Erik Orsenna: "Auf der Spur des Papiers"
Eine Liebeserklärung
Papier ist mehr als nur ein bedruckbares Material - es ist das Objekt einer
Liebe zum Wort
Papier ist ein seit
Jahrhunderten genutztes Material, das sich aus dem Einsatz von zerkleinerten
Pflanzenfasern, dem namensgebenden Papyrus, entwickelte und bis heute
hauptsächlich aus Naturprodukten (Holz) gewonnen wird. Gleichzeitig ist Papier
der Stoff, auf dem trotz aller Digitalisierung weiterhin das Wissen der Welt
festgehalten wird.
Nach Büchern über so
unterschiedliche Waren und Materialien wie Zucker, Gitarren, Baumwolle und
Wasser in der globalisierten Welt schreibt der französische Schriftsteller und
Wirtschaftswissenschaftler Erik Arnoult, geboren 1947 in Paris, unter seinem
Pseudonym Érik Orsenna vom vergänglich Materiellen und dem Bleibenden des
Papiers. Papier vermittelt Ewigkeit und ist dennoch fragil, ist seine zentrale
Aussage, die er mit einer hübschen und einprägsamen Geschichte illustriert: In
Japan, wo früher fast alle Gebäude aus Holz und Papier gebaut wurden, waren
Brände häufig. Die kostbaren Schriftstücke warf man bei einer Feuersbrunst
einfach in die Brunnen. Sobald das Feuer erloschen war, holte man die
durchweichten, aber verschonten Blätter hervor. Man brauchte sie nur
auszubreiten, damit sie trockneten. Von den Gebäuden blieb kaum etwas übrig,
doch die Schrift, die in nicht wasserlöslicher Tinte geschrieben war, war
weiterhin lesbar (Seite 115).
Als Berater und
Auftragsschreiber des früheren Präsidenten François Mitterrand - französisch
liebevoll und poetisch plume ("Feder") genannt - vermag der Autor
gekonnt, komplexe Zusammenhänge der Weltgeschichte und heutigen Globalisierung
einfach, spannend, wissend und weitsichtig zu erzählen. In Reiseessays,
Schilderungen von selbst Erlebtem und Anekdoten führt er durch die
Kulturgeschichte. Er will Wissen vermitteln und scheut sich gerade deshalb nicht
vor persönlichen Zugängen. Leser nimmt er an die Hand und mit auf seinen Gang
durch Archive, Laboratorien und Fabriken - denn Papier ist nicht nur
Informationsträger des Geschriebenen und Gedruckten, sondern auch Verpackungs-,
Reinigungs- und Baumaterial. Der Anteil grafischer Papiere (Schreib- und
Druckpapier) nimmt angesichts der virtuellen und immateriellen Speicherformen
jedoch beständig ab ...
Im Pendeln zwischen Vergangenheit, Gegenwart und vermuteter Zukunft beginnt der
Autor in China. Dort wurde das Papier vor über zweitausend Jahren erfunden;
langsam breitete es sich
in die arabischen Länder aus, wo man religiöse und
diplomatische Schriften fälschungssicher auf Papier schrieb - denn anders als
das Pergament lässt sich ein einmal beschriebenes Papier nicht mehr durch
Abschaben verändern. Der traditionellen Papierherstellung aus Lumpen und
speziellen Pflanzen begegnet der Autor und mit ihm der Leser im
mittelalterlichen Europa und in Japan. Heute sind die Zentren der
Papierherstellung in den waldreichen Ländern Skandinaviens, in Kanada und in
Russland. Und Müllsortierer gewinnen weltweit diesen kostbaren Rohstoff aus
bereits verwendetem Papier!
