Manfred Mixner: "Geschichten von Anderen"

Feuilletons über Autoren


Ein Leben mit und für Literatur, gespiegelt in Autorenporträts und Lektüreeindrücken

Wie der 1947 in Graz geborene Manfred Mixner zum umtriebigen Leser und Literaturvermittler wurde, sich quasi mit deutschsprachiger Lektüre "infizierte", hat er auch bereits in seinem Buch "Verstrickt in Geschichten" anno 2012 dargestellt. In "Geschichten von Anderen" spinnt er somit die Fäden weiter, wie er im Vorwort des gegenständlich besprochenen Titels erläutert, und erzählt erneut von seinen höchstpersönlichen Lektüreerfahrungen und von Begegnungen mit - vor allem österreichischen - zeitgenössischen Schriftstellern.
Einen gänzlich anderen Weg hat übrigens der Autor und langjährige Verleger Michael Krüger eingeschlagen, der selbstverständlich ebenfalls hochkarätige Schmankerln aus der Szene zu bieten hat: Er veröffentlichte zuletzt einen Roman mit dem Titel "Das Irrenhaus", worin er gekonnt auch das Absurde am Literaturbetrieb sowie am Schreiberdasein thematisiert.

Zwar befindet sich Manfred Mixner seit dem Jahr 2002 im Ruhestand, doch gilt dies nicht für seine Tätigkeit als Buchautor: Seit einiger Zeit legt er im Jahresrhythmus Publikationen vor und ist auf Basis einst gewonnener Einsichten bestrebt, der Literaturwelt prägende Impulse zu geben, wie damals, als er an den Schalthebeln des Rundfunks tätig war und sich in Graz ein besonders modernes literarisches Klima entwickelte.

"Geschichten von Anderen" sind es diesmal also, die der seit seiner Pensionierung einmal naturverbunden in Südschweden, dann wieder im quirligen Berlin lebende Manfred Mixner unter aussagekräftigen Überschriften erzählt, und doch legen diese auch Zeugnis vom Werdegang ihres Verfassers ab, sie ermöglichen Über-, Ein- und Rückblicke, erläutern damalige Zusammenhänge, dichterische Freundschaftsgeflechte und innerbetriebliche Netzwerke, frischen Erinnerungen auf und gestatten Wiederbegegnungen mit alten Bekannten, oder rufen völlig in Vergessenheit Geratene ins Gedächtnis bzw. stellen bislang eventuell gänzlich Ungekannte vor.

