Bregje Hofstede: "Der Himmel über Paris"


Die große Liebe: oft kopiert, gelegentlich erreicht?

"Zunächst war ihre Silhouette alles, was er von ihr sah, dreißig Meter von ihm entfernt, im halbdunklen Hörsaal. Der Projektor summte, und das Licht stach ihm in die Augen. Mit langsamer Stimme sprach er über Cézanne und Picasso. Und manchmal hörte er nicht einmal mehr, was er sagte.
Unterhalb des Holzpodests erstreckten sich die Sitzreihen mit den gebeugten Gestalten, die Köpfe in die Hände gestützt, hängende Schultern, wie Blumen im Dunkeln verwelkt. Bleiche Finger huschten über die Tastaturen, Füller kratzten auf Papier, ab und zu raschelte eine Buchseite beim Umblättern."
(Beginn des Romans)

Ein schwungvoller Debütroman aus den Niederlanden

Die 1988 in den Niederlanden geborene Autorin Bregje Hofstede studierte Kunstgeschichte und Romanistik in Utrecht, Paris und Berlin, sie lebt und arbeitet als Kunsthistorikerin und Schriftstellerin in Brüssel. In ihrem Romanerstling bewegt sie sich somit in ihr wohlbekannten Gefilden, geht es doch um Kunstgeschichte, Vorgänge und Zustände an der Universität, um unterschiedliche Grade des Fremdseins in Paris, selbstverständlich um Paris, und um einige Spielarten von Beziehungen in der Stadt der Liebe. Mögliche autobiografische Elemente in "Der Himmel über Paris" aufzuspüren, bleibt allenfalls der Fantasie des Lesers vorbehalten.
Wie man es beispielsweise auch von Patrick Modianos Romanen kennt, eignet sich Paris anscheinend vortrefflich als Schauplatz für Geschichten, die von Sehnsüchten und Nostalgie, von Träumen und Schicksalsschlägen erzählen. Doch Bregje Hofstedes Roman wartet überdies mit einigen Überraschungen auf, sodass man das schwungvoll geschriebene Buch gar nicht beiseite legen möchte, bevor auch die letzte Seite gelesen ist.
Mit nur einer Handvoll Figuren und aus einer eher unspektakulären Ausgangslage (zumindest für Pariser Verhältnisse) entwickelt die Autorin eine aus unterschiedlichen Perspektiven geschilderte Handlung und spielt routiniert mit möglichen Erwartungshaltungen des Lesers, die nicht immer erfüllt werden.

Olivier ist 52 Jahre alt, renommierter Universitätsprofessor, unterhält eine langjährige Beziehung mit seiner Freundin Sylvie, ohne jemals über seine Jugendliebe Mathilde, die ihn nach einer Abtreibung verlassen hat, hinweggekommen zu sein. Sein Leben plätschert mehr oder minder eintönig dahin, bis die niederländische Austauschstudentin Sofie, genannt Fie, in sein Leben tritt. Sie ähnelt Mathilde stark, und damit beginnen die Probleme oder auch die weitreichenden Veränderungen in Oliviers Leben. Er gleitet zunehmend in Grübeleien über und Erinnerungen an die Zeit mit Mathilde ab und kümmert sich, zuerst unfreiwillig, später aus eigenem Antrieb, der ihm mitunter selbst unheimlich wird, um die junge Frau, die unter Stimmungsschwankungen leidet, eher verschlossen wirkt und nirgendwo zuhause zu sein scheint. Aus ihren Essays spricht eine ganz andere Fie, doch diese zeigt sich nicht jedem und auch nicht oft. Die beiden Menschen unterschiedlichen Alters teilen das Vergnügen an regen Fantasien sowie die kindliche Freude an bizarren Situationen, doch jeder verharrt noch eine Weile in seiner gewohnten Welt, bis die Umstände ein anderes Arrangement unausweichlich machen ...
Gewisse Aspekte von Oliviers Jugendbeziehung spiegeln sich in seiner gegenwärtigen Sicht der Dinge, und in jenen Kapiteln, die Sofies Perspektive darstellen, taucht man in die Sphäre der jungen Frau ein, die sich schon früh in ihrer ganz eigenen Welt eingenistet zu haben scheint und nur zögerlich auf Mitmenschen zugeht ("Manchmal muss man sich einfach etwas trauen." S. 127). Doch als es am Ende darauf ankommt, sich entschlossen Gehör zu verschaffen und zu behaupten, versetzt Sofie alle, auch den Leser, in Erstaunen!
Darüberhinaus bietet "Der Himmel über Paris" beispielsweise auch: einen aufdringlichen Vermieter, arrogante, missgünstige Studienkolleginnen, einen unentschlossenen Freund, eine rachsüchtige Ex-Freundin, intrigante Arbeitskollegen, Sexszenen und großflächige Schatten der Vergangenheit - aber auch einen verheißungsvollen Hoffnungsschimmer am Horizont, wenn man sich eben etwas traut.
An dieser Stelle soll jedoch über die einmal hauchzart tänzelnde, dann wieder bleischwer auf dem Gemüt lastende Geschichte nicht mehr verraten werden, denn die Entwicklungen sind zwar teils vorhersehbar (man kennt den üblichen Verlauf solcher Romane doch schließlich), teils jedoch keineswegs, und genau an diesen Stellen wird es interessant, denn Bregje Hofstede hat ihren Roman lustvoll mit unerwarteten Einsichten und verblüffenden Abstechern gewürzt.

