Clarice Lispector: "Der große Augenblick"


Clarice Lispector, unverwechselbare Stimme der brasilianischen Literatur, war eine schillernde wie rätselhafte Persönlichkeit, die einmal fast das Ende Ingeborg Bachmanns vorweggenommen hätte und seitdem ihre Schreibhand nur mehr unter starken Schmerzen führen konnte. Schon mit ihrem ersten Roman (deutscher Titel: "Nahe dem wilden Herzen") wurde sie berühmt, ihr aus ihrem Sterbejahr stammender letzter Roman ist nun bei Schöffling & Co. in neuer Übersetzung (einer freieren, wenn man nach dem Titel, bei dem aus der wörtlichen "Stunde des Sterns" der große Augenblick herausgefiltert wurde, gehen darf) erschienen.
Dass das Nachwort ("Eine Leidenschaft für die Leere") vom Iren Colm Tóibín stammt, ist schon insofern stimmig, als zwei irische Schriftsteller sehr deutlich Einfluss auf das Buch genommen haben: Samuel Beckett ist da zuerst zu nennen, ohne dessen reduktionistische, konsequent negativistische Prosa "Der große Augenblick" wahrscheinlich nicht in dieser Form erschienen wäre; außerdem lässt Clarice Lispector ihren Roman und damit ihr Lebenswerk mit einem großen Joyceschen "Ja" ausklingen. 

Sonst haben die beiden Protagonisten des Romans mit Molly Bloom jedoch herzlich wenig gemeinsam.
Der eine heißt
Rodrigo S. M., ist Schriftsteller und augenscheinlich ein einsamer Mensch, der uns an manchen seiner Überlegungen, Schwierigkeiten und Zweifel beim Schreiben von "Der große Augenblick" (ein Spiel mit den Musen und Lesern, das für den Spielenden viele Überraschung bereit hält), aber auch an seinen Befindlichkeiten und verschiedensten Gedanken zu Leben und Tod, Allem und Nichts, Form und Leere, teilhaben lässt
Einmal wird die Befürchtung geäußert, ein weiblicher Schriftsteller könnte bei der Behandlung des Stoffes zu sehr auf die Tränendrüse drücken - möglicherweise war diese eingeschobene, literarisch nicht notwendige männliche Schriftstellerfigur der wirklichen Schriftstellerin zur notwendigen Distanzierung unerlässlich.

Die andere, über solche Umwege beschriebene Hauptfigur heißt Macabéa, den Familiennamen hat sie längst vergessen, eine junge Frau aus Alagoas (dem Nordosten Brasiliens, wo auch Clarice Lispector ihre Kindheit verbrachte), die es mittlerweilen als Schreibkraft nach Rio de Janeiro verschlagen hat.
Einmal habe die Schriftstellerin (offiziell Rodrigo S. M.) den flüchtigen Blick auf das Verlorensein im Gesicht einer ebensolchen in Rio gestrandeten Alagoasfrau geworfen, heißt es, dieser Gesichtsausdruck scheint dem Roman als Hauptinspiration zu Grunde zu liegen.

Und so taucht Clarice Lispector (offiziell Rodrigo S. M.) nun ein in ihre Materie, sucht aus jenem erhaschten Anblick mithilfe ihrer Lebenserfahrungen, ihres Wissens und ihrer künstlerischen Absicht teils vor den Augen des Lesers ihre Figur zu formen.
In kurzen Szenen skizziert sie () das armselige Leben der Frau, zeigt sie bei ihrer Büroarbeit, dem langsamen, fehlerhaften Tippen auf der Schreibmaschine, in ihrem seltenen Umgang mit Anderen, ihrer Haupternährung (Cola und Hot Dogs), in ihrer Art, einen freien Tag zu verbringen, in ihrer Sammlerleidenschaft. Am unattraktiven Äußeren der ein solches ereignisloses Halbleben Führenden wird kein Zweifel gelassen: abwechselnd wird sie als rachitisch, schief, hässlich, karieszerfressen und Ähnliches mehr bezeichnet (bei der filmdivahaften Schönheit auf dem Bucheinband handelt es sich um die jugendliche Clarice Lispector selbst);
Macabéa wird bei einem seltenen Blick in den Spiegel über sich nur leichthin "so jung, und schon verrostet" feststellen.

