
nur aus Angst. Und später einmal der nächtliche
Absturz beim Verlassen der Wirklichkeit durch das Fenster, der Beginn
des Schreibens. Ein Herausschreiben, dem erst im Nachhinein die
Gestaltungsarbeit folgt. Es bleibt für Jahrzehnte beim
Nebenbei: in der Schule in Wiener Neustadt, beim Studium, beim Erlernen
der Schauspielkunst, beim Spielen im Bürgertheater, beim
Abiturientenkurs, beim Unterrichten der Kinder in der Dorfschule, im
Krieg, dann beim erneuten Studium an der Grazer Universität,
bei der Arbeit am Institut in der Herdergasse. Der Wunsch, als Dichter,
Schriftsteller an die Öffentlichkeit zu treten, fehlt.
Vielleicht waren die Untersuchungen über Spuren des
Schamanismus in unserem Brauchtum und in unseren Märchen,
vielleicht war das Interesse an den Etruskern, deren sinnlich-heitere
Wirklichkeit untergegangen war und doch weiterwirkt, und vielleicht
waren die Hinwendungen zu so verschiedenen Wissenschaften wie Medizin
und Germanistik ein unbewusster Ausdruck für ein Wissen
jenseits der Vernunft. Die Schwellen dazwischen, zwischen dem Hier und
Jetzt und dem Dort und Damals, gelten als unüberschreitbar; es
gibt Bilder, aber keine Erklärungen dafür und
für den Verlauf der Geschichten Wilhelm Musters. Seine
Entscheidung nach Spanien zu gehen, 1952, plötzlich, um ein
Gedicht von Federico Garcia Lorca zu verstehen. Mich erinnert das an
das Stück Kaspar von Peter Handke: Seinem
Kaspar ist der unordentliche Satz ("Ich möchte ein solcher
werden wie einmal ein anderer gewesen ist") ausgetrieben worden, ihm
wurde ein ordentlicher Gebrauch von Sprache beigebracht, und
plötzlich fragt er "Warum fliegen da lauter so schwarze
Würmer herum?" - ein Zitat aus Ödön von
Horvaths Glaube Liebe Hoffnung, die um alles
betrogene Elisabeth sagt diesen Satz, kurz bevor sie stirbt. Kaspar
versteht und versteht nicht und schweigt daraufhin 20 Phasen des
Stückes lang, dann lehnt er sich auf und geht am Ende weg.
Viele Jahre später ist Wilhelm Muster nach Graz
zurückgekehrt. Kaum jemand wusste damals, dass er jener Ulrich
Hassler war, von dem 1960 der Roman aller nächte tag
erschienen war (jetzt wieder aufgelegt ohne das Pseudonym, das ihm der
Verlag aufgezwungen hatte, und unter dem richtigen Titel Silbermeister),
kaum
jemand erfuhr, dass der Übersetzer und Spanischlehrer
Wilhelm Muster, der für seine Übertragungen aus dem
Spanischen (unter anderem der Werke Quevedos) den bedeutenden
Unamuno-Preis erhalten hatte, auch Schriftsteller war. Fast 30 Jahre
nach dem Verlassen Österreichs nimmt der Schamane seine Rolle
doch an: Der grausame Tod seiner ersten Lebensgefährtin ist
ihm Anlass, den ein Leben lang zusammengetragenen Bildern und
Geschichten aus der Welt jenseits des Zeitflusses eine über
das Private hinausgehende Bedeutung zu schenken. Nacheinander
erscheinen jetzt die Bücher, jedes überraschend.
Die Angst zu versagen ist eine Art Todesangst. Aus dem
Überlebenswillen erwachsen Beschreibungen und
Erzählungen, die zumindest im Scheinhaften dem Glück
etwas über seine Zeit Hinausreichendes geben. Das Hier und
Jetzt, das Dort und Damals sind immer gleichzeitig im Bewusstsein, die
Angst vor der jeweils anderen Wirklichkeit wird gebannt durch die
Reisen in beide Reiche. Das Erlernen der Gleichzeitigkeit. Die
Erfahrung eilt der Wahrnehmung voraus, die Botschaften hängen
als Zettelchen an Ballons, die in die Gewitterwolken aufsteigen, es ist
Krieg. Friedrich Silbermeister rinnt das Wasser über die
Finger, wenn er von innen an die Fensterscheibe greift im heftig
einsetzenden Regenschauer - im Zimmer bleibt es heiß. Er legt
sich ins Bett, steht gleich wieder auf, geht weg, traumwandelnd. In der
slowenischen Stadt trifft er Freunde, gewinnt und verliert im Spiel,
gewinnt Klarheit in seiner Mondlichtwirklichkeit. Die gleichzeitige An-
und Abwesenheit des Schamanen. Die sinnlichen Reise seiner
"Ouvertüre" lassen alles authentisch erscheinen, aber es fehlt
der Handlung, den langsamen Bewegungen wie dem Wirbeltanz der
Erscheinungen, die Eindeutigkeit des nur Wirklichen. Die Vernunft des
Helden Silbermeister ist die Vernunft der Poesie: Die schöne
Irenena spielt mit der Gleichzeitigkeit des Ja und Nein (... was steht
in ihrem Brief? ...), das Mädchen Konstanze kennt die zwei
Seiten der Wahrheit, und wie war das mit Božena - Zärtlichkeit
und Schmerz. Der Gewinn im Zehnerlein-Spiel, ein Vermögen, das
die Freunde verwalten werden, oder Glasperlen für den
Pianisten Silbermeister. Jede der Geschichten von Wilhelm Muster ist
auch eine Liebesgeschichte: Eros
und Thanatos.