Das Thema "älterer Mann und jüngere Frau", unstrittig längst ein eigenes Genre, zählt zu den verlässlichen Dauerbrennern in der Belletristik. Der Traum, mit einer jüngeren Partnerin verpasste Gelegenheiten nachholen und einen Teil der eigenen Jugend quasi nachbessern zu können, sucht bekanntlich nicht nur gutbetuchte Prominente heim, doch die Erfahrungslast fortgeschrittener Jahre führt nicht zwangsläufig zu Harmonie mit der stürmisch drängenden Jugend, und nicht selten enden solche Partnerschaften in beiderseitiger Frustration, wenn die unverbrauchte Vitalität auf die Dauer wenig überraschend nicht für zwei reicht und die Altersreife der gebotenen Intensität außer Geld und Sicherheit nichts entgegenzusetzen vermag. Mögen mitunter neben Kinderwunsch auch sozioökonomische Gründe für eine Paarung mit großem Altersunterschied sprechen: Hohn, Spott und Blamagen lauern heimtückisch hinter vielen Ecken, und sogar in der Literatur wandelt das Thema nicht selten klischeebeladen am Rand des Kitschs. Allerdings liefert das paarweise Aufeinanderprallen unterschiedlicher Generationen verlässlich Stoff, nicht nur für die Klatschspalten diverser Zeitungen und Kurzbeiträge in Fernsehmagazinen, sondern eben auch für die schriftstellernde Zunft.
Wie bekannt und bereits erwähnt, bewährt sich die Kombination "alter Mann und junge Frau" seit Langem als literarischer Ansatz; einige Beispiele aus vergangenen Zeiten und der Gegenwart: Goethe, man weiß es, in fortgeschrittenem Alter höchstpersönlich betroffen, verfasste "Der Mann von funfzig Jahren", Elisabeth Plessen schrieb "Ida",  Italo Svevo legte die "Novelle vom guten alten Herrn und vom schönen Mädchen" vor, Martin Walser seinen Roman "Der Augenblick der Liebe".

Resümee:
Bregje Hofstede betrachtet das Geschehen nicht nur höchst einfühlsam aus der Sicht des älteren Mannes, sondern ebenso aus jener der jungen Frau, wodurch ein aufschlussreiches "Duett" entsteht. "Der Himmel über Paris" ist, stilistisch ansprechend und flott übersetzt, ein wohlgeratener Debütroman, der neben guter Unterhaltung bewegende Denkanstöße bietet.

(Franka Reineke; 09/2015)


Bregje Hofstede: "Der Himmel über Paris"
(Originaltitel "De hemel boven Parijs")
Aus dem Niederländischen von Heike Baryga.
C.H. Beck, 2015. 224 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Lien zur Netzpräsenz der Autorin: http://www.bregjehofstede.nl

Weitere Buchtipps:

Julie Mebes: "Der Himmel neben dem Louvre. Zum Glück in Paris"

Rive Droite, im 1. Arrondissement, in einem der nobelsten, altehrwürdigen und elegantesten Quartiers mitten im Herzen von Paris, zwischen Place Vendôme und den Tuilerien: Julie Mebes zeigt uns in 38 kurzen Kapiteln ihr ganz persönliches Paris. Sie nimmt uns mit in ihren Teesalon, führt uns durch kleine Straßen und über große Boulevards, wundert sich über zahme Ziegen in den Tuilerien und deutsche Foto-Touristen im Louvre. Wir stehen an der Kasse ihres Supermarktes an, sind eingeladen auf ein Dichterseminar, sitzen mit an ihrem Schreibtisch vor dem Fenster ihrer kleinen Wohnung, lernen ihre Nachbarn kennen.
Julie Mebes beschreibt, wie man in Paris mit Eleganz den Alltag meistern kann - und wie gut es sich dort als Frau lebt. (dtv premium)
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen


Bernd Kortländer: "Mit Heine durch Paris. Literarische Spaziergänge"

Paris war die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, die Kapitale von Freiheit, Kunst und Revolution, "die Spitze der Welt", als Heinrich Heine im Mai 1831 die Stadt betrat. Er hat sie wie kein anderer deutscher Autor seiner Zeit gekannt, durchstreift und beschrieben. Bernd Kortländer arrangiert die schönsten Texte Heines über Paris in der Form von 14 Spaziergängen, die die Orte von Heines Stadterfahrung verlebendigen. Das Buch lädt ein zum Schauen, Lesen, Wandern und Verweilen, und dazu, mit einer Rose in der Hand das Grab des Dichters auf dem Friedhof Montmartre zu besuchen. (Reclam)
Buch bei amazon.de bestellen

Irène Némirovsky: "Zu zweit"

"Wann würde man aufhören zu kämpfen, sich zu zerfleischen, und anfangen, einander Gutes tun zu wollen?" - Irène Némirovskys Psychogramm einer Ehe.
Mit "Zu zweit“" Irène Némirovskys großem Roman über die Anatomie einer Ehe, wird die deutschsprachige Edition ihrer Werke abgeschlossen. Wie in "Suite française" zeigt sich die Autorin auf der Höhe ihres schriftstellerischen Könnens. Mit scharfem Blick und emotionaler Klarsicht untersucht sie den schwierigen Übergang einer rauschhaften Liebe im erfüllten Ehealltag und erforscht die Bande, die zwei Menschen über die Jahre zusammenhalten. (Knaus)
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Johann Wolfgang Goethe: "Der Mann von funfzig Jahren"
"Der Mann von funfzig Jahren" ist eine der berühmtesten und spannendsten Novellen der deutschen Literatur. Die wagemutige Themenwahl - Liebesverwirrung im Alter, Nebenbuhlerschaft zum Sohn - macht die Lektüre bis heute zu einem aufregenden Leseerlebnis. (Insel)
Buch bei amazon.de bestellen

Elisabeth Plessen: "Ida"
Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Studentenbewegung, der Befreiung von autoritären Strukturen, doch ohne zu leugnen, wie sehr eine Generation genau von diesen Mächten geprägt wurde.
Eine zeitlose Liebesgeschichte: Oskar Marwig, angesehener Architekt, verliebt sich in die Studentin Ida. Doch er läuft davon, aus Angst vor Zurückweisung. Als sie sich nach seiner Rückkehr aus Philadelphia, wo er ein Opernhaus baut, wiedersehen, erleben sie unbeschwerte Tage. Seine Reife und Souveränität ziehen Ida an, aber zugleich weiß sie, dass sie ihn genau aus diesem Grund eines Tages verlassen muss. Dies spürt auch Oskar, was seine Besitzansprüche nur verstärkt. Ihre Beziehung überfordert beide, macht sie schwach und krank. Ida bleibt nur, einen radikalen Schnitt zu machen.
Mit großer Eleganz erzählt Elisabeth Plessen von den 1970er-Jahren und dem Ende der Politisierung, sie entdeckt für uns eine Sprache, die nüchtern und reich zugleich erscheint.
"Ida" ist eine Emanzipationsgeschichte, die sich den Irrationalitäten von Beziehung stellt, und es ist ein Roman über Architektur, der Elisabeth Plessen Raum gibt und in Literatur verwandelt. (Berlin)
Buch bei amazon.de bestellen

Italo Svevo: "Ein Mann wird älter (Senilità)"
Italo Svevo erzählt in seinem Roman ironisch gebrochen die Geschichte eines amourösen Abenteuers, aus dem der risikoscheue Liebhaber als Verlierer hervorgeht. Nachdem es Svevo gelungen war, seinen Roman zu veröffentlichen, zeigte er ihn verschämt seinem Englischlehrer James Joyce, der derart begeistert war, dass er sofort ganze Passagen auswendig lernte. (rororo)
Buch bei amazon.de bestellen

Italo Svevo: "Die Novelle vom guten alten Herrn und vom schönen Mädchen"
(rororo)
Buch bei amazon.de bestellen

Martin Walser: "Der Augenblick der Liebe"
Gottlieb Zürn, Exmakler und Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen La Mettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Sonnenblume. Sie könnte seine Enkelin sein. Und doch vernimmt er sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie hingegen weiß: "Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann." Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im gleichen Wortschatz untergeht, folgt er der Doktorandin kurz darauf nach Kalifornien zu einem Kongress. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung - auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt.
Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv. (rororo)
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen