Radek Knapp: "Der Gipfeldieb"


Polen in Wien ist das durchgängige Thema von Radek Knapps bisherigem Lebenswerk. Dabei kann man wahlweise zwei Artikel an den Beginn dieses Satzes stellen: "die Polen" oder "das (Land) Polen", aus deren und dessen augenzwinkernder Perspektive der gebürtige Pole mit Wohnsitz Wien seine skurrilen Geschichten in deutscher Sprache erzählt.

Ludwik Wiewurka wuchs wie der Autor selbst bei den Großeltern in Polen auf und zog als Zwölfjähriger zur Mutter nach Wien. (Ob sich über den Besuch einer Handelsakademie hinaus noch weitere autobiografisch motivierte Parallelen auftun, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten.) Nach allerlei Gelegenheitsarbeiten wird der Mittdreißiger schließlich Heizungszählerableser in Gemeindewohnungen. Damit öffnen ihm und öffnen sich ihm ganze Straßenzüge an Wienern und deren oft außergewöhnliche Haustiere. Seine Mutter, die Ludwik regelmäßig zum Palatschinkenessen besucht oder eher besuchen muss, hat aber für seine Zukunft noch mehr geplant. Ohne sein Wissen hat sie für ihn um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht. Mit seinem Wissen versucht sie, ihn mit jungen Polinnen zu verkuppeln. Im Liebes- und in unweigerlicher Folge daher auch im Eheleben soll er Pole bleiben, amtlich aber Österreicher werden. Allein diese Konstellation gäbe schon Anlass genug für verquere Szenen und heitere bis bittere Anekdoten, die vor allem durch hohe Authentizität erheitern. Doch es kommt noch kurioser:

Denn gemeinhin wird als Held angesehen, wer in krisenhaften Situationen aktiv etwas Besonderes tut. Die Literaturwissenschaft hält dem den Begriff des Antihelden entgegen für jemanden, der sich dem Tun verweigert. Radek Knapps Held - oder sagen wir für den Moment lieber: zentrale Gestalt - ist vor allem durch ein unerschütterliches Sein bemerkens- und erzählenswert.

Sein polnisch-wienerisches Wesen und sein melancholisches, abwartendes und oft auch subtil hintergründiges Verhalten bringen die Menschen zum Reden, seien es Beamte, Vorgesetzte, Krankenschwestern oder Seniorinnen. Dem Ansuchen um die österreichische Staatsbürgerschaft war nämlich lange Jahre nicht entsprochen worden - erst kurz vor Ende der militärischen Dienstpflicht wird der Österreicher Ludwik zur Stellungskommission beordert. Als Soldat, somit zum Heldentum prädestiniert, wäre er wohl nicht auszuhalten, doch als Zivildiener im Seniorenheim löst sich seine eigene Angst vor dem Älterwerden.

Der polnische Wiener Radek Knapp kennt Wien mit allen Klischees und Feinheiten besser als so mancher Wiener. "Die Wiener sind erstklassige Schauspieler, und man weiß nie so recht, was in ihnen vorgeht", räsoniert Ludwik, als ihm auf dem Weg zur Verleihung der Staatsbürgerschaft im Rathaus eine Ratte, ein Bettler und eine feine Dame über den Weg laufen.

Das Buch - in gewisser Weise eine Fortsetzung des Erfolgsromans "Herrn Kukas Empfehlungen" - vermittelt die Vorteile der Vogelperspektive in der Betrachtung des Alltags. Daher muss es oft ins Irreale und Surreale abheben, um von dort mit noch größerer Wucht auf den Boden der österreichischen Realität zu fallen. Das Sprungtuch für den interkulturellen Aufprall sind die Heiterkeit in Radek Knapps Erzählstil, die Offenheit der Geschichte und das Vermeiden jeglicher endgültiger Aussage über die jeweils Anderen.

(Wolfgang Moser; 10/2015)


Radek Knapp: "Der Gipfeldieb"
Piper, 2015. 208 Seiten.
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Radek Knapp, am 3. August 1964 in Warschau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und in der Nähe von Warschau. Sein hintergründiger Roman "Herrn Kukas Empfehlungen" gehört zu den erfolgreichsten Titeln der Verlagsgeschichte.

