Elizabeth Kolbert: "Das sechste Sterben"
Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt
Leben und Sterben im Anthropozän
Wie man heutzutage weiß, sind Massenaussterbeereignisse auf
dem Planeten Erde
wahrlich nichts Neues. Es fanden immer wieder durch
Vulkanausbrüche, Kometeneinschläge,
Überflutungen, Klimaschwankungen etc. verursachte Katastrophen
- aus der Sicht des organischen Lebens - statt, so starben
beispielsweise am Ende der Kreidezeit die Dinosaurier
aus. Das durch den Menschen verursachte geballte Verschwinden vieler
Arten, das sich zumeist heimlich, still und leise vollzieht (man denke
nur an den Dodo!),
hat inzwischen ein beängstigendes Ausmaß erreicht,
das Elizabeth Kolbert als das
"sechste Sterben" bezeichnet. In ihrem Buch unternimmt sie
eine reichhaltige Bestandsaufnahme.
Es gab eine Zeit, da hielten die Menschen (zumindest in Europa) ihre
Umwelt für unverändert und unveränderlich
seit dem Anbeginn der Zeit und wären nicht auf den Gedanken
gekommen, Erdbewohner früherer Epochen könnten
ausgestorben sein. Man hätte es nicht für
möglich gehalten, dass eines Tages deren Überreste
entdeckt werden könnten, dass die Kontinente wandern, dass es
Eiszeiten gegeben hat, dass Gebirge und Meere kommen und gehen ...
"Die Wissenschaftsgeschichte des Artensterbens lässt
sich als Abfolge von Paradigmenwechseln darstellen. Bis zum Ende des
18. Jahrhunderts existierte das Artensterben nicht einmal als
Kategorie. Je seltsamer ausgegrabene Knochen waren - von Mammut,
Megatherium, Mosasaurus -, umso mehr mussten Naturforscher beide Augen
zudrücken, um sie in einen bekannten Rahmen zu
zwängen. Und genau das taten sie." (S. 100)
Als z.B. Charles
Darwin seine Evolutionstheorie präsentierte,
stieß er damit bei vielen Zeitgenossen auf Ablehnung, und
doch bewahrheiteten sich seine Theorien nach und nach zumindest
teilweise.
Man kann mitunter nicht umhin, angesichts dieser seinerzeit
herrschenden Unwissenheit oder sogar Tatsachenleugnung ein wenig zu
lächeln - doch ist Vorsicht geboten. Vor aktuellen
Vorgängen verschließt auch der
zeitgenössische Homo sapiens sapiens nur allzu gern die Augen
und verharrt vielleicht doch lieber in bequemer Ignoranz. Wobei die
Konsequenzen heutiger Ignoranz erheblich schlimmer sind als in
früheren Jahrhunderten.
Wie sieht es in der Gegenwart aus? Können wir uns wirklich
vorstellen, dass die Meere quasi leergefischt sind, dass der Mensch
einen ohnedies unvermeidlichen Klimawandel
wenigstens beschleunigt, dass weltumspannender Waren- und
Personenverkehr in noch nie dagewesenem Ausmaß auch Tiere und
Pflanzen an Orte transportiert, an die sie auf natürlichem Weg
niemals kommen könnten?
"Es mag zwar eine schöne Vorstellung sein, dass der
Mensch einst in Harmonie mit der Natur lebte, aber es ist keineswegs
erwiesen, dass es tatsächlich jemals so war." (S. 238)
Bereits in ihrem mitreißenden "Prolog" bringt die 1961
geborene, als Journalistin und Autorin bekannte, Elizabeth Kolbert klar
und deutlich zum Ausdruck, womit sie sich in diesem Buch
beschäftigt: "Noch nie zuvor hat eine Spezies so
stark in das Leben auf der Erde eingegriffen, und doch haben bereits
vergleichbare Ereignisse stattgefunden."
