Ulla Hahn: "Spiel der Zeit"


Anno 1968 versucht die Studentin Hilla Palm, in Köln heimisch zu werden ...

Nachdem die große deutsche Lyrikerin Ulla Hahn im Jahr 2001 mit "Das verborgene Wort" den ersten Teil der Lebensgeschichten ihres Alter Egos Hilla Palm erzählt und dafür den ersten Deutschen Bücherpreis erhalten hat, ließ sie im Jahr 2009 auf ebenfalls mehr als 600 Seiten den zweiten Teil unter dem Titel "Aufbruch" folgen. In beiden Romanen zeigte sie sich nicht nur als eine wahre Künstlerin und Akrobatin des Wortes und seiner ihm innewohnenden Kraft, sondern auch als eine große Meisterin epischer Darstellung.

Nachdem Hilla im zweiten Band gegen Ende zum Opfer einer Vergewaltigung wird, für die sich selbst die Schuld gibt - sie nennt sich Hilla Selberschuld - verlässt sie, zumindest unter der Woche, ihren Heimatort Dondorf am Rhein und zieht als Studentin nach Köln, wo sie in einem katholischen Wohnheim nicht nur Unterkunft, sondern auch Freundinnen findet.

Im Roman "Spiel der Zeit" erzählt Ulla Hahn ebenfalls mit großer Sprachmacht in einem Gewebe aus Erfahrung, Erfindung und Dokumentation. Dabei ist sie selbst hin- und hergerissen: "So sehr ich weiß, dass es weitergehen muss, so dringend mein erzählerisches Pflichtgefühl gebietet, Hilla endlich vorwärtszuschicken ins neue Leben, so mächtig treiben mich meine Gefühle zurück zu den Orten und Menschen meiner Kindheit. Erst jetzt beim Schreiben merke ich das. All das Neue, das Hilla erlebt, wird erst neu, wird erst zur Gewissheit, zum Eigen, wenn es sich widerspiegelt im Alten, wenn es zum Vergangene in Beziehung gesetzt wird."

Dies ist quasi das Credo, welches sich durch das gesamte Buch zieht. Nicht nur in einem spannenden und bewegenden Handlungsablauf in einer studentenbewegten Epoche, sondern auch in einem sprachlichen und poetischen Reichtum, den man nicht oft bei einem Buch genießen kann.

Als sie im Fasching 1967 den buckligen Hugo kennenlernt, einen Spross einer reichen und alteingesessenen Kölner Familie, blüht Hilla auf. Ihre Gespräche über Literatur, Poesie und Politik lassen die beiden ebenso zusammenwachsen, wie ihre theologischen Reflexionen. Beide sind sie in ihrem katholischen Glauben verwurzelt und brechen doch, so wie viele Andere zu dieser Zeit, zu neuen Ufern auf.
Die radikalen Auswüchse der Studentenbewegung stoßen allerdings beide ab. Ulla Hahn lässt Hilla und Hugo nicht nur Rudi Dutschke bei einem Vortrag in der Kölner Uni begegnen, sondern schickt sie auch auf den Essener Katholikentag.

Auf diese Weise verwebt Ulla Hahn starke Elemente eines Entwicklungsromans, obwohl "Spiel der Zeit" nur etwa drei Jahre umfasst, aber immer wieder die Gegenwart mit der Vergangenheit in Verbindung bringt, mit den Konturen einer beeindruckenden Darstellung des Jahres 1968. Da geht es um Sehnsucht und Leidenschaft, vor allem in der Beziehung Hillas zu Hugo, es geht um den schier unüberbrückbaren Graben zwischen Arm und Reich am Beispiel der Familien von Hilla und Hugo, es geht um selbstverantworteten Glauben an "Dendaoben" in einer sich verändernden Welt voller Gewalt und Ungerechtigkeit. Und es geht darum, wie Liebe alte Verletzungen heilen kann.

"Spiel der Zeit" ist ein großer autobiografisch geprägter Roman und der gelungene Abschluss einer Trilogie, die sich über die ersten beiden Jahrzehnte Nachkriegsdeutschlands erstreckt. Eine wahre Liebeserklärung an die Sprache, ihren Reichtum und ihre Schönheit und ein Loblied des Lebens und dessen, der es schenkt und bewahrt.

(Winfried Stanzick; 10/2014)


Ulla Hahn: "Spiel der Zeit"
DVA, 2014. 608 Seiten.
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