Ulrich Hassler: "Aller Nächte Tag"
Ein
          Roman mit Selbstzerstörungsmechanismus: lachend dem Untergang
          entgegenerzählen
        
        Dass sich womöglich mancherlei ändert, besagt die
        Redewendung "Es ist noch nicht aller Tage Abend", und diese
        Ankündigung wird im Roman "Aller Nächte Tag",
        erschienen anno 1960 im "Henry Goverts Verlag", eingelöst. In
        abgewandelter Version findet sich diese Redewendung auf Seite 401: "Alles
treibt
          nach oben, Flaum ist leicht und Gewölk Rauch, also geht
          es oben hinaus, lustig wischt es, und dabei ist nicht mehr aller Tage
          Abend, es ist aller Tage Nacht, endlich einmal aller Tage Nacht, es
          kratzt und saust, fort, weg, da geht es noch höher."
        
        Hinter dem Pseudonym "Ulrich Hassler" verbarg sich einst der Grazer
        Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Muster. Die Neuauflage
        des Romans erfolgte Jahrzehnte später unter dem Titel
        "Silbermeister", und zu jener Zeit schien Wilhelm Muster namentlich als
        Autor auf.
        Obwohl Muster mit seinem
        Romanerstling angeblich nicht vollauf zufrieden war, erfuhr "Aller
        Nächte Tag" Anerkennung seitens der Literaturkritik. Der 1916
        Geborene war im Jahr 1960 für einen Debütanten nicht
        mehr ganz taufrisch, der eindringliche Ton seines expressionistischen
        Romans, der einen angesehenen Helden, von seinem Schöpfer
        verlassen, binnen weniger Tage und Nächte in einen namenlosen
        Irren verwandelt, jedoch ließ und lässt aufhorchen;
        heute wohl aus anderen Gründen als anno 1960, aber
        großartige Romane pfeifen bekanntlich auf Zeitgeister.
        Freilich dokumentiert "Aller Nächte Tag" auch Zeitgeschichte,
        spannt jedoch einen erheblich weiteren Bogen, der über die
        reine Romanhandlung hinausreicht.
        
        Schauplätze sind Gegenden auf heute slowenischem und
        österreichischem Boden zur Zeit gegen Ende des Zweiten
        Weltkriegs. Der ehemalige Pianist und nunmehr hochdekorierte
        Jagdflieger Leutnant Friedrich (Miroslav) Silbermeister, 25 Jahre alt,
        befindet sich, von Afrika und Griechenland kommend, auf dem Weg nach
        Berlin, doch nach einer Notlandung bewegt er sich wie auf der Flucht
        erinnerungsbeladen durch Regionen seiner Kindheit und Jugend. Der Krieg
        hat überall seine Spuren hinterlassen, an Ländern und
        Leuten, es herrscht eine düstere Stimmung, Verdunkelung und
        Lebensmittelknappheit prägen die Szenerie, Tod und
        Zerstörung sind ständige Gäste, nicht wenige
        frühere Freunde einander Feinde geworden. Jene, die es sich
        leisten können, gönnen sich skurrile Zerstreuung,
        doch die Menschen wirken ausgebrannt und erloschen.
        Bei der Notlandung hat sich Silbermeister eine Wunde an der rechten
        Schläfe zugezogen, deren schwerwiegende Auswirkungen sich erst
        noch zeigen werden ...
        
        Die Marschroute des rastlosen Protagonisten geben die
        Kapitelüberschriften vor:
        "Ein großer Mann kommt in eine kleinere Stadt und trifft eine
        folgenschwere Entscheidung",
        "Fußmarsch in die Vergangenheit",
        "Der Held wird unmerklich in eine Geschichte gerissen, wie kommt er
        dazu?",
        "Kurzgefaßte Anleitung zum Glücksspiel und Dichten",
        "Der große Mann sammelt dokumentarisches Material",
        "Erster Versuch einer Geschichte nebst Gesprächen, die
        scheinbar nicht dazu gehören",
        "Schaurig-Erbauliches. Exkurs über Blaskapellen und
        Grammatik",
        "Das Unwahrscheinliche nimmt zu - Silbermeister begibt sich in beste
        Gesellschaft",
        "Wein, Weib und Gesang - Es kommt, wie es kommen muß",
        "So ist nun einmal das Leben",
        "Von der Kunst des Zitierens".
        Die Kapitel ergeben eine Kette von Begegnungen in wechselnden Bildern,
        Friedrich ist hierbei das einzige Bindeglied. Wilhelm Muster verwehrte
        sich übrigens gegen die Schubladisierung seines
        "Silbermeisters" als Kriegsroman, denn dazu war dem Autor das speziell
        Menschliche, das Absurde am Dasein zu jeder Zeit, viel zu wichtig.
        Die Figur des Friedrich Silbermeister weist übrigens gewisse
        Ähnlichkeiten mit dem Soldaten Friedrich aus Musters
        Erzählband "Gehen Reisen Flüchten" auf, wie
        überhaupt sich im Verlauf der Lektüre der Eindruck
        ergibt, der Autor habe zeitlebens an einem einzigen großen
        Gesamtwerk geschrieben.
        