In jedem der anschließenden Abschnitte steht eine
Tierart im Mittelpunkt, "deren Schicksal in gewisser Weise
exemplarisch ist." Elizabeth Kolbert hat sich jeweils
für genaue Recherchen an aufschlussreiche Schauplätze
begeben und diese mit Experten begutachtet. Die begleitenden Fachleute,
übrigens offenbar allesamt faszinierende Originale, kommen
auch selbst zu Wort und veranschaulichen aus ihren Perspektiven,
für welche Tiere und Pflanzen es in naher Zukunft um Sein oder
Nichtsein gehen wird, oder welche Gattungen aus heutiger Sicht bereits
dem Aussterben preisgegeben sind. Nicht selten ist seit einiger Zeit
das Verschwinden von Lebewesen vom Antlitz der Erde dem Menschen
anzulasten, der sich rücksichts- und gedankenlos
gleichermaßen die Erde Untertan macht, denn "(es)
besteht zwischen der Fragmentierung von Lebensräumen und der
Erderwärmung ebenso eine finstere Synergie wie zwischen
Erderwärmung und Versauerung der Meere, zwischen
Erderwärmung und invasiven Arten und zwischen invasiven Arten
und Fragmentierung" (S. 192)
Obwohl die Titel der einzelnen Kapitel nicht schwarzseherisch klingen,
wird der schädliche Einfluss des Menschen auf die Lebenswelten
vieler Geschöpfe (somit letztendlich seine eigene!) keineswegs
beschönigt, wobei Elizabeth Kolbert einfach "nur" Tatsachen
erläutert und Erfahrungen beschreibt, Ursachen und Wirkungen
analysiert.
Kurzweilig und - bei allem gebotenen Ernst - unterhaltsam berichtet die
Autorin über ihre Recherchen und Aufenthalte in
unterschiedlichen Weltgegenden und dokumentiert auf Grundlage ihrer
unbeirrbaren journalistischen Beobachtungsgabe und Aufmerksamkeit die
bestürzenden Entwicklungen in Flora und Fauna in
Naturreportagen (mit einigen Schwarzweißfotos und Statistiken
bebildert) ganz besonderer Art, die auch in der schwungvollen
Übersetzung von Ulrike Bischoff hervorragend zur Geltung
kommen. Überdies stellt sie naturwissenschaftliche Studien und
Projekte vor und zitiert aus aktuellen Fachartikeln.
Die Autorin überlässt allfällige
Schlussfolgerungen tendenziell dem Leser, in erster Linie sprechen die
in bester journalistischer Manier allgemein verständlich
aufbereiteten, interpretierten und erläuterten Fakten
für sich.
Im Anschluss an den
Prolog wird in "Das sechste große Artensterben.
Atelopus zeteki" das Schicksal der Amphibien im Allgemeinen und der
Stummelfußfrösche im Besonderen vor allem in
Zentralpanama geschildert, denen der eingeschleppte Chytridpilz zum
Verhängnis wurde und wird, sodass ein von Menschenhand
angelegtes Biotop inzwischen den einzigen Rückzugsort
darstellt. Die Erfolgsaussichten des Projekts scheinen jedoch ungewiss.
In "Die Mastodontenzähne. Mammut americanum"
erläutert Elizabeth Kolbert die Auswirkungen, welche die
Entdeckung von Zähnen und Knochen u.A. des Mastodons auf die
damalige Wissenschaftswelt zeitigte und stellt bedeutende Naturforscher
jener Epoche vor, beispielsweise Jean Léopold Nicolas
Frédéric Cuvier, dessen Theorien seine
Zeitgenossen bisweilen in helle Aufregung versetzten.
Der Abschnitt "Der ursprüngliche Pinguin. Pinguinus impennis"
berichtet unter Einbeziehung z.B. des Wirkens Charles Darwins sowie des
englischen Geologen Charles Lyell vorrangig vom Riesenalk, dessen
wohlschmeckende Nahrhaftigkeit der gierigen Menschheit nicht lange
verborgen geblieben war, sodass die Vogelart im Jahr 1844 von der
Bildfläche verschwand.
In "Das Glück der Ammoniten" befasst sich die deshalb
zunächst in die italienische Stadt Gubbio gereiste Autorin mit
vom Geologen
Walter Alvarez erforschten Gesteinsschichten und Einschlüssen,
die auf einen Asteroideneinschlag hindeuteten, mit Plattentektonik und
Foraminiferen. Danach begibt sie sich auf der Suche nach fossilen
Ammoniten nach New Jersey.
"Willkommen im Anthropozän" heißt es ab Seite 99.
Elizabeth Kolbert sammelt Fossilien von Graptolithen (im Ordovizium
lebenden Meeresorganismen) im schottischen Dob's Linn,
erörtert mit Experten Erdzeitalter, Massenaussterbeszenarien,
Ökosysteme, Folgen der menschlichen Rastlosigkeit und die
Überlebensfähigkeit von Ratten. Übrigens hat
den Begriff "Anthropozän" der niederländische
Meteorologe Paul Crutzen geprägt.
Vor
Neapel unternimmt Elizabeth Kolbert Tauchgänge und
thematisiert die Versauerung der Meere im Kapitel "Das Meer um uns
herum. Patella caerulea".
Um dem Thema "Der Säuretropf. Acropora millepora" auf den
Grund zu gehen, hält sich die Autorin in einer
Forschungsstation auf One Tree Island an der Südspitze des
Großen Barriereriffs vor Australien auf, sinniert über
Kapitän James Cook, der das Riff im Jahr 1770 als
erster Europäer sah, und nimmt an Tauchgängen teil.
Forschungsparzellen im peruanischen Nationalpark Manú
lieferten die Grundlagen für das Kapitel "Wald und
Bäume". In langjährigen Projekten werden u.A. die
Auswirkungen des Klimawandels auf Artenvielfalt (Bäume und
Vögel) und Verbreitungsgebiete untersucht.
"Inseln auf trockenem Land" führt in ein brasilianisches
Naturschutzgebiet, wo die Biodynamik von Waldfragmenten untersucht wird.
Unter dem Titel "Das neue Pangaea" befasst sich Elizabeth Kolbert,
ausgehend von einem zunächst rätselhaften
Fledermaussterben in den USA, abermals mit den verheerenden
Auswirkungen der menschlichen Welthandels- und
Fernreisegelüste, die entscheidend zur rasanten weltweiten
Verbreitung von eingeschleppten Organismen und Krankheitserregern
beitragen. Auch im Fall des Fledermaussterbens wurde ein "importierter"
Pilz als Ursache erkannt.
Auf den Seiten 221 bis 238, "Ultraschalluntersuchung bei
einem Nashorn. Dicerorhinus sumatrensis", stehen Zuchtprogramme zur
Arterhaltung u.A. im Zoo von Cincinnati sowie das Aussterben der
Megafauna (z.B. Riesenlemuren, Elefantenvögel, Moas, Mammuts,
...) im Blickpunkt.
"Das Wahnsinnsgen. Homo
neanderthalensis":
Die Autorin berichtet über ihre Erkenntnisse während
des Besuchs des bei Düsseldorf gelegenen Neanderthal-Museums,
erörtert heute für wahrscheinlich gehaltene
Gründe für das vor etwa dreißigtausend
Jahren stattgefundene Verschwinden des Neandertalers und informiert
z.B. auch über ihre Nachforschungen im Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo
Erbgutuntersuchungen sowie Experimente bezüglich
Tierintelligenz vorgenommen werden. Überdies fährt
sie zu einer Ausgrabungsstätte in der Dordogne.
Kapitel Nummer 13, "Das Ding mit Federn. Homo sapiens", stellt auf den
Seiten 261 bis 271 zunächst Projekte vor, bei denen
tiefgefrorene Zelllinien bedrohter bzw. ausgestorbener Spezies gelagert
werden und bietet zuguterletzt abschließende Bemerkungen zum
Buchthema, die ein wenig Hoffnung und Optimismus zum Ausdruck bringen.
Anmerkungen, Danksagung, Bibliografie, Bildnachweise und ein Register
komplettieren das bei aller Unterhaltsamkeit aufrüttelnde
Buch, das der Menschheit ein überwiegend beschämendes
Zeugnis hinsichtlich des Umgangs mit Lebensraum und Lebewesen ausstellt
und den Leser auch mit durchaus unangenehmen Wahrheiten konfrontiert.
Elizabeth Kolbert hat ein absolut überzeugendes Sachbuch
vorgelegt, das beim Leser Interesse, jedoch auch Ernüchterung
und Betroffenheit auslöst und Diskussionsstoff in
Hülle und Fülle liefert.
(Felix; 04/2015)
Elizabeth Kolbert: "Das sechste Sterben.
Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt"
(Originaltitel "The Sixth Extinction. An Unnatural History")
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff.
Suhrkamp, 2015. 312 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.
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Elizabeth
Kolbert schrieb unter Anderem für die "New York
Times", seit 1999 arbeitet sie für das angesehene
Magazin "The New Yorker".
Im Jahr 2015 wurde sie für "Das sechste Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte
schreibt" mit dem "Pulitzer-Preis" in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet.