Der Tod kommt ohne Trommel - am Romanbeginn steht
eine Begegnung von Freunden, eine Liebesaffäre, eine
geheimnisvolle Mitteilung - der Pfeifendeckel bringt einen kleinen
Zettel mit einem Geheimbefehl. Dann ist die Schwelle
überschritten, der Greifvogel stürzt ins Tal, du
siehst die Moscheen von Sarajewo, der Kaiser lebt noch. Wer ist es, der
die Schwelle überschreitet und im Augenblick des Todes seine
dreimal drei Leben lebt, gleichzeitig, der Kaiser, der Offizier? Das
Gelebte, das Geträumte, das Erzählte: in diesem
Augenblick, wann? - 1916 ist Wilhelm Muster geboren, in Graz. In
Sarajewo hat der Offizier (an einem Oktobertag des Jahres 1916?) nach
dem Zettel mit der Geheimbotschaft gegriffen und ... die Hitze des
neuen Lebens und die Glut in den Augen des heimtückischen
Märchenerzählers, die Familie zu Hause und die neuen
Frauen in
der Wüste ... am Ende das Ineinanderstürzen
der Wahrheiten und Phantasmagorien.
Selbst dort, wo die Körperlichkeit, die Leibhaftigkeit der
Romanhelden Wilhelm Musters augenscheinlich wird, fällt das
Bild in Asche ab, die Berührung löst die Erscheinung
einer neuen, einer immer anderen Wirklichkeit aus. Das Poetische
entsteht aus stiller Trance, im Tanz der Gestalten, die ein
körperloses Ich hervorruft. Doch entgeht auch der Schamane
nicht der Schwerkraft, wie gespensterhaft die Gestalt, die er
unwillkürlich annimmt, auch sein mag. Es gibt Geheimnisse, an
die man nicht rühren soll: das Vorbeistreifen eines
Seidenschals in einer nachtkalten Madrider Straße, die
niedrige Steinmauer auf Ibiza, wo seit Menschengedenken die
grüne Eidechse den Ameisen auflauert, der Marder
im
südsteirischen Auwald, der sich, nachdem er im
Frühnebel einen kleinen Hasen geschlagen hat, das Blut von den
Schnauzenhaaren wischt, die rasche Lippenbewegung des
Mädchens, das aufspringend die Bettdecke abwirft ...
Fragen Sie den Dichter nicht nach Erklärungen für
seine Geschichten: den Zugang muss jeder selbst finden, und
für jeden, der lesen kann, gibt es mindestens einen. Nur
derjenige, der die Wiederholung der Wiederholung sucht, wird oftmals um
die casa senza portas gehen, auf ausgetretenen
Pfaden. Haben Sie als Leser Geduld mit sich, lesen Sie sich ruhig ein
in die Geschichte: Rasch spürt man, dass es keine Regeln gibt,
nach denen man sich in sie verstrickt, dass es auch nicht um
Abrechnungen geht. Man kann bedenkenlos eintreten in das Haus des
Schamanen, jetzt und jetzt, dann und dann. Hinter der
Bücherwand mit den Werken spanischer und
französischer und italienischer und deutscher Dichter findet
man irgendwie hinaus in das Treppenhaus - vom offenen Torbogen dringt
der südländische Straßenlärm
herein. Im Vorhang neben dem tief gepolsterten Lehnstuhl hat sich die
Salzluft Ibizas verfangen, du schaust zum Fenster hinaus, siehst den
alten braunen Kirchturm von Bolsena, gehst den Weg zu den
Höhlen, der letzten Zuflucht der Etrusker. Hinter dem See die
dunkelgrünen Hügel, die Mondsichel gibt den
Erlenreihen im Murbodennebel Silberlicht. Ein anderes Leben herrscht in
diesem Haus, ganz selbstverständlich: Vernunft,
Lebensweisheit, Würde, wie der verwehende Klang eines
Musikstückes der Renaissance.
Der Schamane ist als Erzähler ein heilender Traumreisender: Er
lehrt dich die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Schwarz und
Weiß, von Hier und Dort zu begreifen, er befreit dich vom
Wahrheitsdruck einer zweckrationalen Welt. Mit dem Landesliteraturpreis
der Steiermark wurde 1983 ein großer Schriftsteller
ausgezeichnet.
(1983)