Drago Jančar: "Die Nacht, als ich sie sah"


Eine Schreckensnacht, ihre Vorgeschichte(n) und Nachwirkungen

Im Jänner des Jahres 1944 verschleppte und ermordete eine Truppe von Tito-Partisanen das Ehepaar Veronika und Leo Zarnik, Besitzer der Burg Podgorsko, wegen vermuteter Kollaboration mit den deutschen Besatzern, obwohl die Zarniks wohl allen Seiten Unterstützung zukommen hatten lassen und Umgang mit allen Konfliktparteien gepflegt hatten.
Wie es zu den Ereignissen jener Nacht kommen konnte und was wirklich passiert ist, schildern fünf im Tonfall höchst unterschiedliche Erzählerstimmen aus jeweils eigener Perspektive mit zeitlichem Abstand, unter Einbeziehung der damaligen und derzeitigen persönlichen Lebensumstände.

"Ksenija Hribar, die Frau mit dem Alligator, Vorbild für die Romanfigur, wurde 1944 gemeinsam mit ihrem Mann Rado von Partisanen aus ihrer Burg Strmol in Oberkrain/Slowenien verschleppt und galt als verschollen. Im März 2015 wurden die sterblichen Überreste in einem nahen Wald gefunden", verlautbarte der Verlag.

Ausgehend von tatsächlichen Vorkommnissen konstruierte der 1948 geborene renommierte slowenische Schriftsteller Drago Jančar seinen berückend dichten Roman mit erzählerischer Raffinesse in bemerkenswerter Ausgewogenheit. Die einzelnen Kapitel spinnen ein sich zunehmend verdichtendes Netz aus Geschichte und Geschichten, die Erzählsplitter setzen sich vor dem inneren Auge des Lesers zu einem Gesamtbild zusammen, doch keiner der Erzähler vermag den Leser vollständig für seine individuelle Sichtweise einzunehmen, denn objektive Wahrheiten gibt es - besonders in Kriegszeiten - bekanntlich nicht, allerdings lassen Überschneidungen und Kreuzungen einzelne Wahrscheinlichkeiten Gestalt annehmen.

"Vielleicht haben wir damals Scheiße gebaut, wie Genosse Janko Kralj vor vierzehn Tagen sagte, als ich ihn in Ljubljana besuchte. Wir hatten keine unumstößlichen Beweise, das stimmt. Aber man muss verstehen, dass wir jung waren und verrückt von den unaufhörlichen Kämpfen, sie haben uns gejagt wie die Tiere, wie Genosse Janko immer sagte, und wir mussten manchmal erbarmungslos zurückschlagen. Recht hatte er", resümiert jener Erzähler, dem im Roman das Schlusskapitel zukommt: Ivan Jeranek, einst vor allem aus gekränktem Stolz vom loyalen Arbeiter zum Verräter geworden.

Als Erster ergreift jedoch der im Jahr 1945 in einem Kriegsgefangenenlager inhaftierte serbische Offizier Stevo das Wort, nachdem ihm die seinerzeitige Geliebte, Veronika Zarnik, bei Nacht erschienen ist, woraufhin er seine Geschichte vor dem Leser ausbreitet. Er berichtet davon, wie alles damals begann, als er, anfangs höchst widerwillig dem militärischen Alltag entzogen, als Reitlehrer der verheirateten extravaganten Veronika abkommandiert wurde. Veronika war für ihn quasi eine Frau aus einer anderen Welt, sie hatte in Berlin studiert und zeitweilig einen kleinen Alligator an der Leine geführt, verfügte über einen Pilotenschein und verstand es, Automobile zu steuern; kurzum, sie war eine außergewöhnliche, unvergessliche Frau, die übrigens Tiere liebte und Brutalität verabscheute. Stevo erzählt davon, wie sich zwischen ihnen eine stürmische Liebesbeziehung entwickelte, Veronika seinetwegen sogar ihren Ehemann, den reichen Unternehmer Leo Zarnik, verließ, jedoch nach einer Reihe von Missverständnissen und Taktlosigkeiten in ihre Ehe zurückkehrte, woran Veronikas Mutter und Ehemann offenbar nicht unbeteiligt waren. Stevo stellt die Lebensumstände und historischen Ereignisse der vergangenen Jahre auf anschauliche Weise dar und beschreibt auch die Kriegswirren, die zu seiner momentanen Lage geführt haben. Über Veronikas weiteres Schicksal weiß er allerdings nichts, seine vielen Briefe sind über die Jahre unbeantwortet geblieben.