Die Schriftstellerin, die der Sprache in ihrer Abbildungsfunktion von Lebendigem tief misstraut, kreist in wiederholten Beschreibungsversuchen um das Wesen ihrer konsequent aufs Notwendigste reduzierten Romanfigur. "Wie eine herrenlose Hündin folgte sie einer Fernbedienung, die niemand steuerte als sie selbst. Denn sie hatte sich auf sich selbst beschränkt." heißt es beispielsweise. Diese Beschränkung und Beschränktheit ist jedoch andererseits Macabéas großes Glück, da sie so die Gabe besitzt, ihre Gegenwart als in Ordnung anzusehen und damit auf ihre Weise zurechtzukommen. Dass Macabéa die Bemerkung über ihr Spiegelbild so "leichthin" treffen kann, liegt an ihrer tiefsitzenden, wenn auch völlig diffusen Lebenslust, ihrer völligen Bedürfnislosig- und starken Wunschlosigkeit. Von einer bigotten Tante streng und hartherzig erzogen, kommt sie später als Selbsterhalterin nicht auf den Gedanken, sie könne irgendwelche besonderen, über das reine Vorhandensein hinausgehenden Ansprüche an das Leben stellen. "In ihrem Aberglauben hatte sie die Vorstellung, Kindchen, falls sie das Leben einmal richtig genießen sollte, würde sie umgehend merken, dass sie doch keine Prinzessin war, und als Kriechtier weiterleben."

Nicht extra betont, doch offensichtlich, sind der feministische und der sozialkritische Aspekt des Romans, der lautlose Ruf nach Selbstbestimmung und Bildung ist unüberhörbar. Einmal wird darauf hingewiesen, es gäbe viele Frauen wie diese, die gar nicht wüssten, wie austauschbar sie sind, und dass sie (einmal noch: offiziell er) sie ins Rampenlicht stelle, "damit die Leser sie auf der Straße wiedererkennen können". In der Beziehung Macabéas zu einem "Freund" wird zudem das Männerbild der Unterschicht (um genau zu sein, handelt es sich um einen - Trommelwirbel - Alagoasmann!) gehörig aufs Korn genommen, die Dialogstummel sind voll unfreiwilliger Komik.
Der Umgang von Vorgesetzten und Ärzten mit Frauen wie diesen macht, gelinde gesagt, betroffen. Den Satz 
"Nur geht es nicht um den Zugang zum Himmel, es geht ums Schiefe auf der Welt.", mit dem sich die Schriftstellerin einmal aus metafysischem Grübeln reißt, könnte man sogar als politisch verstehen. Oder bloße Worte einer Sprachpessimistin? "Was das Schreiben betrifft, ein lebendiger Hund ist besser."

Einher mit den diversen Beschreibungen Macabéas (während sich so etwas wie eine dürftige Handlung langsam vorwärtsbewegt) geht eine Vielzahl an Gefühlen, welche die sich "verrückt nach ihrer Unansehnlichkeit und ihrer völligen Anonymität" erklärende Schriftstellerin in ihre Figur projiziert: Mitleid, Trauer, Empörung werden Macabéa ebenso zuteil wie betonte Kühle, Spott und Sadismus. Selbst in dem Schönsten, was sie ihr in dem Roman zu hören gibt, gesungen in einer Sprache, die diese für ein nicht so ganz verständliches "Brasilianisch" hält, macht sich Clarice Lispector ein wenig über ihre Figur lustig: una furtiva lacrima ...

Doch zuguterletzt ("genötigt, eine Wahrheit zu suchen, die mich übersteigt") treibt Lispector das Negative in Beckettmanier auf die Spitze, wo es ins Positive oder doch in etwas völlig Anderes umschlagen muss, und beschert ihrer Macabéa doch noch einen großen Augenblick, über den an dieser Stelle weiter nichts verraten werden soll.

(fritz; 06/2016)


Clarice Lispector: "Der große Augenblick"
(Originaltitel: "A hora da estrela")
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby.
Schöffling & Co., 2016. 128 Seiten.
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Clarice Lispector (1920-1977) wurde in der Ukraine geboren, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

Weitere Bücher der Autorin:

"Nahe dem wilden Herzen"

1943: Das Romandebüt einer Dreiundzwanzigjährigen ist die literarische Sensation - zum ersten Mal wagt es eine brasilianische Schriftstellerin, das komplexe Innenleben ihrer Heldin offenzulegen und konventionelle Gesellschaftsmuster in Frage zu stellen. Selbstbewusst bezieht sie sich auf Joyce und fügt der Moderne ihre ganz eigene weibliche Stimme hinzu.
In "Nahe dem wilden Herzen" konzentriert sich Clarice Lispector auf die Reflexionen ihrer Heldin Joana und dringt in die Tiefen ihrer Gefühlswelt vor. Das Lebensumfeld der jungen Frau blitzt darin nur gelegentlich auf: Da ist der frühe Tod des Vaters, die unglückliche Kindheit bei der Tante, die Einsamkeit im Internat, die am gegenseitigen Betrug scheiternde Ehe mit dem Rechtsanwalt Otávio. Auch wenn sie Isolation dafür in Kauf nehmen muss, beschreitet Joana gegen innere und äußere Widerstände unbeirrbar ihren Weg zu eigenem inneren Reichtum, ihrem "wilden Herzen". (btb)
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"Der Lüster"
Auf den ersten Blick ist das Leben der jungen Virgínia unauffällig: Nach ihrer Kindheit auf dem Landsitz ihrer Großmutter führt ihr Weg sie in die Stadt, und erst nach Jahren kehrt sie wieder nach Hause zurück.
Geprägt von ungewöhnlichen Kinderspielen mit ihrem Bruder Daniel, der mit ihr die mysteriöse "Gesellschaft der Schatten" gründet, führt Virgínia selbst ein Schattendasein, das im Widerspruch zu ihrem aufgewühlten Innenleben steht. Obwohl sie Beziehungen eingeht, bleibt sie einsam, unabhängig und in sich gekehrt. Doch während sie sich in Gedanken eine eigene Welt erschafft, dringen wiederholt seltsame Dialogfetzen oder flüchtige Szenen in ihr Bewusstsein - als Vorboten des Schocks, der ihrem Leben schließlich eine dramatische Wendung gibt.
Mit dieser wagemutigen, konsequenten Erforschung eines weiblichen Bewusstseins eröffnet Clarice Lispector in ihrem 1946 erschienenen zweiten Roman der lateinamerikanischen Literatur neue Wege und entfaltet diesen unerhörten sprachlichen Reichtum, für den sie weltberühmt wurde. (btb)
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Noch ein Buchtipp:

Benjamin Moser: "Clarice Lispector. Eine Biografie"

Sie ist eine Ikone der brasilianischen Literatur. Mit ihrer Schönheit, ihrem Geist und ihrer einzigartigen Stimme faszinierte Clarice Lispector, mit ihren eigenwilligen, modernen Romanen und Erzählungen ging sie bisweilen an die Grenzen des Sagbaren. Der us-amerikanische Literaturwissenschaftler Benjamin Moser hat sich auf ihre Spuren begeben und einzigartige Dokumente ihrer Herkunft gefunden. Daraus hat er ein ebenso spannendes wie einfühlsames Porträt einer widersprüchlichen, von ihren jüdischen Wurzeln stark geprägten Persönlichkeit geschaffen. Anschaulich und fesselnd beschreibt Benjamin Moser die Stationen ihres wechselvollen Schicksals und erhellt die Grundmotive ihres Schreibens. (btb)
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