Nach seinem Vorwort, in dem Manfred Mixner wie erwähnt angemessen kurz und bündig seine Herangehensweise und Absichten erläutert, wird mit "Befremdung - Beheimatung. Meine Lesart des Romans Die grüne Seite - eine Hommage an Alfred Kolleritsch" ein 2013 entstandener Text geboten, der Rezension und Interpretation gleichermaßen darstellt.
Im in den Jahren 2015/2016 verfassten Beitrag "Fremdsein und Eigensein. Gedanken beim Wiederlesen des Romans Das Verschwinden des Schattens in der Sonne von Barbara Frischmuth" schildert Manfred Mixner seine Lektüreerlebnisse und Überlegungen.
"Das Ende der Träume vor der Nacht. Über Bernhard Hüttenegger" ist ein mit Zitaten angereichertes Porträt des 1948 geborenen Autors.
Bei "Lesegier als sublimierter Lebenshunger. Einleitung zur Lesung von Bettina Galvagni am 22. Juni 1997 im Literaturhaus Berlin" handelt es sich um eine auffallend gefühlvolle Annäherung an das Werk der aus Südtirol stammenden Schriftstellerin, damals noch gefeiertes Fräuleinwunder der Literaturszene, heute Ärztin in Paris.
Mit Erinnerungen an den Schriftsteller Bruno Weinhals (1954-2006) wartet das Kapitel "Schöne Grüße. Aus dem Briefwechsel mit Bruno Weinhals: Geschichten vom Abenteuer des Schreibens" auf, sowohl Privates als auch Berufliches berührend, insbesondere die Entstehungsgeschichte eines unvollendeten Odysseus-Projekts. Der Nachlass des Autors befindet sich übrigens seit dem Jahr 2012 in der St. Pöltener Dokumentationsstelle für Literatur in Niederösterreich.
Bereits aus dem Jahr 1989 stammt der Beitrag "SCHREIBWUT. Über Egon A. Prantl", kompakte Kurzbiografie des aus einer begüterten Tiroler Hoteliersfamilie stammenden Enterbten und Werkverortung zugleich.
"'das Leben selbst / ist der Sinn'. Für Emil Breisach", entstanden anno 2011, beinhaltet kurzgefasste Erinnerungen an den im Jänner 2015 einundneunzigjährig verstorbenen ehemaligen Landesintendanten im "ORF"-Landesstudio Steiermark, Begründer des "Forum Stadtpark", Schriftsteller und Publizisten sowie Stilbetrachtungen.
"Lieber Herr Skwara, ... Einleitung zur Lesung von Erich Wolfgang Skwara am 25. September 1992 im Literaturhaus Berlin" ist eine launige Vorstellung von Person und Schaffen, man kennt derlei von öffentlichen Veranstaltungen, originellerweise in Form eines nicht abgeschickten Briefes gehalten.
In "Ernst Hammers Wirklichkeitssinn" berichtet Manfred Mixner von seinem ehemaligen "ORF"-Kollegen und den Entstehungsbedingungen sowie vorrangigen Eigenschaften der Werke des 1990 in Graz verstorbenen Autors.
"SCHREIBLUST. Erzählungen von Ernst Wünsch" stellt Motive, Figuren, Örtlichkeiten und Stilmittel des 1951 in Wien Geborenen in den Mittelpunkt.
Einige sehr persönliche Erinnerungen an den Nestor der steirischen Literatur Franz Nabl, garniert mit Zitaten des 1974 im Alter von 90 Jahren verstorbenen Autors, sind in "Die unerbittlichen Idyllen" versammelt.
"Wiengerald / Berlinbisinger. Ein Nachruf" bietet Werkzitate, biografische Splitter und Interpretationsansätze, die in das Schaffen des 1999 in Wien verstorbenen Gerald Bisinger einführen.
"Gerhard Rühm - Universalästhet", 1990 entstanden, liefert auf knapp elf Seiten Zeitgeschichte(n), z.B. über die avantgardistische "Wiener Gruppe", erläutert damalige Aufregerthemen und künstlerische Konzepte, bietet überdies biografische Impressionen und beleuchtet das (wohl nicht nur in jenen Jahren) offenbar besonders muffige Kulturklima Österreichs.
Ein weiterer Nachruf trägt die Überschrift "Zum Tod von Gunter Falk", es handelt sich naturgemäß um eine Würdigung des am 25. Dezember 1983 im Alter von nur 41 Jahren  verstorbenen trinkfesten Soziologen und Dichters, wobei die anderswo detailfreudig festgehaltenen Exzesse des jazzbegeisterten Grenzgängers, der u.A. mit Wolfgang Bauer befreundet war, dem Anlass gemäß ausgespart bleiben. Gunter Falk ist sogar ein zweiter Text in den "Geschichten von Anderen" gewidmet: "Eine Rede. Laudatio für Gunter Falk anlässlich der posthumen Verleihung des Steirischen Landesliteraturpreises 1984". Das ist Österreich, wie es leibt und lebt: Besser zu spät als nie!
Unter der Überschrift "Derwisch und Analytiker. Erinnerungen an Helmut Eisendle" beschreibt Manfred Mixner gemeinsame Erlebnisse und nostalgische Impressionen.
Ein weiterer Preisträger wird in "' ... eingenistet in einem anderen inneren Bezirk ...' Laudatio für Hermann Lenz zur Verleihung des Franz-Nabl-Preises 1981 der Stadt Graz" präsentiert, unter besonderer Berücksichtigung der Umstände dieses Schriftstellerdaseins sowie persönlicher Eindrücke. Hermann Lenz' anno 1973 publizierter Roman "Der Kutscher und der Wappenmaler" wurde übrigens im Oktober 2016 erneut bei Suhrkamp aufgelegt. Hermann Lenz (1913-1998) verdankte seine späte Bekanntheit Peter Handkes medialem Engagement und dessen Begeisterung für Lenz' Werke, die beiden Schriftsteller unterhielten einen regen Briefwechsel, der als Buch unter dem Titel "Berichterstatter des Tages" im Jahr 2006 erschienen ist (Insel Verlag).
Dem 1950 in Graz geborenen Lyriker Joachim Gunter Hammer, dessen Gedichtbände Titel wie z.B. "Aschenlieb" und "Die Schattenflöte" tragen, ist der zweiseitige Text "Verrückung der Sinne. Für Joachim Gunter Hammer" gewidmet.
Um einen laut Benennung auf der eigenen Netzseite "Medienautor" geht es in "Klugheit des Empfindens. Über Joy Markert und sein Malta-Buch". Das thematisierte Buch "Malta. Reisen eines Ahnungslosen in die Steinzeit" ist jedoch nur noch antiquarisch verfügbar.
In "Erinnerungen im Aufstellhaus. Für Jürg Laederach zum Siebzigsten" wird der am 20. Dezember 1945 in Basel geborene Schriftsteller und Übersetzer gewürdigt, auffallend sind der gehetzte, atemlose Stil (eine Nachahmung Laederachs?) und die persönlichen Bezüge. Über Laederachs Erzählband "Harmfuls Hölle" schrieb Martin Zingg in seiner am 3.3.2012 in der "NZZ" erschienenen Rezension: "(...) Wo soll man einhaken bei Laederachs Texten, die buchstäblich Haken schlagen, von einem Satz zum nächsten, dreizehn Episoden lang? Nicht überfliegen und nicht nacherzählen, diese Mühe ist umsonst. Genuss verspricht am ehesten das langsame Lesen, das alle Kurven ausfährt, sich dem Sprachwitz und dem Duktus überlässt - und sich dieselben Freiheiten nimmt wie der Erzähler. (...)"
Manfred Mixner äußert sich in "Ein Gruß an Milo Dor" über seine Bekanntschaft mit dem Autor sowie einige Positionen des 1923 in Budapest Geborenen und 2005 in Wien Verstorbenen.
Elf Seiten umfassen 1984 entstandene Betrachtungen zum Thema "'Die Schule der Wahrnehmung'. Über Peter Handke": "(...) Das kurze Porträt, das ich für dieses Forum hier formuliert habe, misst die literarische Bedeutung am philosophisch-poetischen Wert der Werke Peter Handkes, nicht an deren Rezeption oder an den gesellschaftlichen Effekten des öffentlichen Autors. Das klingt vielleicht etwas esoterisch gekränkt, so, als wäre Publizität an sich schon verwerflich, hat aber einen anderen Grund: Literatur begleitet eine bestimmte Zivilisationsform als eine Art Spiegel, als sehr differenziertes Aufzeichnen der verborgenen, geheimen Zustände einer Gesellschaft und ihrer kollektiven Bewusstseinsbewegungen, sie ist Quellenmaterial für die Erforschung dessen, was mit Zeitgeist gemeint ist, und selbst ein Erkenntnisinstrument. (...)" Manfred Mixner schildert Handkes biografische Stationen, seinen Werdegang als Schriftsteller, streift schlaglichtartig Handkes Werke in chronologischer Reihenfolge, umreißt deren jeweilige Themen und garniert ein weiteres Mal mit persönlichen Lektüreerfahrungen wie auch Empfehlungen.
Es folgt "Eingebildete Figuren. Einleitung zur Lesung von Peter Rosei am 17. November 1987 im Literaturhaus Berlin" - damals war Roseis "Der Aufstand" frisch erschienen. Peter Rosei, am 17. Juni 1946 in Wien geboren, arbeitete seinerzeit zwei Jahre lang als Sekretär des Malers Ernst Fuchs, war u.A. mit H.C. Artmann befreundet und ist seit dem Jahr 1972 als vielfach mit Preisen bedachter freier Schriftsteller tätig, der auf ein ebenso umfangreiches wie vielfältiges Gesamtwerk zurückblicken kann. Seltsamerweise ist seine Kurzbiografie nicht in Manfred Mixners Geschichtenband enthalten. Peter Roseis Vorlass befindet sich seit dem Jahr 2010 in der Wienbibliothek im Rathaus.
Als eine Art Beipackzettel, der fürsorglich bis scherzhaft über Wirkungen und Nebenwirkungen der Werke eines weiteren steirischen Autors informieren will, können die "Benützungsvorschriften für das literarische Werk Reinhard Peter Grubers. Zur Verleihung des Steirischen Landesliteraturpreises 1982" gelesen werden. Zur Erinnerung: Aus der Feder des am 20. Jänner 1947 geborenen Journalisten und Schriftstellers stammt die derbe Heimatsatire "Aus dem Leben Hödlmosers. Ein steirischer Roman mit Regie", welche Reinhard Peter Gruber im Jahr 1973 den Durchbruch als Autor bescherte, und über die der Droschl Verlag schreibt: "(...) ein Pop-Roman mit Gamsbart, eine Philosophie-Parodie im Steireranzug."
Um die Radiokunstwerke des 1945 in Washington D.C. geborenen israelischen Komponisten geht es in "Richard Fabers Radiokunst", einem knapp zweieinhalbseitigen Artikel aus dem Jahr 1996.
In "Rudolf Stibills Kunstsinn" erinnert sich Manfred Mixner an den Dichter, an einen Ausflug nach Rendsburg, wo sich der in Graz geborene Rudolf Stibill eine Zeitlang niedergelassen hatte, an dessen Besuch im Grazer Rundfunkstudio und weitere Begegnungen im familiären Umfeld, vor allem jedoch an Gespräche und die besondere Auffassungsgabe des Künstlers.
Ein im Jahr 1975 aufgezeichnetes Gespräch mit Urs Widmer wird unter dem Titel "Das Schreiben - die zweitbeste Lösung" geboten.