        Den Einzelgänger Friedrich Silbermeister, in Slowenien Mirko
        genannt, verschlägt es zunächst zu seiner
        früheren Zimmerwirtin, danach in ein Gasthaus,
        anschließend in das Amüsierlokal seines alten
        Schulfreunds Drago Pregelj. Dort plaudern die beiden über alte
        Zeiten und Frauen; eine typische Männerfreundschaft eben.
        Friedrichs Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, seine nach wie vor
        in Ruše (Maria Rast) lebende Großmutter hat den
        Tod ihrer Tochter nie verwunden, sein Vater ist inzwischen auch nicht
        mehr am Leben. Seine Kindheit war geprägt von
        täglichem stundenlangen Beten, heimlichem Klavierunterricht
        und umfassender humanistischer Bildung in einem Jesuiteninternat. Als
        Pianist hat er maximale Präzision erreicht, fühlt
        sich dabei allerdings einem Automaten gleich, wie überhaupt
        das Motiv, bald könnten alle Menschen wie leblose Maschinen
        sein, wiederholt auftaucht.
        So beispielsweise, als er betrunken in der Fahrdienstleitung
        einschläft und im Traum einem entzückenden
        Katzenvogelengel nachstellt, der Friedrich während ihres
        halsbrecherischen Flugs unter Anderem mitteilt, er stehe nicht mehr im
        Buch der Lebenden:
        "Millionen Erloschener gehen auf dieser Erde, reden, lachen,
          arbeiten, reisen, trotzdem leben sie nicht mehr, sie sind wie ein
          kleines Glas, das gefüllt ist, sie nehmen nichts mehr auf, sie
          sind tot.
          Dann bin ich also in bester Gesellschaft, in bester Gesellschaft zu
          sein, das habe ich mir immer gewünscht.
          Der Engel
          sah ihn rührend, schielend an.
          Und wie heißt du unter euch?
          Die Katze.
          Du, höre, was soll das heißen? Katzerl, meine Katz,
          das sagt man allenfalls zu seiner Geliebten, ich bitte dich, die
          streichelt man, mit der geht man ins Bett, und das ist nur menschlich,
          so gar nicht englisch,
          der Vogel sträubte den Pelz,
          ist ja schon gut, er suchte den himmlischen Begleiter zu beruhigen, du
          bist selber schuld, wenn ich so etwas daherrede, du bist kein
          Mannderl,
          ein Weiberl willst du erst recht nicht sein, was bleibt dann noch,
          verehrte Katz? (...)
          jetzt, dachte der Mann, schrie: Du! und warf sich auf den Engel,
          das Katzenmädchen, ungleich schneller, wirbelte herum, fing
          ihn ab, packte ihn an den Handgelenken und schleuderte ihn
          überquer in die Tiefe." (S. 164, 165)
        
        Aus diesen apokalyptischen Bildern reißt ihn Drago, und die
        beiden begeben sich zu Baron Wratislaw, wo in illustrer Gesellschaft
        (Militär, Schriftsteller, Sänger, Mediziner,
        Politiker) das sogenannte "Zehnerlein" gespielt wird. Dabei handelt es
        sich um ein von den Beteiligten ersonnenes Spiel mit Geist, es
        müssen "Imponderabilien" und eine "subtile
          Aktion" gesetzt werden. Friedrich gewinnt
        (natürlich), und die Einsätze gewinnen im Verlauf der
        parallel entwickelten Handlungsstränge (Friedrichs Odyssee und
        seiner erdachten Geschichte) an Einfluss; auf magisch anmutende Weise
        scheinen die folgenden Ereignisse von den Einsätzen des
        "Zehnerleins" vorherbestimmt. "Es blieb ihm nur mehr Zeit,
          den närrischen Satz zu denken: Ich habe gewonnen - ich bin
          verloren." (S. 210)
        
        Dass er eventuell einen Sohn aufgrund einer Jahre
        zurückliegenden Verführung haben könnte,
        beschäftigt ihn nachhaltig, bis in seine Träume und
        Fantasien hinein, wiewohl er im Grunde mit Frauen nichts anzufangen
        weiß und deren Gesellschaft tunlichst meidet. Das
        "Vater-Sohn"-Thema klingt auf mehreren Ebenen an, nämlich auch
        als eigenständige Geschichte, die sich Friedrich im Roman
        ausmalt. In Friedrichs Fiktion entspinnt sich eine verworrene,
        letztlich unter Blutzoll im Gebirge beendete Geschichte aus
        Bruchstücken der Wirklichkeit und Fantasien. Ein gewisser
        Jeremija und ein Knabe namens Andrej dienen als Objekte, bis sich das
        Ganze verselbstständigt und zerstörerisch in
        Friedrichs Gegenwart einbricht, als Jeremija seinem Herrn trotzt ...
        
