Aravind Adiga: "Golden Boy"


Das Spiel des Lebens

Cricket ist ein Sport, der im Profibereich in zwei verschiedenen Kurzformen gespielt wird, nämlich T20 (20 Overs zu je 6 Bällen p/Mannschaft) und One-Day (50 Overs zu je 6 Bällen). One-Day-Cricket ist auch die übliche Gattung im Mannschaftsprofisport. Hier gibt es Weltmeisterschaften, die in vier Weltgruppen unterteilt sind (Österreich war vor einigen Jahren kurz in der D-Gruppe, der letzten Gruppe, vertreten). Zusätzlich gibt es die Königsgattung, nämlich Test-Cricket, bei der sich ein solcher Test über ganze fünf Tage erstreckt. Damit eine Nation Test-Cricket spielen darf, muss sie sich erst auf Umwegen und über Jahrzehnte hinweg dafür qualifizieren. Demnach spielen nur die großen Cricketnationen (wie Australien, Südafrika, Indien, Pakistan, Neuseeland, England, Bangladesch, Sri Lanka und seit wenigen Jahren erst Zimbabwe) Test-Cricket. Für jemanden, der nicht in einem dieser Länder aufgewachsen ist und Cricket bereits seit seinen Kindertagen am Schulhof oder in der Garageneinfahrt des Elternhauses gespielt hat, wird es kaum nachvollziehbar sein, dass ein Sport, bei dem das Benehmen und die Ehrenhaftigkeit im Mittelpunkt stehen (bereits das Naserümpfen über eine Schiedsrichterentscheidung ist ein Unding, das mit harten Strafen und Verachtung bedacht wird), bei dem es Tee-, Mittags- und Getränkepausen gibt einen solchen philosophisch wichtigen Status haben kann. Cricketspieler sind nicht nur angesehene Sportler, sie sind Idole, die eine Vorbildwirkung haben, an welche die Fußballberühmtheiten der heutigen Zeit nicht einmal ansatzweise herankommen. Cricket ist nämlich viel mehr als ein Spiel, es ist schlichtweg das Spiel des Lebens.

In Indien ist es zusätzlich der einzige Sport, bei dem jegliche Kastensysteme und Herkunftsprivilegien aufgehoben sind. Nur der Sport zählt, wer gut ist, darf spielen, egal, aus welcher Kaste er kommt. Die berühmten Scouts, wie beispielsweise Sir Tommy in Aravind Adigas Roman, fahren das ganze Land auf der Suche nach neuen Talenten ab. Sie suchen nicht nur bei den Dorfmannschaften, sondern auch in den Elendsvierteln, wo bereits die Kleinsten ohne adäquate Ausrüstung auf Schotter oder im Sand spielen. Der 1973 geborene Sachin Tendulkar gilt generell als bester Cricketspieler aller Zeiten. Natürlich bleibt er in diesem Roman nicht unerwähnt.

Aravind Adigas Roman nimmt diesen Sport, der in Indien wie eine Religion ist, allerdings (fast) nur als Ausgangspunkt dafür, soziale Ungerechtigkeit und die indische Gesellschaft zu beleuchten. Wie bereits in "Der weiße Tiger", in dem ein Chauffeur seinen Chef tötet und es trotzdem zu einem beachtlichen sozialen Aufstieg bringt, und in "Letzter Mann im Turm", der einen alten Mann in den Mittelpunkt stellt, der sich weigert, als letzter Mieter aus einem Wohnturm auszuziehen, den Immobilienhaie übernommen haben, ist Adiga auch hier ein literarischer Chronist der indischen Realität. Einer Realität, die weit über den Tellerrand der romantischen Klischees hinausblickt.