Mit dem Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Muster befasste sich Manfred Mixner in seiner Laudatio zur Verleihung des "Landesliteraturpreises" anno 1983, die Rede stand unter dem Motto "Ein heilender Traumreisender".
Als dem Grazer Wilhelm Muster auf Antrag von Landesrat Kurt Jungwirth am 26. November 1983 der "Literaturpreis des Landes Steiermark" verliehen wurde, fungierte Manfred Mixner als Festredner. Die "Kleine Zeitung" brachte am 27. November 1983 einen Artikel unter dem verwegenen Titel "Schamane im Schatten", dem folgende Zeilen entstammen: "Manfred Mixner, Leiter der Abteilung Literatur im ORF-Studio Steiermark, schilderte in seiner Laudatio, die ihn als Kenner des Werkes und des Menschen Muster auswies, den Schriftsteller als Schamanen 'auf der Suche nach dem Wissen jenseits der Vernunft.' Einer brach vor 30 Jahren plötzlich auf und ging nach Spanien, um ein Gedicht von Lorca zu verstehen; der Schamane als Traumreisender, der sich der Vernunft der Poesie ausliefert und der seine Geheimnisse wahrt, an die man nicht rühren darf.
Wilhelm Muster dankte mit einer kurzen Rede voll ironisch-hintergründiger Anspielungen."