        Doch bevor es dazu kommt, sieht sich Friedrich mit
        Déjà-vu-Erlebnissen und dem
        vollständigen Abgleiten in Endzeitvisionen konfrontiert, geben
        Spiegel Einblicke in fremde Welten, ereignen sich teils
        verstörende, teils vorübergehend harmonische
        Begegnungen mit alten und neuen Bekannten, beispielsweise bei seinem
        Taufpaten, einem Grafen, mit seinem alten Freund Stefan, der
        mittlerweile Anführer der örtlichen Partisanen ist.
        Die beiden nehmen am Begräbnis des "Wildschwein" genannten
        Bürgermeisters und am Leichenschmaus teil, die Witwe ist jene
        Frau, die Friedrich vor acht Jahren verführt hat. Als
        vermeintlichem Befreier seines zuvor inhaftiert gewesenen Onkels
        fliegen Friedrich, der "großen Kriegsgurgel",
        die Herzen der Einheimischen zu, obwohl er eine deutsche Uniform
        trägt. Überall wird er erkannt und angesprochen,
        überall flieht er vor den zudringlichen Menschen.
        Während einer Zugfahrt nach Neumarkt, wo Friedrich einer
        telegrafierten "Katastrophe" (der verheerenden Explosion der
        Dynamitfabrik) nachspüren soll, lernt er einen
        abgebrühten, nichtsdestotrotz musikbegeisterten
        Generalfeldmarschall kennen, erneut tritt die "Tochter aus Elysium" ins
        Bild, doch 
          Beethovens wuchtige Vertonung der "Ode
          an
          die Freude" offenbart abermals ein erschreckendes Gesicht.
        
        Der fulminante Schluss zeigt den zu dieser Zeit vom Autor
        längst nur noch als "Irren" bezeichneten
        Silbermeister als scheinbaren Deserteur angeschossen und kurz darauf
        ohne Klavier Ravels Klavierkonzert für die linke Hand in allen
        Feinheiten aufführend, während ein Arzt dirigiert -
        bevor das heraufdämmernde zerstörerische Ende
        unausweichlich und gnadenlos anbricht ...
        
        Wilhelm Muster zog schon in seinem Romanerstling sämtliche
        Register der Erzählkunst,
        er jonglierte gekonnt auf mehreren Ebenen mit den großen
        Fragen des Menschseins wie auch mit den Problemen und der Eigendynamik
        des Geschichtenverfassens. Neben seiner Leidenschaft für
        klassische Musik kommt auch seine Begeisterung für das Theater
        in einer entsprechend gestalteten Passage, die quasi noch einmal die
        Hauptthemen und Figuren vor den Vorhang holt, zur Geltung.
        
        Ähnlich wie Harry Mulischs völlig enthemmte
        Romanfigur Norman Corinth (in "Das
steinerne
          Brautbett") hat auch Wilhelm Musters
        überheblicher Kriegsheld Friedrich Silbermeister
        längst den Boden unter den Füßen und den
        Himmel über dem Kopf verloren. Beide lieben waghalsige
        Aktionen, beide brechen immer wieder in wahnsinniges Gelächter
        aus, beide leben unterkühlt in ihrer jeweils eigenen
        abgekapselten Welt und verstören ihre Zeitgenossen mit
        unvorhersehbaren Handlungen und Aussagen, weil sie nichts und niemanden
        mehr ernst nehmen, was auch die eigene Existenz einschließt.
        Sie sind Figuren, die sich ihrer Menschlichkeit entfremdet haben und
        wie Automaten funktionieren, bis die Sicherungen endgültig
        durchbrennen und es zur finalen Katastrophe kommt.
        
        "Aller Nächte Tag" oder "Silbermeister" ist ein herausragender
        Roman, der auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen
        nichts an Frische und Gewicht eingebüßt hat.
(kre; 07/2016)
Ulrich
          Hassler: "Aller Nächte Tag"
        Goverts, 1960. 456 Seiten.
        
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Wilhelm
          Muster: "Silbermeister"
        Ullstein.
        
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        Noch ein Buchtipp:
          
          Andreas Kraß: "Ein Herz und eine Seele. Geschichte der
          Männerfreundschaft"
        Der Brieffreund, der Studienfreund, der "beste" Freund - es gibt viele
        Formen der Männerfreundschaft. Der Berliner
        Kulturwissenschaftler Andreas Kraß untersucht sie in seinem
        Buch alle, von der Antike bis in die Gegenwart. Zwanzig Geschichten der
        Männerfreundschaft von Homer bis Wolfgang Herrndorf werden
        dafür analysiert und mit einem jeweils epochalen
        philosophischen Text in Beziehung gesetzt. Im Zentrum stehen
        nichthomosexuelle Freundschaften
        und ihre Passionsgeschichten, die
        einem Muster folgen: Warum muss erst der eine Freund sterben, damit der
        andere in leidenschaftlicher Weise über die Freundschaft
        sprechen kann? Und wie verändert sich dies im Laufe der
        Geschichte? Eine literarisch-kulturgeschichtliche Spurensuche voller
        neuer und überraschender Einsichten. (S. Fischer)
        
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          Leseprobe:
        
        (...) Und der Hitler wird uns auch nicht die Nasen abbeißen.
        Bei uns werden die Leut entlassen, bei uns laufen die Arbeitslosen
        herum, mir hat eine Freundin vom Alpenverein gsagt, sie war
        draußen, Deutschland ist nicht wiederzuerkennen, es soll
        wirklich das reinste Paradies sein, nein, bitte, jetzt lassen Sie mich
        ausreden, oder wollen Sie mich auch mit Apfelstrudel bändigen,
        daß ich überhaupt nimmer red, also, ich mein, wenn
        er uns wirklich etwas aufspielt, wer, der Silbermeister? Nein, der Hitler,
        unterbrechen Sie mich doch nicht, wenn er also kommt, dann werden ihm
        die Österreicher alle um den Hals fallen wollen, und sie
        werden sich mit den Deutschen, mit den Schrumpfgermanen, wie der Herr
        Ingenieur sie nennt, verbrüdern, und werden auch einschrumpfen
        wollen, nein jetzt möchte ich zu End reden, und ich find es
        nicht so schrecklich, und was Sie gegen den Silbermeister haben, Herr
        Hofrat, da kann ich auch nicht mit, ich hab wohl schon ghört,
        daß einer patzt, aber noch nie, daß er zu
        präzise ist, das schadet uns nicht, ein Schuß
        Präzision, so lassens mich doch reden, Herr Ingenieur,
        Verzeihung, mein Fräulein, jetzt wirds technisch, das
        fällt in mein Fach, haben Sie Schuß
        gesagt? Ja, schießen werden sie bald, präzis werden
        sie schießen, aber sie sollens nur ausprobieren, von
        verbrüdern ist da keine Red, nicht wahr, Herr Hofrat? Es ist
        doch witzig, wenn man zwei so junge Leute gscheit reden hört,
        lächerlich, ein Mensch ohne Matura, im übrigen bin
        ich entsetzt über Ihre Ansichten, Gerti, und ich
        möchte nichts mehr davon hören, es wundert mich nur,
        Ferry, daß dir der Solist gestern gfallen hat, das ist ja ein
        Monstrum an Kälte, ein Komödiant ist er auch, am
        meisten hat mir bei der Kadenz gegraust, der Teufel
        ist kalt, das scheinst du noch nicht zu wissen, er ist ein Loch, ein
        Sog, darum fallen so viele auf ihn herein, außerdem ist er
        ein Komödiant, damit er seine Kälten kaschieren kann,
        und es scheint nur unglaublich, daß er so viele Leute unter
        der Fuchtel hat, wer, der Hitler, Herr Hofrat? Aber wer redt jetzt vom
        Hitler, ich red vom Teufel, aber das ist ein guter Gedanke, Ferry, ich
        versteh nicht, wie du den Silbermeister verteidigen kannst, das sind
        doch zwei Brüder, beide von einer mörderischen
        Kälten, wenn der eine auch vorläufig hitzig tut,
        welche Brüder, Herr Hofrat, mein Gott Ferry, bist du
        begriffsstutzig samt deinem Diplom, der Führer und der
        Fortepianovirtuose natürlich, wir reden doch die ganze Zeit
        davon, gehts nicht mit dem Katzenpfoterl, gehts sicher mit der
        Eisenfaust, der Hitler müßt nur besser
        klavierspielen können, leider ist er über Lehar und Wagner
        nie hinausgekommen. (...) (S. 67, 68)