Weitere Bücher des Autors und Buchtipps:

"Reise nach Kalino"

Julius Werkazy, gekleidet in billige Schnürlsamthosen und braunes Jackett, ist ein Detektiv alten Schlages. Es gibt wahrlich renommiertere Agenturen als seine - dennoch lädt der rätselhafte Gründer von Kalino ausgerechnet ihn ein, um den schwierigsten Fall der Landesgeschichte zu lösen. Während Werkazy unerwartet über sich hinauswächst, beginnt er zu begreifen, dass die Wahl nicht zufällig auf ihn gefallen ist ... (Piper)
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"Herrn Kukas Empfehlungen"
Ein Reisebus wie ein umgestürzter Kühlschrank, voll mit Wodka und Krakauer Würsten - und mittendrin Waldemar, der sich auf Empfehlung seines Nachbarn Herrn Kuka auf den Weg nach Wien gemacht hat. Was den angehenden Frauenhelden im goldenen Westen erwartet, erzählt der "Aspekte"-Literaturpreisträger Radek Knapp in seinem Romandebüt so vergnüglich, dass man das Buch nicht aus der Hand legt, ehe man das letzte Abenteuer mit Waldemar bestanden hat. (Piper)
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Marlen Schachinger, Johannes Milchram, Rebecca Söregi (Hrsg.): "übergrenzen"
... führt im hohen Bogen des "über" zu den oft realen - manchmal auch fantastischen, oft surrealen - Grenzen, die unseren Alltag bestimmen: Wir sind Mann oder Frau, jung oder alt, von hier oder von dort - doch was wäre, wenn wir alles sein könnten, wenn es nur an uns läge, diese Denkgrenze zu überschreiten? Wenn die Realität nicht real wäre? Was geschähe, wäre die Sprachgrenze keine Weltgrenze? Wir "entgrenzen" und "begrenzen" doch so gerne, da wird "ausgegrenzt", was stets auch "eingrenzen" bedeutet, wir sind zeitlebens damit beschäftigt, irgendwo irgendwelche Grenzen zu ziehen - was aber, wäre dies von allumfassender Unsinnigkeit und läge in der Grenzenlosigkeit gerade die Freiheit? Ist solches überhaupt denkbar, heutzutage? 
In dieser Anthologie sind künstlerische Arbeiten etablierter Literaturschaffender wie u. A.: Corinna Antelmann, Jaroslav Balvín, Jürgen Bauer, Zdenka Becker, Karl-Markus Gauß, Josef Haslinger, Silke Hassler, Markus Jaroschka, Radek Knapp, Marlen Schachinger, Michael Stavarič, Linda Stift, Ilija Trojanow, Anton Thuswaldner, sowie Werke einer neuen Generation von Autoren versammelt, welche Genre- und Gattungsbegriffe entgrenzen, die Grenzen als geografisch-reales Phänomen, als Wirtschaftsfaktor, als Lebenserfahrung abbilden und (nicht) hinnehmen wollen. (Septime)
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Noch ein Buchtipp:

Alfred Goubran: "Das letzte Journal"

Wien, Herbst 2009. Jeden Vormittag, über zwei Monate lang, begibt sich Aumeier auf das Anwesen seiner Jugendliebe Therese, um dort in einem Treibhaus, inmitten eines künstlichen Orchideenwaldes, an seinem "letzten Journal" zu schreiben.
Seine einzige Lektüre in dieser Zeit ist eine Biografie über den Prediger, Reformator und Ketzer Jan Hus, der im Jahre 1414 zum Konstanzer Konzil reiste und dort, obwohl ihm der deutsche König Sigismund freies Geleit zugesichert hatte, am Scheiterhaufen verbrannt wurde, was in der Folge die Hussitenkriege auslöste. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte des böhmischen Häretikers gestaltet sich für Aumeier in zweierlei Hinsicht als äußerst ergiebig: Zum Einen im vergleichenden Blick auf die Gegenwart, als Zeitdiagnose - Fragen des Widerstandes, die Haltung des Einzelnen, Glaube und Herrschaft -, zum Anderen im Erinnern an die eigene Biografie, sodass es am Ende zwei Lebensgeschichten sind, die in "Das letzte Journal" erzählt werden. Und es spricht vom Glück der späten Liebe, das diese Erzählung ermöglicht hat.
"Das letzte Journal" ist ein in sich abgeschlossenes Buch. Es verweist jedoch auch auf Goubrans bisher erschienene Romane, indem es ein neues Licht auf die fragwürdigen Umstände von Aumeiers Tod wirft ("AUS.") und seine Beziehungen zum "Schwarzen Schloss" aufzeigt ("Durch die Zeit in meinem Zimmer"). (Braumüller Literaturverlag)
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Leseprobe:

2

Mein Großvater war Schuhmacher gewesen und hatte auf zwei Dinge geschworen: das Schicksal und einen guten Schuhleim. Er glaubte felsenfest daran, dass sich das Schicksal durch ein Zeichen oder Ereignis ankündigte. Als eine Dienstleistung für jene Dummköpfe, die sich für schicksalsresistent und überhaupt für etwas Besseres hielten. Als mein Großvater jung war, erschien ihm im Traum ein Mann, der Hitler sehr ähnelte und mit einem löchrigen Reissack durch die Stadt ging und, ohne es zu merken, seinen Reis verlor. Als der Mann zu Hause ankam, war der Sack leer, und er hatte nichts zu essen. Wenig später brach der Zweite Weltkrieg aus, und mein Großvater hatte als Einziger im Dorf einen großen Reisvorrat angelegt, der ihn ein Jahr über Wasser hielt.
Bei mir wusste das Schicksal offenbar, dass ich mir einen Traum kaum merken, geschweige denn ihn deuten konnte. Also schickte es mir einen Abgesandten, um mich zu informieren, dass ich mein Lenkrad bald ziemlich dringend brauchen würde, um nicht von meiner neuen Straße abzukommen.
Es passierte beim Ablesen, was schon ein Wink mit dem Zaunpfahl war, und noch dazu in der Großfeldsiedlung, die für zwei Dinge bekannt war: für Leute mittleren Alters, die die Gabe besaßen, das Arbeitslosengeld in eine Behindertenrente zu überführen, die irgendwann fließend in die Pension überging. Und für vitale Teenager, die ihren Fortpflanzungstrieb überall auslebten, nur nicht im Schlafzimmer. Es war schon gegen Ende meines Arbeitstages, als ich an eine Tür klopfte, die verdächtig gut in Schuss war. Als Ableser konnte ich inzwischen eine Tür lesen wie eine Zigeunerin aus der Hand eines verliebten Alkoholikers. Diese Tür vor mir war verdächtig sauber und unauffällig, und das sollte schon etwas heißen. Als sie sich öffnete, erblickte ich einen Mann, der nicht zu meiner üblichen Kundschaft passte. Er war normal gekleidet und hatte ein sympathisches Gesicht, das sagte, ich habe keine Probleme und werde auch nicht so bald welche haben. Er zeigte mit einer freundlichen Geste in seine Wohnung und sagte: "Wir warten schon auf Sie. Bitte, walten Sie Ihres Amtes." Ohne darauf einzugehen, wer mit dem "wir" gemeint war, bat er mich einzutreten. Sobald ich die Wohnung betreten hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Sie war nett und schlicht eingerichtet, aber mein Ableserinstinkt meldete mir so etwas wie eine fremde Präsenz, ohne dass ich genau sagen konnte, worin sie bestand. Auch hing ein seltsamer Geruch in der Luft, der nicht in eine Wohnung gehörte. Es roch nach Land und nach etwas, das ich nicht ausmachen konnte. Wie immer fing ich mit der Küchenheizung an und arbeitete mich Richtung Wohnzimmer, wo ich die Ablesung üblicherweise beendete. Man durfte nie die Ablesung im Bad enden lassen, sondern immer nur im Wohnzimmer. Aus einem unerfindlichen Grund sind die Leute in Räumen, wo es Fliesen gibt, besonders geizig. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, jemals in einem Bad ein Trinkgeld bekommen zu haben.
Während ich mich Richtung Ziel vorarbeitete, schaute ich mich in der Wohnung um. Es gab weit und breit keine Bildschirme, nicht einmal einen Fernseher. Stattdessen standen überall alte Möbel und Glasvitrinen, in denen altes Geschirr lag.
Auf dem Weg zur letzten Heizung fiel mir eine angelehnte Tür auf. Von dort ging der rätselhafte Geruch aus, der in der ganzen Wohnung hing. Der Wohnungsinhaber war in der Küche, und ohne lange nachzudenken, schlich ich mich zu der angelehnten Tür und öffnete sie. Vor dem Fenster neben einer Vitrine voller Porzellan stand ein lebendiger Esel. Er war nicht größer als ein Pony und hatte eine rötlich schwarze Mähne. Seine Hufe waren mit Tüchern umwickelt.