Die Sichtweise des
Autors, oft auch die seiner jahrzehntealten Erinnerung, spart dabei nicht mit
bitteren Kommentaren zur Zerstörung der Natur in China oder den
Arbeitsbedingungen der Papierindustrie in Indien. Die Gelehrsamkeit äußert sich
im Erzählen und Assoziieren, nicht in einer strikten Wissenschaftlichkeit. Die
Literaturliste im Anhang ist entsprechend kurz, besteht eher aus Lesetipps denn
aus Belegen zu den beschriebenen Fakten.
Dass das leicht gelbliche
Papier, auf dem das Werk gedruckt ist, besonders fein und geschmeidig ist,
versteht sich von selbst. Dass das sehr persönliche Buch in Erzählweise und
Ausdruck dem französischen Original folgen will, ist selbstverständlich; sogar
in der Interpunktion bleibt das Buch der französischen Ausgangssprache
verhaftet: Direkte Rede wird in eckigen, nach außen spitzen Klammern
dargestellt. Lächerlich ist aber, wenn die Übersetzerin Caroline Vollmann Anvers
als Stadt in Belgien nennt. Als Antwerpen ist diese belgische
Großstadt wohl besser bekannt.
(Wolfgang Moser; 05/2014)
Erik Orsenna: "Auf der Spur des Papiers. Eine
Liebeserklärung"
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann.
C.H. Beck, 2014. 336 Seiten mit 1 Abbildung und 2 Karten.
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Noch ein Buchtipp:
Alexander Monro: "Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte"
Ob Bibel, Gemälde, Kaffeebecher, Toilettenpapier,
Pamphlet oder Lieblingsbuch, sie alle wären ohne Papier nicht denkbar. Seit vor
ungefähr 2000 Jahren im China der Han-Dynastie die Erfolgsgeschichte des Papiers
begann, wurde es zum herausragenden Übermittler für Wissen, Ideen und
Information - billig, leicht zu transportieren, für jeden erreichbar. Doch geht
diese einzigartige Geschichte der Verbreitung von Gedanken, Überzeugungen und
Erkenntnissen mit der Digitalisierung zu Ende? Ist das Zeitalter des Papiers
vorbei?
Alexander Monro folgt den Spuren des Papiers von Asien nach Europa, wo es erst
im 13. Jahrhundert ankommt und die Basis für Aufklärung, Veränderung, Bildung
schafft. Milliarden Leser halten heute bedrucktes Papier in der Hand, und in
vielen Regionen der Erde ist es immer noch das machtvollste Informationsmedium,
trotz Radio, Fernsehen und digitalen Medien. (C. Bertelsmann)
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Leseprobe:
(...) Kaum ist Samarkand eingenommen, kaum ist dieses wunderbare Material
entdeckt, das die chinesischen Handwerker hier herstellen, wollen die Araber
nichts anderes mehr zum Schreiben.
Gerade hat der Kalif der Abbassiden, Al-Mansur, Bagdad als Hauptstadt gewählt
(762). Er schätzt das Papier nicht nur seiner Qualitäten wegen, sondern auch
wegen seiner Verletzlichkeit: Es zwingt zur Ehrlichkeit. Andere Oberflächen
können ohne Schaden abgeschabt werden - Namen, Zahlen und sogar Unterschriften
lassen sich im Handumdrehen auswechseln, ohne dass es jemand bemerkt. Doch wer
ein ausgedehntes Reich verwaltet, kann nicht dulden, dass man Fälschungen so
leicht herstellen kann. Die Dokumente, die der Kalif verschickt oder
übermittelt, müssen vertrauenswürdig sein.
Das Papier beginnt seinen Eroberungszug im Westen. Er wird einige Zeit brauchen,
denn wenn die Verwendung des Papiers einmal beschlossen ist, genügt es nicht, es
zu kaufen, sondern man muss selbst große Mengen davon herstellen.
Im ganzen Mittleren Osten entstehen immer mehr Produktionsstätten, vor allem
entlang des Tigris. Selbst
Ägypten gibt
schließlich nach.