Die Zeitung "Neue Zeit" berichtete in ihrer Ausgabe vom 27. November 1983 ebenfalls über die Preisverleihung, nachstehend ein Auszug aus dem Artikel: "20 Jahre nach seinem ersten Roman 'Aller Nächte Tag' erschien 1980 sein zweiter Roman 'Der Tod kommt ohne Trommel'. Beide Bücher kreisen um das Thema des Todes in unserem Leben oder, wie Manfred Mixner in seiner freundschaftlich-literarischen Laudatio auf den Preisträger sagte: 'Jede Geschichte Wilhelm Musters ist auch eine Liebesgeschichte', getragen von einem 'Wissen jenseits der Vernunft'.
Zum Dank für die öffentliche Auszeichnung stellte Wilhelm Muster die nicht nur für Politiker unangenehme Frage nach der Stellung des Künstlers heute, indem er, was er bisher nicht getan hat, eine kurze Erzählung las."

Auch die "Süd-Ost Tagespost" brachte in ihrer Ausgabe vom 27. November 1983 einen Bericht unter dem Titel "Landespreis für Literatur übergeben. Späte Ehrung", der wie folgt beginnt: "Lebenseinstellung und Grundtendenz wiesen den nun 67jährigen Literaten Wilhelm Muster als einen der Stillen im Lande aus, der für die Freiheit des Schriftstellers eintrat. In einer Feierstunde im Weißen Saal der Burg ehrte das Land Steiermark mit der Zuerkennung des Literaturpreises 1983 sein Schaffen. Landesrat Prof. Kurt Jungwirth überreichte im Namen des Landeshauptmanns Dr. Josef Krainer diese Auszeichnung."

Kennt man die Grazer Gepflogenheiten auch nur ansatzweise, erstaunt es keineswegs, dass das 1977 stattgefundene "Gespräch mit Wolfgang Bauer" breiten Raum in den "Geschichten von Anderen" einnimmt: Stolze 20 Seiten sind dem im Alter von 27 Jahren mit seinem Skandalstück "Magic Afternoon" (1968 in Hannover uraufgeführt) bekannt gewordenen Autor und Bürgerschreck (1941-2005) gewidmet.
Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz, übrigens im Jahr 2015 mit dem "Franz-Nabl-Preis" ausgezeichnet, schrieb in ihrem am 1. September 2005 unter dem Titel "Revolutionär im Kampf gegen Etiketten. Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Bauer" in der "Zeit" erschienenen Nachruf zielsicher: "(...) Wolfgang Bauer blieb in seinem Verzicht auf die Theaterrealität immer Avantgarde. Das ist ein Kunstwerk an sich, ein langer Kampf gegen die öffentliche Etikettierung. Im Nachruf des ORF werden die frühen Stücke als die künstlerischen Höhepunkte Wolfgang Bauers bezeichnet. So wird einer zu einem Frühverbrannten gemacht. Die Kritik benutzte Bauers angegriffenen Gesundheitszustand, um die Texte der letzten Jahre abtun zu können. Das sind Probleme einer Kritik, die der Literatur ihrer Zeit nicht gewachsen ist. (...)"
"Auf dem Weg hinaus. Einleitung zur Lesung von Wolfgang Hermann am 26. August 1988 im Literaturhaus Berlin" lautet der Titel des abschließenden Beitrags, einer geografisch-launigen Kurzvorstellung des 1961 in Bregenz geborenen Schriftstellers und seines zu jener Zeit gerade erschienenen Romans "Das schöne Leben".

Zur Abrundung der abwechslungsreichen "Geschichten von Anderen" werden Nachweise, Kurzbiografien und ein Inhaltsverzeichnis geboten. Manfred Mixners selbstbewusste Ausführungen über viele männliche und wenige weibliche Schriftsteller und deren Werke regen fallweise dazu an, auf Entdeckungsreise durch Antiquariate zu gehen, denn nicht von allen einstigen Szenegrößen sind derzeit Neubücher erhältlich.

(kre; 10/2016)

Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Rainer Götz vom Grazer Literaturverlag Droschl für das freundlicherweise zur Verfügung gestellte Archivmaterial über Wilhelm Muster.