Ich hatte schon viele Tiere in Kabinetten oder Abstellräumen angetroffen, und es waren weitaus gefährlichere darunter gewesen als ein Esel. Aber dieser hier sah so deplatziert aus wie ein UFO. Er blickte in meine Richtung und betrachtete mich mit einem Blick, als wäre endlich das eingetroffen, worauf er schon lange gewartet hatte. Er setzte sich in Bewegung und kam auf mich zu. Die Tücher um seine Hufe verhinderten das Klappern auf dem Parkettboden. Er blieb vor mir stehen und beschnupperte vorsichtig den linken Ärmel meiner Uniform. Genau an der Stelle, wo ich vor ein paar Tagen Orangensaft verschüttet hatte. Ich wusste selber nicht, wann, aber ich legte dem Esel vorsichtig die Hand auf die Flanke. Sein Fell fühlte sich erstaunlich flauschig an. Eine Weile standen wir einfach so da, und dann drehte der Esel den Kopf zum Fenster, als wollte er mir etwas Wichtiges zeigen. Ich folgte seinem Blick, sah aber nur Gemeindehäuser und den Supermarkt, wo ich mir in der Früh Mineralwasser gekauft hatte. Der Esel machte eine Kopfbewegung, als würde er mich auffordern, noch einmal genauer hinzusehen. Und da wurde mir klar, dass er nicht auf das gegenüberliegende Haus blickte und auch nicht auf die Stadt dahinter. Sein Blick ging durch die Mauern hindurch, über die Stadt und das Land hinaus, als würde er ein Ereignis sehen, das mir bald widerfahren würde.
Mir lief ein Schauer den Rücken herunter, denn ich war mit Tieren aufgewachsen und nahm so etwas sehr ernst. "Was willst du mir sagen?", flüsterte ich. "Was ist da drüben?"
Der Esel sah mich an wie jemand, der seine Botschaft überbracht und seine Sache erledigt hatte. Ich tätschelte ihm die Mähne, und er ließ sich diese Liebkosung gerne gefallen.
In diesem Moment betrat der Wohnungsinhaber das Kabinett. Er erschrak, als er mich bei dem Esel erblickte, und schätzte blitzschnell die Situation ein.
"Alles in Ordnung mit Ihnen?", fragte er und kam rasch auf mich zu. "Tut mir außerordentlich leid. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich ein Tier im Hause habe."
"Es ist nichts passiert", beruhigte ich ihn. "So etwas sehe ich jeden Tag."
"Ach wirklich?", fragte er und schaute auf den Esel. Er führte ihn vom Fenster weg und erklärte: "Wir wohnen auf dem Land und mussten über das Wochenende wegen der Ablesung in die Stadt. Ich konnte ihn dort nicht so lange allein lassen."
"Er ist also wegen mir hier?"
"Das kann man so sehen."
Der Mann tätschelte dem Esel die Flanke und sagte zu ihm wie zu einem Menschen: "Jetzt haben wir die Sache mit dem Herrn Ableser erledigt, stimmt's? Jetzt dürfen wir wieder nach Hause. Freust du dich?"
Der Esel schloss dankbar die Augen, als würde ihm nicht nur die Liebkosung seines Herrn, sondern auch die menschliche Sprache gefallen.
"Ich muss langsam weiter", sagte ich. "Begleiten Sie mich noch zur Tür?"
Ich warf einen letzten Blick auf den Esel und verließ das Kabinett. Als wir die Unterlagen unterschrieben und ich schon mit einem Fuß aus der Tür war, hielt mich der Mann zurück.
"Ich hoffe, Sie erzählen das nicht den Nachbarn. Sie wissen, wie die Leute sind. Eine Anzeige ist bei uns schnell gemacht."
"Keine Bange, ich werde es niemandem verraten. Außerdem würde es mir sowieso niemand glauben. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen."
Als sich die Tür schloss, ging ich zum großen Fenster am Gang. Ich stand eine Weile einfach da und sah hinaus. Mein Blick segelte plötzlich in die Vergangenheit. Ich sah auf einmal meinen Großvater, wie er den Finger hob und zu mir sagte: "Ein Pferd in der Luft sehen heißt, eine wichtige Nachricht bekommen. Leider wird sie von einem unzuverlässigen Boten gebracht."
Spätestens da hätte mir ein Licht aufgehen müssen, dass sich etwas über mir zusammenbraute. Aber was tat ich? Ich schüttelte den Kopf, als hätte ich noch nie ein größeres Märchen gehört, und klopfte an die nächste Tür. (...)

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