Christine Lavant: "Das Kind"
Erzählung
In
ihrer Ende 1945 / Anfang 1946 entstandenen Erzählung "Das
Kind" verarbeitete Christine Lavant komprimierte
Kindheitseindrücke, nicht nur von Spitalsaufenthalten.
Christine Lavant, (ihren, wie sie meinte, "Decknamen"
entlieh sie übrigens dem gleichnamigen 64 Kilometer langen
nördlichen Nebenfluss der Drau), wurde am 4. Juli 1915 als
jüngstes von neun Kindern in Groß-Edling geboren.
Ihr Vater Georg Thonhauser war Bergmann, ihre Mutter hielt die Familie
zusätzlich mit Handarbeiten finanziell so recht und schlecht
über Wasser. Auch Christine Lavant musste übrigens
viele Jahre später sich und ihren mittellosen, wesentlich
älteren Mann als "Dorfstrickerin"
durchbringen.
Sie war ein zartes, kränkliches Kind, das an Skrofulose und
wiederholt an Lungenentzündung litt, beinahe erblindete und
auch mit überdosierten Röntgenstrahlen therapiert
wurde. Aufgrund ihrer so früh beginnenden tragischen
Leidensgeschichte musste sie schon früh Bekanntschaft mit
Ärzten und Spitälern schließen.
Derlei existenziell verstörende Erfahrungen und
Eindrücke trägt ein Mensch sein Leben lang mit sich,
und einige wenige Betroffene vollbringen im Erwachsenenalter das
Kunststück, aus ihrer individuellen Krankheitsgeschichte
(freilich nicht nur!) tiefschürfende Literatur erstehen zu
lassen. In neuerer Zeit wäre als Beispiel hierfür der
überragende rumänische Autor
Mircea
Cărtărescu anzuführen, welcher seiner
"konservierten" kraftvollen kindlichen Fantasie mit sprachlich
ausgereifter Brillanz zu sensationellen literarischen
Höhenflügen verhilft. Am Rande bemerkt: Auch
Cărtărescus Mutter hat mit Handarbeiten das karge Familieneinkommen
aufgebessert.
Leider besserte sich Christine Lavants Zustand auch als Erwachsene
nicht dauerhaft, was zu Depressionen führte. Die
anlässlich ihres einhundertsten Geburtstags mit dem
gegenständlich besprochenen Büchlein
gewürdigte Autorin starb im Alter von nur 58 Jahren nach einem
Schlaganfall.
Bemerkenswert, dass sie, die aus einfachsten Verhältnissen
stammte und ihr Leben lang kränklich war, über wenig
Schulbildung verfügte, erst spät zur Lektüre
fand und Rilkes
Gedichte schätzte, allen Schicksalswidrigkeiten zum
Trotz beeindruckend kraftvolle Gedichte und Erzählungen zu
schaffen in der Lage war, deren sprachliche Besonderheiten einen hohen
Wiedererkennungswert bedingen und u. A. den ebenfalls nicht mit
robuster Gesundheit gesegneten Schriftsteller Thomas
Bernhard zu beeindrucken vermochten.
Und aus all dem Leid ragen Christine Lavants Texte wie Kristallgipfel,
die eine sensible, keineswegs jedoch hilflose Seele erschaffen hat, aus
einem Nebelmeer; in den Werken der Dichterin meldet sich ein geradezu
aufmüpfig-kämpferisches poetisches Ich zu Wort, das
es mit den Mächten nicht nur des Irdischen aufzunehmen bereit
ist. Ihr herausragendes lyrisches Schaffen brachte Christine Lavant
denn auch zwei Mal den "Georg Trakl-Preis" (1954 und 1964) ein.
Der Wallstein-Verlag besorgte dankenswerterweise die Neuauflage des
seit Jahren vergriffenen autobiografischen Texts "Das Kind", basierend
auf der Originalhandschrift der Autorin ("neu durchgesehen und
nur bei offensichtlichen Verschreibern und Fehlern korrigiert",
so der Verlag). Doch wirken derlei freihändige Eingriffe in
den ursprünglichen Text nicht immer gelungen, vor allem fragt
man sich, weshalb überhaupt Veränderungen vorgenommen
wurden oder eigentlich erlaubt schienen, denn jeder Schriftsteller
beabsichtigt etwas mit den von ihm gewählten
Ausdrücken, Formulierungen und Satzzeichen, und jede
Abweichung vom Original - wenn auch in gutem Glauben -
trübt den Blick auf die authentische Wahrnehmung. Anmerkungen
in Form von Fußnoten hätten eventuell eine
elegantere Herangehensweise an den Text dargestellt, denn wer
blättert schon jedes Mal zum Kapitel "Zur Edition", um z.B.
einer Wortfolge auf den Grund zu gehen ...
