Tahar Ben Jelloun: "Der Einschnitt"


Im Prolog seines neuen Romans erklärt Tahar Ben Jelloun, dass er hier die Geschichte eines Freundes in Romanform erzählt, die dieser ihm anvertraut hätte, mit der Bitte, daraus ein Buch zu schaffen. Er erklärt, sich meist an die Tatsachen gehalten, seiner Fantasie aber dennoch freien Lauf gelassen zu haben.

Radikal offen erzählt er davon, wie es ist, von Prostatakrebs betroffen zu sein. Wie es ist, seine Männlichkeit zu verlieren, die Erniedrigungen bei den zur Operation hinführenden Untersuchungen und Prozeduren, die Peinlichkeiten danach, die Windeln und der persönliche Umgang mit dem Verlust der Libido.

"Seit ich nicht mehr vögle, fühle ich mich freier und liebe die Frauen immer noch mehr. Ich liebe sie besser und stärker als zuvor, denn das Gefühl der Freiheit beschwingt mich, verleiht mir Humor und Leichtigkeit. Ich finde sie schön, geistreich, manche wunderbarer als andere. Ich bin verrückt nach ihnen."

Sehr rasch ist man auch davon überzeugt, dass es sich im Prolog um ein literarisch motiviertes Täuschungsmanöver des Autors handelt, der hier in Wahrheit von seiner eigenen Erkrankung und den Folgen erzählt. Gerade diese Geschichte erzählt sich leichter, wenn man sie erzähltechnisch als fremde Geschichte ausgibt. Diese "Übergabe" eröffnet ihm die Möglichkeit, distanziert und schonungslos offen zu erzählen.

Überraschend ist der leichte, teilweise fast heiter melancholische Tonfall dieser Erzählung, die höchstwahrscheinlich den ersten literarischen Text darstellt, der sich mit der häufigsten Krebserkrankung unter Männern beschäftigt. Dem Rezensenten ist zumindest kein anderer Roman bekannt, der sich diesem Thema so detailliert und konzentriert widmet.

Wie damit leben, nicht mehr wirklich Mann zu sein? Vielleicht die Kernfrage dieses Romans, vergleichbar mit dem Gehörverlust bei Musikern, oder dem Sehverlust bei bildenden Künstlern. Dieser Frage geht er literarisch nach, indem er von unterschiedlichen Begegnungen des Protagonisten erzählt, der sein Leben Revue passieren lässt, seine Lieben, seine Familie, und der versucht, mit dem über ihn gefällten Urteil klarzukommen. Damit klarzukommen, dass man alt wird und sich einem Verfallsdatum nähert. Er lässt die Gedanken des Protagonisten und alter egos in die Jugend schweifen, in Erinnerungen an seine verstorbene Frau schwelgen, seine Beziehungen zu Freunden und Verwandten neu ordnen und ebenso ein bewusst geplantes "letztes Mal" vor der Operation und der bevorstehenden Impotenz erleben.

"Ich sehe mich um. Gesunde Sportler laufen vorbei. Sie stinken nach Gesundheit. Ich möchte ihnen nicht ähneln. Sehr früh habe ich gelernt, dass man die anderen nicht beneiden soll. Jeder hat seinen Platz, jeder sein eigenes Schicksal. Weder für Geld noch Gold würde ich mit diesem kräftigen, großen, ziemlich ansehnlichen Kerl tauschen wollen, der gerade eine bildschöne Frau küsst. Nein, es ist gut, wie es ist."

Tahar Ben Jelloun erzählt auch von den medizinischen Vorgängen, den Untersuchungen und den verschiedenen Möglichkeiten, angesichts der Diagnose vorzugehen. In diesem Zusammenhang  geht er aufs Ganze, indem er seinen Protagonisten auch in Situationen gläsern lässt, in denen man höchstwahrscheinlich noch nie jemanden begleitet hat. Vom Ausbleiben der Ejakulation, bis hin zu den Schmerzen im Rektalbereich nach der Strahlentherapie.

Nichtsdestotrotz schimmert immer mehr als ein kleiner Strahl Hoffnung zwischen den Zeilen dieses Romans, dessen vielleicht einziges Manko vielleicht ist, doch nicht ganz ein Roman zu sein. Falls man geneigt sein sollte, ein Manko finden zu wollen. Der Hoffnungsschimmer weitet sich am Ende zu einem überzeugenden Ja zum Leben.
Christiane Kaysers Übersetzung trifft den Tonfall Tahar Ben Jellouns ausgezeichnet wie immer, was diese Veröffentlichung umso erfreulicher macht.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 12/2015)


Tahar Ben Jelloun: "Der Einschnitt"
(Originaltitel "L'Ablation")
Aus dem Französischen von Christiane Kayser.
Berlin Verlag, 2015. 125 Seiten.
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