Als das arabische Papier das Mittelmeer erreicht, stellt sich heraus, dass es
sehr viel Ähnlichkeit mit dem guten alten Papyrus hat, den man hier seit mehr
als dreitausend Jahren benutzt. Beide Materialien sind aus pflanzlichen Stoffen.
Aber während das Papier aus einem flüssigen Brei, einer homogenen
Mischung, hergestellt wird, besteht der Papyrus aus einem Geflecht von
Fasern. Diese stammen von einer Art Schilfrohr, das am Nilufer im Überfluss
wächst. Im Innern des Stängels befindet sich ein faseriges Mark, das man in
dünne Streifen schneidet.
Aus diesen Streifen, die vertikal nebeneinandergelegt werden, wird eine erste
Lage hergestellt. Darüber kommt eine zweite Lage aus gleichartigen, jedoch
horizontal angeordneten Streifen. Das Ganze übergießt man dann mit Wasser aus
dem Fluss. Danach hämmert man es lange, damit sich die horizontalen und die
vertikalen Streifen ineinander verhaken. Am Ende muss man es nur noch unter der
Sonne Ägyptens trocknen und bleichen lassen.
Die Oberfläche kann man mit einem Stein glätten, man kann auch noch Stärke
auftragen, um das Schreiben zu erleichtern. Indem man mehrere Blätter
zusammennäht, erhält man Rollen von Papyrus.
Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Trägern der Schrift bringt viele
Sprachen dazu, dem Neuankömmling einen Namen zu geben, der ganz ähnlich
klingt wie "Papyrus": "papier" (französisch), "Papier" (deutsch), "paper"
(englisch) ...
Wohlgemerkt, auf diese Weise gesteht man ihm einen heiligen, königlichen
Charakter zu. Denn "Papyrus" und "Pharao" haben denselben etymologischen
Ursprung: papuro - "das, was königlicher Natur ist".
Der letzte in Ägypten beschriebene Papyrus stammt aus dem Jahr 935.
Die Verbreitung des Papiers geht weiter. Als nächstes wird der Maghreb erobert.
Zuerst Kairuan in Tunesien. Dann
Fez in
Marokko, wo man zu Beginn des 12. Jahrhunderts nicht weniger als vierhundert
Papiermühlen zählt.
Sizilien, das 860 von den Muslimen überfallen und dann 1072 von den Normannen
erobert wurde, entwickelt sich zu einem Zentrum des kulturellen und technischen
Austauschs. Über Palermo wird das Papier
Italien
erreichen.
Derweil bleibt Spanien
nicht zurück. Dort übernehmen jüdische Handwerker die Rolle, die die Chinesen in
Samarkand hatten: Sie fabrizieren und verkaufen das Papier. Sie tragen damit zum
Goldenen Zeitalter bei. Solange die Omaijaden regieren, eine aufgeklärte und
tolerante Dynastie, erstrahlt Andalusien im vollen Glanz seiner wirtschaftlichen
und geistigen Kraft. Erst als die Almohaden kommen - Fundamentalisten, die ihrer
Zeit vorauseilen -, werden die Juden aus Cordoba, ihrem Hauptsitz, vertrieben.
Sie ziehen in den Norden und nehmen ihr Wissen mit, darunter ihre Kenntnisse
über das Papier.
Für die Araber ist das Papier nicht nur ein praktisches Arbeitsmittel für die
Verwaltung und den Handel, es ist der bevorzugte Träger alles Wissens. Wir
Franzosen, denen die Überheblichkeit zur zweiten Natur geworden ist, glauben
gerne, wir hätten das Monopol auf den Enzyklopädismus und die Aufklärung unseres
geschätzten 18. Jahrhunderts habe nicht ihresgleichen in der Geistesgeschichte
der Welt. Ein einziger Blick auf die Titel einiger Werke, die die Araber
zwischen 750 und 1200 geschrieben haben, reicht, um uns verstummen zu lassen.
(...)