László Darvasi: "Wintermorgen"

Novellen


Dunkle Daseinswinkel, gekonnt ausgeleuchtet

László Darvasi ist ein vielseitiger Autor, er veröffentlicht Lyrik und Prosa wie auch Zeitungsartikel. Man darf mutmaßen, seine frühere Fußballbegeisterung komme mitunter im Tempo seiner Novellen zum Ausdruck, überdies scheinen unermüdlich zündende Ideen von der Ersatzbank eingewechselt zu werden - das Resultat ist sozusagen eine Schreibtaktik mit Torgarantie.
Wie der Verlag anmerkt, wurde der Novellenband für den deutschsprachigen Raum gegenüber der ungarischen Originalausgabe vom Autor geringfügig verändert und um die Texte "Tips für Hundehalter", "Der Tod des Nachbarn" und "Der Baum" erweitert, während "Stell es dir vor, János!" und "Das Gebiss" nicht darin aufscheinen.

Die neuen Texte des wendigen Geschichtenerzählers demonstrieren mit ausschweifender Fantasie Vergnügen an abwegigen Entwicklungen sowie tiefschürfendes Interesse an Außenseitern, somit eine Herangehensweise, die viele Leser wohl bereits aus der frühen Textsammlung, auf Deutsch im Jahr 2006 als "Herr Stern" erschienen, kennen und schätzen.
Der Band "Wintermorgen" ist thematisch in drei Schwerpunktkapitel mit wuchtigen Titeln unterteilt: "Gott", "Heimat" und "Familie".

Der 1962 in Törökszentmiklós geborene Autor versteht sich vortrefflich auf ebenso kühle wie präzise Mileuschilderungen. Seine knappen Dialoge, Ortsbeschreibungen und raffinierten Figurenzeichnungen überzeugen ganz und gar, das Zusammenspiel seiner Fantasie mit seiner großartigen Beobachtungsgabe offenbart im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz Verhaltensweisen und Beweggründe der Protagonisten, wobei László Darvasi niemals Zuflucht zu zeitgeistigen psychologischen Erklärungsmodellen nimmt, verurteilt oder schönfärbt. Er belässt den Geschichten ihre dunklen Geheimnisse, den Protagonisten ihre Schattenseiten.

 


László Darvasi bei der "Buch Wien 16"
(Foto: D. Krestan)

"(...) denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit." - So sprach einst der wirkmächtige Goethe, nachzulesen in "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens" von Johann Peter Eckerman.
Heutzutage lautet die Definition von "Novelle" laut "duden.de": "Erzählung kürzeren oder mittleren Umfangs, die von einem einzelnen Ereignis handelt und deren geradliniger Handlungsablauf auf ein Ziel hinführt."
Und genau solche Erzählungen sind László Darvasi gelungen, sie fangen das Unerhörte besonderer Konstellationen in aller Kürze ein.

László Darvasi macht das Grauen quasi urbar, er verleiht ihm in 34 Novellen Gestalt und bietet ihm eine Bühne. Wie heißt es doch so schön in William Shakespeares Theaterstück "Wie es euch gefällt": "Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler./ Sie treten auf und gehen wieder ab,/ Sein Leben lang spielt einer manche Rollen." (Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel)
Unter Darvasis "bloßen Spielern" finden sich in ungarischen Dörfern und Städten ansässige Geldeintreiber, Kriminelle und selbsternannte Wohltäter, auf den ersten Blick unauffällige Angehörige der Mittelschicht ebenso wie einfache Arbeiter, Straßenkinder, Zigeuner, Narren und Irre, Rachsüchtige, Einsame, Siechende und Suchende - allesamt Sonderlinge und Randexistenzen auf ihre jeweils höchstpersönliche Weise.
László Darvasis Geschichten thematisieren schonungslos offen körperliche und seelische Grausamkeiten, Werteverfall, moralische Verkommenheit, Abstumpfung im Alltag, Rache- und Mordgelüste, Wohlstandsverwahrlosung,  Liebe, Gier und Hass, brutale Misshandlungen und rohe Gewalt in mannigfaltigen Erscheinungsformen, geplante und tatsächlich ausgeführte Morde, Konsumwahn, Familien- und Generationenkonflikte, Heimlichkeiten, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Beziehungsprobleme, Sprachlosigkeit, Schmiergeldzahlungen, Krankheiten, Unfälle, Verfolgungswahn und noch einiges mehr aus dem Füllhorn menschlichen Nebeneinander- und Zusammenlebens. Bier, Wein und Schnaps fließen in Strömen, auch die eine oder andere Tracht Prügel sitzt locker.
Das Böse im Menschen wird in bezeichnenden Situationen, die nicht selten extrem ausarten, sich jedoch gelegentlich auch ohne verheerende Ausbrüche auflösen, glaubwürdig vorgeführt.