Manfred Mixner: "Geschichten von Anderen. Feuilletons über Autoren"
edition keiper, 2016. 232 Seiten.
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Manfred Mixner war in den Jahren 1970/71 Kulturredakteur der Grazer "NEUEN ZEIT", 1972 arbeitete er am "Grazer Schauspielhaus" mit, von 1973 bis 1979 war er freier Journalist, 1979 bis 1983 Abteilungsleiter für Literatur und Hörspiel im "ORF Graz", 1984 bis 1986 Abteilungsleiter für "Ö1 - Radioliteratur" in Wien, 1987 bis 2002 Leiter der Abteilung Hörspiel und Radiokunst am "Sender Freies Berlin".
Manfred Mixner übte Lehrtätigkeiten in Salzburg, Klagenfurt, Berlin und Jena aus.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Verstrickt in Geschichten"

Aufwachsen mit Büchern, zu lesen beginnen noch vor dem Verstehen der Literatur, unwillkürlich in Verbindung kommen mit Autoren, hineingeraten in einen Künstlerverein, langsam begreifen, wie Texte und Geschichten entstehen, welche Funktion Literatur für den Einzelnen und für ein Gemeinwesen haben kann, und schließlich das Entfalten eines literarischen Bewusstseins. Die in diesem Band versammelten Versuche, Reden und Miszellen von Manfred Mixner dokumentieren die Stationen des literarischen Denkens und Empfindens, das zur immer tieferen Verstrickung in die weiter und weiter anwachsende Zahl gehörter und gelesener, erfundener und erlebter Geschichten führt. (edition keiper)
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"Der Ziegenkopf"
Eine seltsam düstere norddeutsche Familiengeschichte, an deren Anfang eine Untat steht. Im Oktober 1992 wurden in der Uckermark durch Zufall die Überreste einer Frauenleiche gefunden. War es ein grausiger Mord oder ein unseliger Todesfall? Der Berliner Kommissar, der mit der Aufklärung beauftragt wird, ist ein Sonderling. Er dokumentiert seine eigenwilligen Nachforschungen nicht nur für die Behörde, sondern auch für sich privat. Es ist der letzte Fall vor seiner Pensionierung. (edition keiper)
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"Reise nach Abydos"
Die "Reise nach Abydos" ist ein Roman des Suchens: nach der Wirklichkeit von Ich und Welt, nach einem alten Sammler von Werken des Surrealismus, nach einer früheren Geliebten. Ein einfühlsamer und sinnlicher Text über Liebe und Tod, in dem die labyrinthischen Wege des Lebens und der Kunst sich ineinander verweben. (edition keiper)
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"Tote Musik und andere Erzählungen"
Manfred Mixner zu seinem Erzählband: "Die Erzählungen in diesem Buch sind in der Einsamkeit des südschwedischen Waldes entstanden. Die Figuren tauchten unvermutet auf, leisteten mir an langen Winterabenden und Regentagen Gesellschaft, betrachteten mich als immer anderen Gesprächspartner. Sie brachten ihre Geschichten und ihre Landschaften mit, schufen eine festliche Gleichzeitigkeit von hier und dort, von damals und jetzt, dass es mir, der ich ja trotz aller Wandlungen als Erzähler immer der Gleiche bleibe, zu viel zu werden drohte. Ich war jedes Mal froh, wenn sie mich wieder verlassen hatten. Verheimatet in der Fremde ist es ein Leichtes, Bilder schwerelos kommen und wieder verschwinden zu lassen. Du trittst heraus aus deiner Lebensgeschichte, aufgeregt oder still, um zu erzählen, für keinen Verrat und keine Niedertracht musst du dich dabei rächen. Die Geschichten sind an ihrem Horizont miteinander verknüpft. Sie haben ihren Ort, ihre Zeit - nie und nirgendwo." (edition keiper)
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Weitere Buchtipps:

Michael Krüger: "Das Irrenhaus"

