Michel Houellebecq: "Die Welt als Supermarkt"

Interventionen. Essays


Anlässlich des großen Erfolgs der Romane hat DuMont heuer das Werk Michel Houellebecqs in Taschenbuchausgabe neu aufgelegt, wobei die hier besprochene Sammlung mit "Ich habe einen Traum. Neue Interventionen" zu einem Buch mit der gesammelten Essayistk des Autors zusammengelegt wurde. In diesem ersten Teil, der die Zeit von 1992 bis 1997 umschließt, finden sich (vor allem Film-)Kritiken, ein offener Brief an einen Freund, der Bericht über einen Ausflug nach New York, drei Interviews sowie zahlreiche kritische Essays über die Missstände der Zeit, die sowohl dem Inhalt nach als auch in ihrer teils ironischen, teils dramatischen Zuspitzung bereits auf die kommenden Romane verweisen. Die Veröffentlichung seines ersten, für großes Aufsehen und Befremden sorgenden Romans "Ausweitung der Kampfzone" fällt mit 1995 in diese Zeit und bildet den Anlass des längsten der drei Interviews, wo der Autor unter anderem über das Verhältnis zwischen Sexualität und Kapitalismus sowie jenes zwischen Wissenschaftlichkeit und Literatur referiert.

Für jene, die ausschließlich seine Romane kennen, mag die große Wertschätzung, die Houellebecq der Dichtkunst, bis in die Mitte der neunziger Jahre seine hauptsächliche schriftstellerische Betätigung, entgegenbringt, eine Überraschung bedeuten. Immer wieder wird auf die Kraft der Poesie verwiesen, als das natürlichste Mittel, um die reine Intuition eines Augenblicks zu vermitteln, geheimnisvollere Sicht der Welt, Sprache eines "ozeanischen Lebensgefühls", und dem heutigen Eingespannt- und Getriebensein will er mit einer "Poesie der angehaltenen Bewegung" als einer Technik der Lebenskunst begegnen.
Ein weiterer Text bespricht zwei zwischen Linguistik und Filosofie angesiedelte, eine eigene Poetik enthaltende Bücher von Jean Cohen, die Houellebecq gefesselt und in seinem Willen zum Romaneschreiben bestärkt haben.

Des jungen Houellebecqs Unbehagen an der heutigen (damaligen) Menschenwelt ist ein großes, und es manifestiert sich vielfältig: gesellschaftlich, ästhetisch, politisch, filosofisch. Tritt dann noch ein klares Ziel vor Augen oder vielleicht sogar eine kleine persönliche Antipathie hinzu, schäumen Angriffslust, Spott und Ironie bisweilen über, schlagen sich in eines enfant terrible würdigen Titeln wie "Jacques Prévert ist ein Arschloch" (worin es der Chansonnier zu einem beinah schmeichelhaften, ist man geneigt zu sagen, Robespierre-Vergleich bringt) oder bösen Bezeichnungen wie der, einem im Grunde liebenswürdigen Gottesanbeter (Christian Bobin) den "deutlich abscheulicheren, suspekten Coelho" gegenüberzustellen, nieder.

En gros hat sich Houellebecq mächtige Steine des Anstoßes ausgesucht; vieles von dem, worunter er leidet und wogegen er schreibend ankämpft, gehört zu den wesentlichen Bestandteilen des Zeitgeistes. Den Individualismus hält er für filosofisch (Illusion des Ich) und politisch gescheitert, den einzelnen Menschen zu einem im Wesentlichen unfreien, der Verführung der Käuflichkeit, der Raffinesse der Werbung, kurz, der "unerbittlichen Zwangsläufigkeit der Wirtschaft" ausgelieferten Wesen verkommen, die Auflösung des Paares und der Familie sind dabei, die letzte Trennung von Individuum und Markt zu beseitigen. Willensschwäche und Zerstreuung, Entfremdung und Hohn seien Kennzeichen dieses Menschen; die ehrliche, reine Freude hingegen, die dieser empfinde, wenn zum Beispiel ein hässlicher Wohnsilo in einem Banlieue zum Einsturz gebracht wird, zeuge von seiner ungebrochenen Sehnsucht nach einem gemäßeren, würdigeren Leben.
In einem Interview bezeichnet er sich als Kommunisten, nicht aber Marxisten, was vermutlich vorwiegend im innerfranzösischen Diskurs zu sehen ist, Houellebecqs Texte sind weitgehend ideologiefrei (den Begriff "Globalisierung" verwendet er nicht, den des "Liberalismus" umso häufiger). Gewiss ist, dass ihn die Wucht und Unerbittlichkeit, mit der dieses vereinheitlichende, nummerisierende Getriebe von mehr und mehr Lebensbereichen Besitz ergreift, tief beunruhigt. Voilà ein prägendes Ereignis:

"Ich erinnere daran, dass das 1992 abgehaltene Referendum in Maastricht beinahe nicht stattgefunden hätte (die historische Siegespalme der Verachtung gebührt zweifellos Valéry Giscard d'Estaing, der der Meinung war, das Vorhaben sei 'zu komplex, um einer Abstimmung unterzogen zu werden') und dass es, nachdem man sich seine Durchführung abgerungen hatte, beinahe mit einem NEIN geendet hätte, während die gesamte politische Klasse und die verantwortlichen Medien dazu aufgerufen hatten, mit JA zu stimmen."

Wenn es sich jedoch so verhalte, dass über die wichtigsten Kursrichtungen längst entschieden wurde und ohnehin nur mehr eine Schein- oder Achteldemokratie bestehe, um vielleicht, wie es heißt, "gefährlichen populistischen Verirrungen" nicht Tür und Tor zu öffnen, solle man uns das klipp und klar mitteilen - eine Provokation, die damals (1997) vermutlich vergleichsweise harmloser geklungen haben wird als heute.

Andere sogenannte Chroniken aus dieser im selben Jahr unter dem Namen "Tote Zeiten" erschienenen Serie beschäftigen sich auf eher spielerische, zwischen Essayistik und Erzählung pendelnde Weise mit so unterschiedlichen Dingen wie dem Liberalismus in der Pornoindustrie, gewissen Spielarten des Feminismus und dem Pensionsantrittsalter. "Der Deutsche" wiederum liest sich als Warnung und freundschaftlich-nachbarliche Kritik zugleich (Houellebecq schätzt die Filmemacher Murnau und Dreyer, überhaupt den deutschen Expressionismus, und bezeichnet - in der Poesie wie in der Musik - die erste Zeit der deutschen Romantik als seine Lieblingsepoche). Der Deutsche also, der nur recht selten, jedenfalls seltener als der Franzose arbeitslos ist, und dessen Leben daher wie folgt abläuft - wirklich ganz kurz: Geburt Schule Beruf ..., und die Freizeit, für die besitzt er dank seiner Finanzkraft irgendwann ein Freizeithaus, zuallermeist - und damit teilt er die Vorliebe der Gastarbeiter und Zuwanderer seines Landes - nicht in Deutschland, sondern im Süden, vorzugsweise am Meer, während des langen Arbeitslebens kann er es nur in der Urlaubszeit genießen, hernach - und der Autor beschreibt eine Erfahrung in einer aus dem Boden gestampften spanischen Kleinstadt, die ausschließlich von deutschen Pensionisten bewohnt wird, lässt so einen Pensionisten mit seinem leistungsstarken deutschen Wagen wieder einmal heimwärts- (oder meerwärts) preschen, in einem von solchen Kunden lebenden Autobahnhotel in Frankreich Kurzquartier nehmen, noch kurz - quasi mit letzter Kraft - bei Austern und Wein Verwandtenbeziehungsprobleme erörtern, um schließlich aus dem "Erlkönig" zitierend in den Schlaf zu sinken ("wahrscheinlich das Beste, was er tun kann).
Das war unsere Rubrik: 'Die Währungsparität Franc-Mark, das deutsche Wirtschaftsmodell'. Ich wünsche allen eine gute Nacht."


"Die Welt als Supermarkt. Interventionen. Essays" ist eine witzig geschriebene, scharf- und weitsichtige Fundamentalkritik am sogenannten Zeitgeist, die aktueller kaum sein könnte.

(fritz; 09/2016)


Michel Houellebecq: "Die Welt als Supermarkt. Interventionen. Essays"
Aus dem Französischen von Hella Faust.
rororo, 2001. 128 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

"Die Welt als Supermarkt" in der neuen, durch "Ich habe einen Traum. Neue Interventionen" ergänzten Ausgabe:
Vielen seiner Bewunderer gelten Michel Houellebecqs Essays als sein eigentliches Hauptwerk: Sie sind Houellebecq pur, die Essenz seines Schaffens. Die skurrile Tragikomödie, die wir alle miteinander auf der Bühne des absurden Menschheitstheaters aufführen, wird in diesen Texten schonungslos verrissen. Denn was Michel Houellebecq hier betreibt, ist keine Sozial- oder Kulturkritik - es ist nicht weniger als Weltkritik.
Das Kompendium verbindet die Einzelbände "Die Welt als Supermarkt. Interventionen" und "Ich habe einen Traum. Neue Interventionen". (DuMont)
Buch bei amazon.de bestellen