Dietrich Geyer: "Trübsinn und Raserei"
Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland
Vom
          Tollhaus zur Heil- und Pflegeanstalt
        
        Dietrich Geyers Buch "Trübsinn und Raserei" zeigt die
        Entwicklung der naturwissenschaftlich fundierten Psychiatrie auf, wobei
        das Hauptaugenmerk auf deren Anfängen liegt. In sieben
        Kapiteln, die von akribischer Recherche getragen sind,
        porträtiert der Historiker Dietrich Geyer Ärzte und
        Forscher, die sich um die Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland
        verdient gemacht haben. Auch die in deutschen Landen
        ansässigen Heil- und Pflegeanstalten erfahren in Geyers Buch
        eine ausführliche Würdigung. Dabei hat der Autor
        zahlreiche Quellen studiert und auch viele Tagebücher
        gesichtet und ausgewertet. Des Autors Leistung ist von daher also
        respektabel und zeugt von redlicher Bemühung, leider aber auch
        nicht mehr. Denn mit dem Aufschlagen dieses Buches begibt sich der
        Leser auf eine sprichwörtlich gewordene Durststrecke von etwas
        mehr als 300 und doch endlos scheinende Seiten, veredelt durch einen
        sprachmächtigen Autor, das muss man anerkennen. Aber man liest
        unter der ständigen Gefahr eines drohenden Sekundenschlafs.
        Mit der Nüchternheit des Historikers geht Dietrich Geyer die
        Sache an und daran krankt meines Erachtens sein Buch.
        
        Die eigentliche, ernst zu nehmende Psychiatrie beginnt mit dem
        preußischen Universitätsprofessor Johann Christian
        Reil (1759-1813) und mit ihm, seinem Leben und Wirken beginnt auch
        Dietrich Geyer seine Ausführungen. Es folgen dann weitere
        Kurzporträts von u. a. Autenrieth, Heinroth Alexander
        Haindorf, Friedrich Nasse und dem zum Mythos gewordenen Franzosen
        Philippe Pinel, der auch auf dem Schutzumschlag zu sehen ist, im
        Begriff, die Irren von ihren Ketten zu befreien. Ebenso werden die
        damals in Deutschland existierenden Heil- und Pflegeanstalten mehr oder
        weniger ausführlich vorgestellt: Neuruppin, Bayreuth, Berlin
        mit der Irrenabteilung der Charite, Waldheim und Sonnenstein in Sachsen
        sowie zahlreiche andere. Schnell verliert der Leser hier den
        Überblick angesichts der Fülle von Namen und Daten,
        zumal das alles in einer langatmigen Ausführlichkeit
        dargeboten wird. Der Leser wird überfüttert mit
        Details und Tagebucheintragungen, die wenig oder nichts mit dem Thema
        zu tun haben. Zum Beispiel: "Von Bingen ging es nachts halb
          elf Uhr nach Koblenz, wo Zeller, im Eilwagen
          rückwärts zwischen zwei dicken Herren sitzend, am
          frühen Morgen des 6. März halb zerquetscht ankam. Den
          Reisenden hat solche Anstrengung nicht gereut, denn abermals: welch
          herrliche Gegend, wie einzig die Blicke von der Mündung der
          Mosel in den Rhein, hinauf zur Bergfestung Ehrenbreitstein und
          hinüber zu der freundlichen hellen Stadt, wie erhaben die
          Aussicht von der Höhe auf die linken Rheinufer in die Berge
          hinein, aus denen der Fluss geheimnisvoll strömt; wie wahrhaft
          poetisch der Sonnenuntergang mit dem seltenen Wolkenspiel!"
        Von eher geringer Relevanz ist auch das, was
        Küchenmägde, Gärtner oder
        Torwächter damals an Gehalt ausgezahlt bekamen oder ob und
        wann die Kanzel in der Kapelle verschönert wurde oder wie
        viele Oberaufseher und Vize-Oberaufseher in einer Anstalt Dienst taten.
        Zitat: "An weiblichem Personal kamen zwei Oberaufseherinnen
          hinzu, denen 25 Wärterinnen unterstanden, außerdem
          eine Weißzeugbeschließerin mit zwei Gehilfinnen
          sowie eine Köchin mit drei Küchenmägden. Ein
          Metzger, zwei Bäcker, zwei Viehknechte und ein Heizer
          komplettierten den besoldeten Personalkörper der Illenau".
        