Dieser Mann ist ein Glückspilz: Von der Tante einer Tante erbt er in bester Lage Münchens ein großes Mietshaus. Also hängt er seine Stelle als Archivar an den Nagel, bricht alle Zelte ab und zieht in eine freie Wohnung seines neuen Hauses ein. Unter falschem Namen, versteht sich, immerhin will er dem Müßiggang frönen und sich nicht unnötig mit seinen Mietern herumschlagen. Da hat er die Rechnung ohne die illustre Nachbarschaft gemacht: vom unbeugsamen Derivatehändler und der notorisch einsamen Studienrätin bis zum Vorgänger in seiner Wohnung, ein Schriftsteller, der überall Spuren hinterlassen hat und immer noch sonderbare Post erhält.
Kurzerhand beschließt der Mann, in die Haut des ominösen Autors zu schlüpfen. Er kopiert dessen Schrift, trägt dessen Gedichte vor, eignet sich das Verhalten eines echten Schriftstellers an und erkundet, wie sich dieses neue Leben anfühlt. Bis eines Tages eine Nichte desselben vor der Tür steht, und kurz darauf eine Frau, die behauptet, er habe ihre Werke plagiiert und gestohlen. Was tun? Aus dem Einsamen wird ein Verfolgter. Als die Schlinge sich immer stärker zuzieht, plant er seine Flucht.
"Das Irrenhaus" ist ein vergnüglicher Roman, in dem Michael Krüger wunderbar hintersinnig und hinreißend komisch einen Käfig voller Narren mitten in München porträtiert. Zugleich erzählt er die Geschichte eines Mannes, der mit dem Glück, das ihm in den Schoß fällt, partout nichts anfangen kann ... (Haymon Verlag)
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Volker Weidermann: "Dichter treffen. Begegnungen mit Autoren von Arjouni bis Zaimoglu"
Dicht dran an den Dichtern: Porträts von Arjouni bis Zaimoglu, von Franzen bis Houellebecq, von Handke bis Wolf.
Volker Weidermann kennt sehr viele Autoren, trifft aber nur diejenigen, die ihm wirklich gefallen. Während er in "Lichtjahre" die Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1945 bis heute erzählte, stellt er nun die Schriftsteller vor, die ihm am wichtigsten sind - in intensiven und anschaulichen Porträts.
In seiner Arbeit als Kulturjournalist und Literaturkritiker hat Volker Weidermann für die "taz", die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" sowie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" geschrieben und ist seit 2015 Literaturredakteur beim "Spiegel". In über fünfzehn Jahren porträtierte er mehr als 50 Schriftsteller, einige in Nachrufen, die allermeisten bei Begegnungen an für sie bedeutsamen Orten. Dabei fand er Vögel am Tegeler Fließ, Weißbier am Chiemsee, den Erdgeist von Oregon, die Büsten von Mailand, den Teppichhändler von Monte Carlo und den Fliehenden von Madrid.
Volker Weidermann spricht mit internationalen Schriftstellern über das Schreiben und das Leben, ihre Themen und ihre Herkunft, ihre Hoffnungen und ihre Ängste, die Vergangenheit und die Gegenwart, das Eigene und das Fremde. Er stellt konkrete Fragen und bekommt originelle und überraschende Antworten, und der Leser erhält tiefe Einblicke in das Leben und Werk der Porträtierten. Ein ganz eigener und aufschlussreicher Leitfaden durch die Literatur der letzten zwei Jahrzehnte. (Kiepenheuer & Witsch)
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Elisabeth Borchers: "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment"
"Wenn das gelingt, was mir Arnold empfohlen hat, müsste der Titel lauten: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nach nahezu 40 Jahren ein rücksichtsloser Blick auf Verlag, Autoren, Bücher, Manuskripte ..."
So beginnt ein Manuskript, das Elisabeth Borchers, die große Lyrikerin und legendäre Lektorin ("Das literarische Gewissen des Suhrkamp Verlags", pflegte Siegfried Unseld über sie zu sagen), hinterlassen hat. Zwischen 1999 und 2005 hat sie an einem autobiografischen Text gearbeitet, den sie nicht beenden konnte. Auch wenn sie Arnold Stadlers Anregung zunächst folgt und von ihren Begegnungen mit Dichtern wie Bohumil Hrabal, Uwe Johnson, Martin Walser oder Jurek Becker erzählt (und sich dabei nicht vor kräftigen Aussagen und harten Urteilen scheut, nehmen ihre Aufzeichnungen bald eine überraschende Wendung. Mehr und mehr gleitet sie ins eigene Ich, das Ich einer Frau, die sich im hohen Alter noch einmal der Wucht und der quälenden Macht einer großen Liebe aussetzt. Wie sie, eine grande dame par excellence, dieses Lieben erfährt, ist der Kristallisationspunkt dieses Fragment gebliebenen Manuskripts - und ein ergreifendes Dokument. (Weissbooks)
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Leseprobe:

EIN HEILENDER TRAUMREISENDER

Laudatio zur Verleihung des Landesliteraturpreises 1983 an Wilhelm Muster


Einmal von etwas wissen, das ist nicht mehr rückgängig zu machen; und wenn man viel weiß, wäre es ein Zustand des Ausgleichs, für verlorene Unschuld Würde erworben zu haben; für die Beweglichkeit kann dann Güte einstehen, für die Gelenkigkeit das Aufleuchten der Augen, für die Kapriolen der Lust wären Verstehen und ein guter Rat der Lohn. Warum fügt sich das so selten, ist so wenig davon erfahrbar? Das Wodurch hat keine Regel: Stolz, Mut, Neugier, Handeln aus Überzeugung, die keine Sicherheitsnetze kennt, und ein sechster Sinn für die vielen Wahrheiten in einem Augenblick des Bewusstseins.

Mit Letzterem mag vieles beim kleinen Wilhelm Muster, der geboren wurde, als der alte Kaiser schon im Sterben lag, begonnen haben - eine Kindheit in der Ebene, an der Grenze, der Vater ein gütiger Zöllner; nicht das Politische, bestenfalls das Soziale war für ihn erlebbar. Wie er erzählt, dass er vor Angst fast umgefallen ist, aber frech der finsteren Holzwand getrotzt hat. Und einmal hat er ganz ruhig zugeschaut, wie sich der Knoten des Seils, das sein Leiterwägelchen mit dem Fuhrwerk des Vaters verbunden hatte, löste, und er ist allein dagestanden, hat die Weiden am Wegrand betrachtet, mit dem Wind geatmet, die Krähen beobachtet und dann dem zurückgekehrten Vater verwundert ins zornige Gesicht gesehen. In der Nacht ist er aufgestanden und in die andere Wirklichkeit gegangen, manchmal hat er auch tagsüber plötzlich sein Elternhaus verlassen: "Er ist wieder unterwegs", hieß es da - in seiner Erinnerung war es immer nur aus Angst. Und später einmal der nächtliche Absturz beim Verlassen der Wirklichkeit durch das Fenster, der Beginn des Schreibens. Ein Herausschreiben, dem erst im Nachhinein die Gestaltungsarbeit folgt. Es bleibt für Jahrzehnte beim Nebenbei: in der Schule in Wiener Neustadt, beim Studium, beim Erlernen der Schauspielkunst, beim Spielen im Bürgertheater, beim Abiturientenkurs, beim Unterrichten der Kinder in der Dorfschule, im Krieg, dann beim erneuten Studium an der Grazer Universität, bei der Arbeit am Institut in der Herdergasse. Der Wunsch, als Dichter, Schriftsteller an die Öffentlichkeit zu treten, fehlt. Vielleicht waren die Untersuchungen über Spuren des Schamanismus in unserem Brauchtum und in unseren Märchen, vielleicht war das Interesse an den Etruskern, deren sinnlich-heitere Wirklichkeit untergegangen war und doch weiterwirkt, und vielleicht waren die Hinwendungen zu so verschiedenen Wissenschaften wie Medizin und Germanistik ein unbewusster Ausdruck für ein Wissen jenseits der Vernunft. Die Schwellen dazwischen, zwischen dem Hier und Jetzt und dem Dort und Damals, gelten als unüberschreitbar; es gibt Bilder, aber keine Erklärungen dafür und für den Verlauf der Geschichten Wilhelm Musters. Seine Entscheidung nach Spanien zu gehen, 1952, plötzlich, um ein Gedicht von Federico Garcia Lorca zu verstehen. Mich erinnert das an das Stück Kaspar von Peter Handke: Seinem Kaspar ist der unordentliche Satz ("Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein anderer gewesen ist") ausgetrieben worden, ihm wurde ein ordentlicher Gebrauch von Sprache beigebracht, und plötzlich fragt er "Warum fliegen da lauter so schwarze Würmer herum?" - ein Zitat aus Ödön von Horvaths Glaube Liebe Hoffnung, die um alles betrogene Elisabeth sagt diesen Satz, kurz bevor sie stirbt. Kaspar versteht und versteht nicht und schweigt daraufhin 20 Phasen des Stückes lang, dann lehnt er sich auf und geht am Ende weg. Viele Jahre später ist Wilhelm Muster nach Graz zurückgekehrt. Kaum jemand wusste damals, dass er jener Ulrich Hassler war, von dem 1960 der Roman aller nächte tag erschienen war (jetzt wieder aufgelegt ohne das Pseudonym, das ihm der Verlag aufgezwungen hatte, und unter dem richtigen Titel Silbermeister), kaum jemand erfuhr, dass der Übersetzer und Spanischlehrer Wilhelm Muster, der für seine Übertragungen aus dem Spanischen (unter anderem der Werke Quevedos) den bedeutenden Unamuno-Preis erhalten hatte, auch Schriftsteller war. Fast 30 Jahre nach dem Verlassen Österreichs nimmt der Schamane seine Rolle doch an: Der grausame Tod seiner ersten Lebensgefährtin ist ihm Anlass, den ein Leben lang zusammengetragenen Bildern und Geschichten aus der Welt jenseits des Zeitflusses eine über das Private hinausgehende Bedeutung zu schenken. Nacheinander erscheinen jetzt die Bücher, jedes überraschend.

Die Angst zu versagen ist eine Art Todesangst. Aus dem Überlebenswillen erwachsen Beschreibungen und Erzählungen, die zumindest im Scheinhaften dem Glück etwas über seine Zeit Hinausreichendes geben. Das Hier und Jetzt, das Dort und Damals sind immer gleichzeitig im Bewusstsein, die Angst vor der jeweils anderen Wirklichkeit wird gebannt durch die Reisen in beide Reiche. Das Erlernen der Gleichzeitigkeit. Die Erfahrung eilt der Wahrnehmung voraus, die Botschaften hängen als Zettelchen an Ballons, die in die Gewitterwolken aufsteigen, es ist Krieg. Friedrich Silbermeister rinnt das Wasser über die Finger, wenn er von innen an die Fensterscheibe greift im heftig einsetzenden Regenschauer - im Zimmer bleibt es heiß. Er legt sich ins Bett, steht gleich wieder auf, geht weg, traumwandelnd. In der slowenischen Stadt trifft er Freunde, gewinnt und verliert im Spiel, gewinnt Klarheit in seiner Mondlichtwirklichkeit. Die gleichzeitige An- und Abwesenheit des Schamanen. Die sinnlichen Reise seiner "Ouvertüre" lassen alles authentisch erscheinen, aber es fehlt der Handlung, den langsamen Bewegungen wie dem Wirbeltanz der Erscheinungen, die Eindeutigkeit des nur Wirklichen. Die Vernunft des Helden Silbermeister ist die Vernunft der Poesie: Die schöne Irenena spielt mit der Gleichzeitigkeit des Ja und Nein (... was steht in ihrem Brief? ...), das Mädchen Konstanze kennt die zwei Seiten der Wahrheit, und wie war das mit Božena - Zärtlichkeit und Schmerz. Der Gewinn im Zehnerlein-Spiel, ein Vermögen, das die Freunde verwalten werden, oder Glasperlen für den Pianisten Silbermeister. Jede der Geschichten von Wilhelm Muster ist auch eine Liebesgeschichte: Eros und Thanatos.