Weitere Buchtipps:
Jürgen Goldstein: "Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte"
"Die Entdeckung der Natur" ist eine Erfahrungsgeschichte, deren
Anfänge ins 14. Jahrhundert zurückreichen. Ein
lebendiges Panorama ihrer Schauplätze und Protagonisten
entwirft Jürgen Goldstein in sechzehn Kapiteln: von Petrarcas
Mont-Ventoux-Erlebnis über Georg Forsters Tahiti-Reise und Georg
Christoph Lichtenbergs Überfahrt nach Helgoland bis
hin zu Reinhold Messners Besteigung des Mount Everest. Anhand von acht
Bergbesteigungen und acht Horizontüberschreitungen durch
Seefahrten zeichnet er einen Entwicklungsbogen nach, der von der
zaghaft einsetzenden Lust am Schauen über die
spektakulären Naturerkundungen bis zur heutigen
Anschauungsmüdigkeit reicht.
Aus den historischen Erfahrungsberichten spinnt Jürgen
Goldstein eine dichte, fast literarische Erzählung der sich
wandelnden Wahrnehmung der Natur, die diese Entdeckungserlebnisse zu
unmittelbarem Leben erweckt. Indem er jene oft brillanten
Schriftsteller wie Goethe
und Darwin oder Claude Lévi-Strauss und Peter
Handke selbst zu Wort kommen lässt, gelingt es ihm,
die Erzählung als Wissensform zu rehabilitieren und die Leser
an der Unmittelbarkeit ihrer Eindrücke teilhaben zu lassen.
Was die Reisetagebücher, Briefe, Notizen und
Erzählungen der Anschauungsnomaden verbindet, ist die Liebe
zur Welt. (Matthes & Seitz)
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Daniel E. Lieberman: "Unser Körper. Geschichte,
Gegenwart, Zukunft"
Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit: Einerseits sind wir
so gesund und wohlgenährt wie nie zuvor, andererseits leiden
wir unter einer Flut von vermeidbaren chronischen Erkrankungen wie
Diabetes, Herzerkrankungen, Rückenleiden und vielen mehr. Der
Schlüssel zu einer besseren und vor allem gesünderen
Zukunft liegt, so der führende Evolutionsbiologe und
Harvard-Professor Daniel E. Lieberman, in der Vergangenheit.
In diesem einzigartigen Buch stellt er erstmals dar, wie unsere
Geschichte und unsere Lebensbedingungen unseren Körper
geprägt haben und bis heute bestimmen. Lieberman zeigt
unterhaltsam und konkret, wie wir aus der Vergangenheit lernen, um
unser zukünftiges Befinden beeinflussen zu können.
Denn die Evolution geht weiter. (S. Fischer)
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Josef H. Reichholf:
"Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie"
Vögel, die sich in Wasserfälle stürzen, Ameisen, die unterirdische Pilzgärten
anlegen, Jaguare, die ursprünglich in Italien und auf dem Balkan lebten, bevor
sie nach Nord- und Südamerika wanderten. Kaum jemand hat so viele Tiere
beobachtet - seltene und weitverbreitete - wie der große Naturforscher und
bekannte Autor Josef H. Reichholf. Basierend auf der Vielfalt seiner Erfahrungen
und Forschungen entwickelte er seine viel diskutierten Thesen zur Ökologie,
Evolution und zum Naturschutz. Nach einem halben Jahrhundert blickt er zurück
und zieht Bilanz: In der Natur gibt es keinen besten oder einzig richtigen
Zustand, Stabilität bedeutet Stillstand und führt zum Niedergang. Leben ist
steter Wandel, nichts bleibt so, wie es ist. (S. Fischer)
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Andreas Wagner: "Arrival of the fittest. Wie das Neue
in die Welt kommt. Über das größte Rätsel der Evolution"
Bislang blieb ein Rätsel der Evolutionstheorie ungelöst: Ist wirklich nur
zufällige Mutation die Ursache von Flügeln, Facettenaugen, Fotosynthese und dem
ganzen Reichtum der Arten? Jetzt wissen wir: nein! Der renommierte
Evolutionsbiologe Andreas Wagner hat Gesetze entdeckt, die es der Natur
gestatten, neue Moleküle und Mechanismen herauszubilden, die eine schnelle
Anpassung der Arten ermöglichen: Wie der Kabeljau, der im Eiswasser dank eines
Proteins überlebt, das den Gefrierpunkt seiner Körperflüssigkeit herabsetzt.
Sorgfältig argumentiert und mit vielen Beispielen veranschaulicht, präsentiert
Andreas Wagner den letzten Baustein der Darwinschen Theorie - er zeigt, wie das
Neue in die Welt kommt. (S. Fischer)
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