        Medizinisch oder philosophisch relevante Themen wie beispielsweise das
        Leib-Seele-Problem werden nur am Rande berührt. Etwas
        interessanter sind dann schon die Schlusskapitel, die einen kurzen
        Einblick in die Psychiatrie des zwanzigsten Jahrhunderts geben.
        Insgesamt aber war das Buch zumindest für mein Empfinden zu
        dröge und eintönig.
(Werner Fletcher; 02/2015)
Dietrich
          Geyer: "Trübsinn und Raserei.
          Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland"
        C.H. Beck, 2014. 352 Seiten.
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
      
        Digitalbuch
              bei amazon.de bestellen
Der
        Historiker Dietrich Geyer, geboren 1928, war bis zu seiner Emeritierung
        Ordinarius und Direktor des Instituts für
        Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der
        Universität Tübingen. Zahlreiche
        Veröffentlichungen zur osteuropäischen Geschichte.
        Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
        
        Weitere Buchtipps:
          
          Günter Feuerstein, Thomas Schramme (Hrsg.): "Ethik der Psyche.
          Normative Fragen im Umgang mit psychischer Abweichung"
        Nach wie vor sind wir weit entfernt davon, psychische
        Phänomene wirklich zu verstehen. Vielfach gerät bei
        der Behandlung der Patient als "ganzer Mensch" aus dem Blickfeld, und
        psychische Störungen werden auf hirnphysiologische
        Phänomene reduziert. In einer kritischen Zusammenschau
        verbinden die Beiträger des Bands erstmals theoretische,
        historische, klinische und ethische Fragen, die sich in der Psychiatrie
        und der
        Psychotherapie
        stellen. Hinterfragt werden die normativen Vorannahmen im Umgang mit
        psychischen Abweichungen mit dem Ziel, eine "Ethik der Psyche" zu
        entwickeln, die der Besonderheit der geistigen Erlebnisse der
        Betroffenen gerecht wird. (Campus)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
            
      Sophie
          Ledebur: "Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur
          Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien"
        Die im Jahr 1907 am Hang vor den Toren Wiens eröffnete Heil-
        und Pflegeanstalt Am Steinhof war die größte
        Institution ihrer Art in Europa. In ihrem ästhetisch und
        technisch bis dato unbekannten Anspruch verkörperte sie die
        Reformbewegung der "modernen Anstaltspsychiatrie". Die
        wissenshistorische Studie rekonstruiert die alltägliche Praxis
        und konzeptuelle Entwicklung dieser architektonisch verwirklichten
        Utopie. Das hier angewandte Verwaltungs-, Regulierungs- und vielfach
        implizite Handlungswissen zielte auf Objektivität,
        Gleichbehandlung und Transparenz. Jene Rationalität des
        Vorgehens machte es aber auch möglich, dass Fantasien einer
        flächendeckenden Überwachung
        und Versorgung der Bevölkerung in ausgesprochen
        autoritäre Konzepte der Fürsorge eines
        allgegenwärtigen Staates transformiert werden konnten.
        (Böhlau)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
            