Der Tod kommt ohne Trommel - am Romanbeginn steht eine Begegnung von Freunden, eine Liebesaffäre, eine geheimnisvolle Mitteilung - der Pfeifendeckel bringt einen kleinen Zettel mit einem Geheimbefehl. Dann ist die Schwelle überschritten, der Greifvogel stürzt ins Tal, du siehst die Moscheen von Sarajewo, der Kaiser lebt noch. Wer ist es, der die Schwelle überschreitet und im Augenblick des Todes seine dreimal drei Leben lebt, gleichzeitig, der Kaiser, der Offizier? Das Gelebte, das Geträumte, das Erzählte: in diesem Augenblick, wann? - 1916 ist Wilhelm Muster geboren, in Graz. In Sarajewo hat der Offizier (an einem Oktobertag des Jahres 1916?) nach dem Zettel mit der Geheimbotschaft gegriffen und ... die Hitze des neuen Lebens und die Glut in den Augen des heimtückischen Märchenerzählers, die Familie zu Hause und die neuen Frauen in der Wüste ... am Ende das Ineinanderstürzen der Wahrheiten und Phantasmagorien.

Selbst dort, wo die Körperlichkeit, die Leibhaftigkeit der Romanhelden Wilhelm Musters augenscheinlich wird, fällt das Bild in Asche ab, die Berührung löst die Erscheinung einer neuen, einer immer anderen Wirklichkeit aus. Das Poetische entsteht aus stiller Trance, im Tanz der Gestalten, die ein körperloses Ich hervorruft. Doch entgeht auch der Schamane nicht der Schwerkraft, wie gespensterhaft die Gestalt, die er unwillkürlich annimmt, auch sein mag. Es gibt Geheimnisse, an die man nicht rühren soll: das Vorbeistreifen eines Seidenschals in einer nachtkalten Madrider Straße, die niedrige Steinmauer auf Ibiza, wo seit Menschengedenken die grüne Eidechse den Ameisen auflauert, der Marder im südsteirischen Auwald, der sich, nachdem er im Frühnebel einen kleinen Hasen geschlagen hat, das Blut von den Schnauzenhaaren wischt, die rasche Lippenbewegung des Mädchens, das aufspringend die Bettdecke abwirft ...

Fragen Sie den Dichter nicht nach Erklärungen für seine Geschichten: den Zugang muss jeder selbst finden, und für jeden, der lesen kann, gibt es mindestens einen. Nur derjenige, der die Wiederholung der Wiederholung sucht, wird oftmals um die casa senza portas gehen, auf ausgetretenen Pfaden. Haben Sie als Leser Geduld mit sich, lesen Sie sich ruhig ein in die Geschichte: Rasch spürt man, dass es keine Regeln gibt, nach denen man sich in sie verstrickt, dass es auch nicht um Abrechnungen geht. Man kann bedenkenlos eintreten in das Haus des Schamanen, jetzt und jetzt, dann und dann. Hinter der Bücherwand mit den Werken spanischer und französischer und italienischer und deutscher Dichter findet man irgendwie hinaus in das Treppenhaus - vom offenen Torbogen dringt der südländische Straßenlärm herein. Im Vorhang neben dem tief gepolsterten Lehnstuhl hat sich die Salzluft Ibizas verfangen, du schaust zum Fenster hinaus, siehst den alten braunen Kirchturm von Bolsena, gehst den Weg zu den Höhlen, der letzten Zuflucht der Etrusker. Hinter dem See die dunkelgrünen Hügel, die Mondsichel gibt den Erlenreihen im Murbodennebel Silberlicht. Ein anderes Leben herrscht in diesem Haus, ganz selbstverständlich: Vernunft, Lebensweisheit, Würde, wie der verwehende Klang eines Musikstückes der Renaissance.

Der Schamane ist als Erzähler ein heilender Traumreisender: Er lehrt dich die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Schwarz und Weiß, von Hier und Dort zu begreifen, er befreit dich vom Wahrheitsdruck einer zweckrationalen Welt. Mit dem Landesliteraturpreis der Steiermark wurde 1983 ein großer Schriftsteller ausgezeichnet.

(1983)

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