Die Novellen warten mit überraschenden Entwicklungen und einmal amüsanten, dann wieder verstörenden Einsichten in Gedanken, Worte und Werke des Menschen auf, brisante bis bizarre Themen und Motive bestimmen das Bild.
Einige Kostproben, die natürlich nichts vorwegnehmen können oder sollen: Ein Papagei verliert sein Leben, weil er endlose Selbstgespräche eines einsamen Mannes aufgeschnappt hat, eine Prostituierte zweckentfremdet ein Kondom zum Schaden eines Freiers, ein knapp dem Tod entronnener Tambourmajor tritt unverhofft allein in einer Heilanstalt auf, ein Paar entgeht nur aufgrund von häuslicher Gewalt einem tätlichen Angriff, der ausgestopfte Hund Burkus legt den Grundstein für eine Romanze. In der titelgebenden Novelle "Wintermorgen" erfährt ein Vater mehr über seinen Sohn, als er je wissen wollte.
Wie man als unfallbedingt vollkommen gelähmter alter Mann mit tadellos intakter Wahrnehmung Bettler, Kunstwerk und Häftling ist, führt "Der Sturz" aus. Das tragische Ende einer ausländischen Putzfrau, der wenig erstaunliche Selbstmord des Verfassers eines Manuskripts mit dem Titel "Der Tod meines Nachbarn", ein freundlich aufgenommener Einbrecher, ein Vater, der Pornofilme sieht, in denen seine Tochter mitwirkt, ein Sohn, der seine Rachegelüste an den Aquarienfischen seines pflegebedürftigen Vaters befriedigt, ein Junge, der sein "erstes Mal" keusch-theoretisch mit der Geliebten seines Vaters erlebt, ein Sohn, der allabendlich seinen sturzbetrunkenen Vater, der sich danach nicht daran erinnern kann, verprügelt und heimbringt, eine Frau, die darauf beharrt, dass ein bestimmter Baum unbedingt gefällt werden müsse, bis es zu spät ist, ...

László Darvasis schnörkellose Novellen bewirken jedenfalls ein gesteigertes Misstrauen gegenüber scheinbaren Idyllen und oberflächlich betrachtet harmlosen Zeitgenossen, denn hinter den Kulissen lauert stets das Raubtier Mensch.
Heinrich Eisterer, 1960 in Wien geboren und seit dem Jahr 1998 vielfach bewährter Übersetzer, u.A. mit dem "Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung fremdsprachiger Literatur ins Deutsche" ausgezeichnet, hat László Darvasis stilistisch vielfältige und anspruchsvolle Texte kongenial ins Deutsche übertragen.

Ein von der ersten Seite an packendes Lektüreerlebnis.

(kre; 11/2016)


László Darvasi: "Wintermorgen. (Gott. Heimat. Familie) Novellen"
(Originaltitel "Isten. Haza. Csal")
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Suhrkamp, 2016. 348 Seiten.
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