"Das Schlimmste vom Tage ist immer die
Frühe. Was der Abend leise beruhigt und die Nacht vielleicht
ganz fortgenommen oder mit der ihr verliehenen Traumgewalt verwandelt
hat, stellt die Frühe wieder groß aufgebracht und
gestärkt her, dass ja nicht ein Tag verginge, ohne seinen Teil
an Überwindung zu fordern." (S. 43)
Mit kindlichem Blick, dem es freilich keineswegs an Ernsthaftigkeit
mangelt, werden in regionaler Färbung (z.B. "... und
die Mutter weiß immer nicht, wie die Stube bezahlen und die
Milch", S. 30) und bisweilen überraschend
eigenwilliger Sprache typische Sanatoriumssituationen und
Klinikmenschen beschrieben: Das quälende Heimweh, die
Tränen, die erschütternde Sprachlosigkeit in der
fremden Umgebung, die langen, kalten Gänge, die ganz normalen
Gemeinheiten anderer Kinder (Liselotte und der Wasserkopf-Bub!), die
fürsorglichen Krankenschwestern, der verehrte "Primariusdoktor",
dem das Kind beinahe übersinnliche Fähigkeiten
zuschreibt, und nicht zuletzt die schmerzhaften therapeutischen
Behandlungen des kurzsichtigen Kindes, das besonders zart und klein
ist, daher in einem viel zu langen und weiten Kittel steckt, weswegen
es den Spitznamen "Großmutter"
erhält, und zudem über und über von
Verbänden bedeckt ist, weil es unter stigmatisierenden offenen
Wunden leidet.
Aus der speziellen Perspektive eines krankheitsbedingt
"andersgearteten" Kindes, das von ebenso armen wie katholischen
Verhältnissen geprägt ist, wird ein aus dem Fenster
hängender Teppich zu einem Teppich, der "vom Himmel
kommt", voller Zeichen und Geheimnisse, das Kinderspiel des
Skizzierens der jeweiligen Wohnverhältnisse zur magischen
Beschwörung, und in wundergläubigem, kindlichem Eifer
werden Gebete und Wünsche zum "Tauschhandel" mit dem lieben
Gott, das Kind "droht" gar damit, ins Wasser zu gehen, wie
überhaupt von Erwachsenen Aufgeschnapptes stets eine spezielle
Bedeutung aufweist. Die Sehnsucht nach langen Zöpfen, einer
heilen Haut und mehr Stärke lässt den innigen Ruf
nach einem besonders starken Schutzengel ertönen und gipfelt
in einem bewegenden Traumerleben.
Das Kind denkt häufig auffallend selbstlos und bewegt sich in
einer von Märchen und sich mit diesen schöpferisch
verbindenden religiösen Vorstellungen geprägten Welt,
die voller Ängste und Sorgen, voller Engel, Feen, Zauber,
Wunder und auch Sünden steckt, wo sich hinter jeder
Tür Himmel oder Hölle auftun kann. Ja, auch einen
sogenannten "Teufel" gibt es im Sanatorium, wo das Kind bleiben muss,
bis es - endlich - von der Mutter und einer älteren Schwester
abgeholt wird.
Aller beengenden Armut und Not zum Trotz verfügt das daheim in
einer Großfamilie geborgene Kind in hohem Maß
über Stolz und Würde sowie über einen
erstaunlich ausgeprägten Willen und ganz besondere Einsichten.
Die Seiten 48 und 49 werden von einem Glossar eingenommen, das wohl
primär Nichtösterreichern Hilfestellung leisten soll,
z. B. wird "Hascherl" erläutert.
Klaus Amanns ausführliches Nachwort füllt die Seiten
51 bis 83 und bietet die Abschnitte "Kontexte", "Entstehung und
Überlieferung" sowie Anmerkungen "Zur Edition".
Mit den Angaben zu "Quellen und Literatur" (S. 84 bis 86) wird der
reichhaltige, sorgfältig verfasste Band komplettiert, sodass
keine Fragen zum Text offen bleiben.
Gesamteindruck:
Eine engagierte eingehende Würdigung einer
außergewöhnlichen Schriftstellerin.
(kre; 04/2015)
Christine
Lavant: "Das Kind"
Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann.
Wallstein, 2015. 86 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Klaus Amann, Fabjan Hafner, Doris Moser (Hrsg.): "Drehe die Herzspindel
weiter für mich. Christine Lavant zum 100."
Das Werk der Christine Lavant wurde, obwohl sie lange als
Außenseiterin galt, mit den höchsten literarischen
Preisen bedacht. Dass der nicht gerade für Respekt vor
Kollegen bekannte Thomas Bernhard eine Gedichtauswahl besorgte, erregte
Aufmerksamkeit. Die Dichterin hat nichts von ihrer Anziehungskraft
eingebüßt, ihre Erzählung "Das
Wechselbälgchen" etwa (2012 neu bei Wallstein
veröffentlicht) erreichte in kurzer Zeit vier Auflagen.
Immer sagt es viel über den Rang von Literatur, wenn
Autorinnen und Autoren nachfolgender Generationen sich anhaltend und
nachdrücklich auf sie beziehen. Bei Lavant ist das in
bemerkenswerter Weise der Fall. Der Band zum 100. präsentiert
Originalbeiträge von Andreas Altmann, Konstantin Ames,
Christoph
W. Bauer, Ann Cotten, Dorothea Grünzweig, Maja
Haderlap, Peter Hamm, Kerstin Hensel, Gabriele Kögl, Michael
Krüger,
Sibylle
Lewitscharoff,
Friederike
Mayröcker, Julian Roman Pölsler, Steffen
Popp, Teresa Präauer, Ilma Rakusa, Arne Rautenberg, Monika
Rinck,
Hansjörg
Schertenleib,
Evelyn
Schlag, Ferdinand Schmatz, Kathrin Schmidt, Silke Andrea
Schuemmer, Ulf Stolterfoth,
Marlene Streeruwitz, Raphael Urweider und Uljana Wolf.
(Wallstein)
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