      Hans-Peter
          Nolting: "Psychologie der Aggression. Ursachen und Auswege"
        Nimmt die Gewalt in unserer Gesellschaft zu? Hat aggressives Verhalten
        immer mit zwischenmenschlichen Konflikten zu tun? Kann man aggressive
        Gefühle durch "Rausschreien" kanalisieren? Wer Aggression und
        Gewalt verstehen möchte, muss sich von beliebten
        Vereinfachungen verabschieden. "Die" Aggression gibt es nicht: Ihre
        Erscheinungsformen reichen von Gewalt in der Ehe, Demütigungen
        per Internet und Kindesmisshandlungen bis hin zu Amokläufen
        und kriegerischen Auseinandersetzungen. Gemeinsam ist ihnen das
        zielgerichtete Schädigen. Doch die Motive, aus denen Menschen
        Andere attackieren, differieren, und situative Faktoren spielen
        ebenfalls eine Rolle: So kann eine aggressive Gruppe aus ziemlich
        unaggressiven Personen bestehen.
        Hans-Peter Nolting beschäftigt sich jedoch nicht nur mit den
        Auslösern und Motiven für Aggression, sondern
        darüber hinaus auch damit, wie sich gewalttätiges
        Verhalten eindämmen und, wichtiger noch, wie es sich
        verhindern lässt.
        Wissenschaftlich fundiert, mit eindrucksvollen Beispielen und in klarer
        Sprache geschrieben ist "Psychologie der Aggression" ein Buch
        für alle, die sich umfassend und zugleich differenziert
        über dieses Thema informieren möchten. (Rowohlt)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
Viktor
          Mazin: "Freuds Gespenster"
      Herausgegeben
        und mit einem Nachwort von Wladimir Velminski.
        Wie ein Detektiv geht Viktor Mazin mit einem
        Vergrößerungsglas den Spuren der Psychoanalyse nach.
        Dabei richtet er seinen Blick auf die Geschichte der Wissenschaft, um
        die eigene Gegenwart zu analysieren. Der Band versammelt drei
        bedeutende Texte des Gründers des "Museums der Träume
        Freuds" in St. Petersburg, in dem er Freuds Gespenster in Animationen
        und Filmen, in der Mathematik und in den Neurowissenschaften
        aufspürt. (Matthes & Seitz)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
Allen
          Frances: "Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen"
        Anno 1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein
        Jahr lang um einen nahen Angehörigen trauerte. 1994 empfahl
        man Psychiatern mindestens zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man
        Traurigkeit, Schlaflosigkeit,
        Konzentrationsstörungen und Apathie als
        behandlungsbedürftige Depression einstufte. Mit dem neuen
        Katalog psychischer Störungen "DSM 5" wird ab Mai 2013
        empfohlen, schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken zu
        läuten. Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie
        warnt deshalb der international renommierte Psychiater Allen Frances.
        Er zeigt auf, welche brisanten Konsequenzen die
        Veröffentlichung haben wird: Alltägliche und zum
        Leben gehörende Sorgen und Seelenzustände werden als
        behandlungsbedürftige, geistige Krankheiten kategorisiert. 
        Verständlich und kenntnisreich schildert Allen Frances, was
        diese Änderungen bedeuten, wie es zu der
        überhandnehmenden Pathologisierung allgemein-menschlicher
        Verhaltensweisen kommen konnte, welche Interessen dahinterstecken und
        welche Gegenmaßnahmen es gibt. Ein fundamentales Buch
        über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer
        Diagnosen sowie über die Grenzen der Psychiatrie - und ein
        eindrückliches Plädoyer für das Recht,
        normal zu sein. (DuMont Buchverlag)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen
Jack
          El-Hai: "Der Nazi und der Psychiater"
        Auf der Grundlage nie veröffentlichter Dokumente
        erzählt der us-amerikanische Wissenschaftsjournalist Jack
        El-Hai das verstörende, politische Psychodrama um die
        Begegnungen des Armeepsychiaters Douglas M. Kelley
        mit Hermann Göring, dem nach der Kapitulation
        ranghöchsten noch lebenden Nazi. Es ist die zum ersten Mal
        mitgeteilte Geschichte einer erschreckenden Verstrickung.
        1945, erst im luxemburgischen Mondorf-les-Bains, wo nach Kriegsende von
        der US-Armee ein Hotel zum Gefängnis für die
        Führungselite der Nazis umgebaut wurde, danach in
          Nürnberg, untersuchten us-amerikanische
        Militärpsychiater unter der Leitung von
        Douglas M. Kelley die physische und psychische
        Verfassung der Elite des Naziregimes. Unter den
        52 Nazi-Größen wie Dönitz, Hess,
        Keitel, Ribbentrop, Frank, Jodl, Speer oder Streicher war auch Hermann
        Göring, ehemaliger Chef der Luftwaffe, selbst ernannter
        "Reichsmarschall" und dominante Figur unter den Gefangenen. Der
        übergewichtig joviale Göring erschien mit einem
        Dutzend Koffern, Schmuck, seidener Unterwäsche,
        Zigarrenkisten, einem Vermögen an Geldmitteln - und
        versteckten Zyankali-Kapseln.
        Der ambitionierte Psychiater Douglas M. Kelley sah in
        seinen Sitzungen mit den Gefangenen die einzigartige Chance, das
          Böse im Menschen zu erforschen. Kelley baute eine
        enge Beziehung zu Göring auf, zwei ungewöhnliche
        Persönlichkeiten begannen einander zu schätzen.
        Kelleys bisher unbekannte Aufzeichnungen erzählen davon.
        Am Neujahrstag 1958, zwölf Jahre nach Göring, beging
        Douglas M. Kelley vor den Augen seiner Familie in
        Kalifornien Selbstmord -
mit
        einer Zyankali-Kapsel. (Die Andere Bibliothek)
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen