Julia Kissina: "Elephantinas Moskauer Jahre"


Julia Kissinas neuester Roman führt ins Moskau der achtziger Jahre. Ihre Heldin, die so genannte Elephantina, verlässt ihre Heimatstadt, das ruhmreiche Kiew, im Jahr 1982, folgt dem von ihr verehrten Andrjuscha, einem zwar nicht gerade schönen, aber von einem inneren Leuchten erfüllten Avantgarde-Dichter, nach Moskau, um die nächsten Jahre in diesem Tempel der Kunst und Zukunft zu verbringen. Die Liebe kommt allerdings nicht so recht in Fahrt, denn stolz und übereilt schwört sie in einem Künstlermanifest von Gleichgesinnten allerhand bombastisches Zeug, nie auf die Meinung anderer zu hören, keine Lehrer zu akzeptieren, sich nie zu verlieben. Bis 1988, so weit reichen "Elephantinas Moskauer Jahre", treibt sie sich in der Hauptstadt herum, lernt alle möglichen seltsamen Leute kennen, mit denen sie trinkt und diskutiert, unternimmt eigene Schreibversuche, und die ganze Zeit hat sie ihren Andrjuscha nicht ganz aus dem Kopf verloren. Elephantina wird Teil einer Moskauer Boheme, die ihr künstlerische Anregungen und unzählige Eindrücke beschert.

"Wir alle lebten im Inneren unserer Zeit, wie die brodelnde Lava im Inneren des Vulkans."

Weniger angenehm an ihrem Lebensstil ist die ständige Wohnungssuche. Wohnungen von Freunden, aber auch Bahnhöfe und Museen dienen ihr abwechselnd als Schlafstätte. Als sie 1988 am Ende Moskau verlässt - Andrjuscha befindet sich mittlerweilen im Ausland und hat Probleme mit dem KGB bekommen - , wohnt sie gerade in einer Theatergarderobe.

Julia Kissina schreibt sich durch ihre Jugendzeit, für Elephantina eine Zeit der emphatischen Verantwortungslosigkeit, mit durchgehaltenem, aber manchmal recht oberflächlichem, sich möglichst jugendlich gebendem Humor. Das kann man bedauern, weil da eigentlich  von einem interessanten Zirkel, einem Teil der Moskauer Boheme im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion die Rede ist. Von ästhetischen, politischen und sonstigen Debatten ist bei Julia Kissina eher am Rand die Rede, um die Komik einer Geschichte zu unterstreichen oder auf eine gerade vorherrschende Mode anzuspielen. Diskussionen werden geführt, ob jeder Verrückte geniale Gedichte schreiben kann oder nicht, der Schatten, den die Dichter der zwanziger Jahre auf die Avantgarde späterer Generationen werden, wird spürbar gemacht, und immer wieder die Freiheit des schaffenden Künstlers und die Verachtung für materielle Werte mit großer Gebärde betont.

Und natürlich ist Andrjuscha nicht der einzige Dichter, den sie kennenlernt, viele seltsame Vögel kreuzen ihren Weg. Das Leben in der Boheme wird rasch zu ihrem von Dichterlesungen und verbotenen Kunstaktionen, Ausflügen in die Umgebung oder dem Besuch Allen Ginsbergs gesteigerten Alltag. Nicht zu vergessen Elephantinas eigene dichterische Versuche und kleine Erfolge. Von Swedenborg lässt sie sich sogar zu der esoterischen Schrift "Die sieben Stufen des Todes" inspirieren, das Theater wieder ist nicht so ganz ihr Ding.

Wie Elephantinas Art nicht bei allen ihren Bekannten für Begeisterung gesorgt hat, wird das auch für Julia Kissinas Buch zutreffen. Andererseits werden viele Leser das Luftig-Leichte, Unbekümmert-Naive, Frech-Humorige als ausreichenden Ersatz für Tiefgang und das ordnende, wertende Ausarbeiten der damaligen Ereignisse empfinden. Dass das dem Vergessenwerden Entrissene eher den Charakter einer zweidimensionalen, starren Fotografie besitzt, gibt die Autorin unumwunden zu. Ebenso, dass sich nach sechs Jahren in Moskau der Reifungsprozess in Grenzen hielt.

"Die Zeit war vergangen, aber die Jugend war immer noch da. Damals verstand ich noch nicht, dass die Zeit mit ihrem riesigen Vorrat unglaublich verschwenderisch umgeht. Sie gleitet ohne jedes Hindernis durch uns hindurch, löscht eine Schicht nach der anderen aus."

(Irmgard Ernst; 06/2016)


Julia Kissina: "Elephantinas Moskauer Jahre"
(Originaltitel "Elefantina ili Korablekrusˇencija Dostoevceva")
Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova.
Suhrkamp, 2016. 240 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Marina Zwetajewa: "Mutter und die Musik"

Marina Zwetajewa, die neben Anna Achmatowa als die bedeutendste russische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts gilt, wurde 1892 in Moskau geboren und beging 1941 in Jelabuga Selbstmord. Zwischen 1922 und 1939 lebte sie in Prag und Paris. Um der Not ihres Exils zu entkommen, begann sie, autobiografische Prosa zu schreiben, die sie in die Tiefen der Kindheit führte, zurück zu jenem kindlichen Bewusstsein, das sich an jedem Ding, an jedem Wort entzündet.
"Mutter und die Musik", "Der Teufel", "Das Haus beim alten Pimen", "Die Kirills-Töchter" sind Beispiele für Zwetajewas assoziative, lautmalerische, feinnervige, glühende Ichprosa, deren Brennpunkt die Genese und Entfaltung der dichterischen Existenz ist. (Bibliothek Suhrkamp)
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