Patrick Modiano: "Gräser der Nacht"


Der vorliegende Roman von Patrick Modiano ist das erste von ihm auf Deutsch veröffentlichte Buch seit der Verleihung des Literaturnobelpreises. Entsprechend beworben, waren die Erwartungen, sicher nicht nur des Rezensenten, an dieses Buch groß.

Doch schon zu Beginn der Lektüre dieses Liebesromans vor dem historischen Hintergrund der bis heute wenig verarbeiteten französischen Kolonialpolitik in Nordafrika, stellt sich Verwunderung ein. Als hätte er mittlerweile eine andere Auffassung vom Schreiben, experimentiert Modiano mit seinem Stoff und mutet zunächst dem Leser auch sprachlich einiges zu.

Der Ich-Erzähler Jean erinnert sich aus dem zeitlichen Abstand eines halben Jahrhunderts und seines ganzen Lebens daran, wie und unter welchen Umständen er Mitte der 1960er-Jahre die rätselhafte und bezaubernde Dannie kennengelernt hat.
Sie bewegt sich in konspirativen Kreisen, und durch das Nachwort der Übersetzerin Elisabeth Edl schon sensibilisiert, ahnt der aufmerksame Leser, dass all diese Männer, denen Jean da begegnet, etwas mit den marokkanischen Exilpolitikern und ihrem Widerstand zu tun haben, der am 29. Oktober 1965 in der Entführung und Ermordung von Ben Barka gipfelte. Ein Mord, in den französische Polizei- und Geheimdienstkräfte verwickelt waren und dessen Umstände bis heue nicht geklärt sind. Regierungen von rechts bis links haben sich einer Aufklärung bisher verweigert.

Jean und Dannie kommen einander näher, und er schreckt auch nicht zurück, als sie ihn  fragt, was er tun würde, wenn sich herausstellen würde, dass sie jemanden umgebracht hat:
"'Was ich sagen würde? Nichts', erwiderte er und war sich sicher, dass er auch heute, Jahrzehnte später, dieselbe Antwort geben würde. 'Denn haben wir das Recht, über die zu urteilen, die wir lieben?', überlegte er jetzt wie damals."
Doch als Dannie, mittlerweile von der Polizei gesucht, plötzlich spurlos verschwindet, sind Jeans Hoffnungen dahin.

Jean erinnert sich nun am Ende seines Lebens mit Hilfe seines damaligen schwarzen Notizbuchs nicht nur an die Namen sondern auch an die Orte, die er nun in der Gegenwart wieder aufsucht, in der Hoffnung, weitere Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu lösen. Er schreibt unchronologisch für sich selbst und die Nachwelt auf, woran er sich erinnert. Er zieht seine Kreise um die Schauplätze von damals, die heute anders genutzt werden, und immer wieder dreht  es sich um den zuletzt pensionierten Kommissar Langlais, den Hüter seines Lebensgeheimnisses.

Im Klappentext wird das Buch mit einem Film noir verglichen. Vielleicht ist es das, was diesen Roman Modianos so fremd und geheimnisvoll macht. Die Auseinandersetzung mit den Explosionen des 20. Jahrhunderts ist Modianos Thema. Dieses Mal ist es nicht der Holocaust, sondern es werden die französische Politik in den 1960er-Jahren und die Affäre um Ben Barka thematisiert.

(Winfried Stanzick; 01/2015)


Patrick Modiano: "Gräser der Nacht"
(Originaltitel "L'herbe des nuits")
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Hanser, 2014. 176 Seiten.
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