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen zwei Brüder, Manju und Radha. Sie kommen aus ärmlichen Verhältnissen und werden über Umwege von Sir Tommy entdeckt, der sie fördert und über einen etwas zwielichtigen Sponsor fördern lässt. Natürlich kassieren alle mit, der Sponsor, der sich durch seine Förderung ein Drittel der zukünftigen Einnahmen der beiden Spieler sichert, Sir Tommy und hauptsächlich der Vater der Knaben, der den Sponsor nicht nur dazu bringt, mehr Geld als beabsichtigt zu zahlen, sondern auch die Miete in einem viel besseren Viertel. Doppelmoral und Geschäftemacherei, das sind die Hauptzutaten in dieser Melange, welche die Verlorenheit der beiden Buben symptomatisch steuert.

Während Radhu im jungen Alter als der viel talentiertere Cricketspieler der beiden Brüder gilt, sind Manjus Wille und Einsatz der Schlüssel zum Erfolg. Selbst ein gebrochener Daumen hindert ihn nicht daran, stundenlang als Schlagmann auf dem Feld zu stehen. Und gerade der Daumen wird beim "Batting" (also beim Schlagen) permanent strapaziert. Während Radhu bald aufgibt, einige Misserfolge vermiesen ihm den Wunsch, sich weiterhin aufopfernd diesem Sport zu widmen, schafft Manju den Sprung in die Mumbai League, wo er zu einem gefeierten Schlagmann wird.

Adiga hat mit den beiden Brüdern komplexe und vielschichtige Charaktere geschaffen, die in sich die vielen Probleme der indischen Gesellschaft spielen. Auch die Nebencharaktere sind sehr gelungen, vom unsympathischen Vater, der schweigenden und untergeordneten Mutter, den Spielerkollegen bis hin zu Manjus Freund Javed, der ihn aus seiner verkappten Welt befreien will, in der er sich für seine 
Homosexualität schämt. Manju, der Goldjunge, der scheinbar zum Glänzen geboren ist, scheitert letztendlich am inneren Druck, den er sich auferlegt hat. An dem Druck, der durch Zuschauer und Trainerstab auf ihm lastet. Obwohl er maßgeblich an den Siegen seiner Mannschaft beteiligt ist, zerbricht er unter der Angst, nicht zu genügen und daran, anders zu sein. Dass er, nicht einmal dreißig Jahre alt, von seinem Verein in Ungnade aber mit kleiner Abfindung entlassen wird, ist vorhersehbar und wirft ihn aus der Bahn. Nur dadurch kommt er aber in einer wirklich starken Schlussszene wieder mit seinem Bruder zusammen.

Aravind Adigas gewohnt bissige, pfiffige und souveräne Dialoge, die er wie in seinen bisherigen Romanen äußerst effektiv zum Vorantreiben der Geschichte nutzt, funktionieren diesmal nicht ganz überzeugend. Nichtsdestotrotz ist "Golden Boy" ein richtiger Schmöker geworden, der spannend zu lesen ist und viel Einblick in eine Welt gewährt, die dem Großteil der Leser im deutschsprachigen Raum sicherlich gänzlich unbekannt ist. Die Übersetzung von Claudia Wenner ist zum größten Teil kongenial gelungen, das einzige wirkliche Manko ist da zu finden, wo Begriffe aus der Cricketwelt ins Deutsche übersetzt werden. Natürlich kann man die Begriffe übersetzen, allerdings sind Runs, Wickets, Blocks, Sixes, Fours, Batsmen, Fielders, Bowlers, Drives und Pitches in deutscher Sprache als Läufe, Torstäbe, Vorwärtsabwehrschläge, Sechser, Vierer, Schlagmänner, Feldspieler, Werfer, zwischen den Spielern durchgeschlagene Bälle und Stoppelrechtecke nur bedingt tauglich oder gar überzeugend. Eine Tatsache, an der die Übersetzerin naturgemäß keine Schuld trifft.

(Roland Freisitzer; 12/2016)


Aravind Adiga: "Golden Boy"
(Originaltitel "Selection Day")
Übersetzt von Claudia Wenner.
C.H. Beck, 2016. 335 Seiten.
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