Veronikas Mutter Josipina ergreift als Nächste das Wort. Früh verwitwet, war ihr ganzer Stolz die Tochter, nun sitzt sie verarmt und verwirrt in einer Wohnung in der Laibacher Vorstadt und schaut täglich stundenlang aus dem Fenster, ob vielleicht ein bekanntes Gesicht unter den Vorübergehenden ist. Tatsächlich erkennt sie eines Tages Jeranek, einen der Arbeiter, damals auf Burg Podgorsko. Auch wenn sie ahnt, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn jene Schreckensnacht nicht überlebt haben, kennt sie die Fakten nicht und klammert sich daher verzweifelt an die Hoffnung, die beiden könnten emigriert sein, und nimmt zu tröstlichen Gedanken an ihre Jugend und die guten Zeiten auf Burg Podgorsko Zuflucht. Diese Passagen vermitteln ebenso einfühlsam wie einprägsam die Atmosphäre versunkener Zeiten.
In jener Jännernacht war Josipina lediglich Ohrenzeugin und wurde von den anderen Anwesenden absichtlich im Unklaren über die Verschleppung gelassen, um die alte Dame nicht zu beunruhigen.

Weitere Figuren, deren Erinnerungen und Gedanken vor dem Leser entfaltet werden, sind der deutsche Wehrmachtsarzt Horst Hubmayer, der ausführlich über die Zarniks berichtet, sich damals unter Lebensgefahr in deren Auftrag für Jeranek verbürgt hat und sich nun mit einem beunruhigenden Brief konfrontiert sieht; die Hausangestellte Joži und zuletzt besagter Jeranek, dessen Verrat in der Jännernacht entsetzliche Folgen hatte.
Seine Darstellungen und Rechtfertigungen nehmen naturgemäß breiten Raum ein, nach und nach erschließt sich dem Leser die Gedankenwelt des einstigen tüchtigen Bauernburschen, der eine Wandlung zum vor allem selbstgerecht wirkenden Kämpfer durchlaufen hat und regelmäßig von einem bezeichnenden Alptraum geplagt wird.

Zahlreiche auf den ersten Blick vielleicht unscheinbare Einzelheiten fügen sich erst im weiteren Verlauf der Lektüre in das Gesamtbild ein, erhellen rückblickend die eine oder andere Szene und zeigen zusätzliche Zusammenhänge auf, wiederkehrende Elemente und Motive durchziehen die Kapitel, darunter z.B. bestimmte Lieder; erzähltechnisch grandios.

Drago Jančar erhielt anno 1993 den "Prešeren-Preis", 1994 den "Europäischen Preis für Kurzprosa", 2007 den "Jean-Améry-Preis für Essayistik". Mit "Die Nacht, als ich sie sah" ist ihm ein Meisterwerk von bleibendem Stellenwert gelungen.

(kre; 12/2015)


Drago Jančar: "Die Nacht, als ich sie sah"
(Originaltitel "To noč sem jo videl")
Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof.
Folio, 2015. 188 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"Wenn die Liebe ruht"
zur Rezension ...

"Der Galeerensträfling"
Sekten und Stifter, Ketzer und Hexen, Willkür und Terror - wir schreiben das 17. Jahrhundert.
Johann Ott irrt ziellos umher, es ist eine Flucht ohne Zuflucht. Jančars rastloser Held stammt offenbar aus deutschen Landen, aber eine innere Unruhe treibt ihn von Ort zu Ort. Nach seiner Befreiung aus den Mühlen der Inquisition schlägt er sich zur istrischen Küste durch, wo sich sein weiteres Schicksal vollzieht: die Verurteilung zu lebenslanger Galeerenstrafe. Auf dem Meer treiben ihn die Gewalten der Natur und die menschliche abgrundtiefe Grausamkeit an den Rand des Wahnsinns. Sein letzter Kampf gilt schließlich der Pest, der er am anderen Ende des Meeres in Portugal in Richtung Heimat wieder zu entrinnen versucht. (Folio)
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