Eugen Ruge: "Cabo de Gata"


"Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war."

So oder ähnlich wird der Autor die in "Cabo de Gata" erzählte Geschichte wohl selbst erlebt haben in einer Zeit, lange bevor er als Schriftsteller berühmt wurde und schließlich anno 2011 für seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" den "Deutschen Buchpreis" erhielt. War dieses Buch Eugen Ruges, der, 1954 geboren, die DDR 1988 verließ, so etwas wie ein Abgesang auf die DDR, ist auch sein zweites Buch eine Art Rückschau.

In der Form eher eine Novelle als ein Roman, versucht sich ein ich-erzählender Schriftsteller nach 15 Jahren an seine Erlebnisse zu erinnern, die er auf einer Reise machte, nachdem ihn eine Schreibblockade von einem auf den anderen Tag zwang, alles aufzugeben und sich, mit unbekanntem Ziel, Richtung Süden in den Zug zu setzen.

Der Mann ist seit einiger Zeit von seiner Frau Karolin getrennt und hat eine Tochter namens Sarah, die bei der Mutter lebt und die er manchmal sieht. Wir erfahren wenig über die Hintergründe der Trennung, auch wenig über seinen Abstieg. Denn als er seine Wohnung verlässt und sich nach Süden aufmacht, ist seine Barschaft so geschrumpft, dass er nur noch im Süden für eine Zeit überleben zu können glaubt.

Immer wieder beginnen nach 15 Jahren, während er, schon wieder ein mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestatteter Autor, seine Erlebnisse aufschreibt, diese Aufzeichnungen mit der Wendung: "Ich erinnere mich ... ". Fast wie ein Ritual setzt er diese Formel vor jeden neuen Abschnitt, wie um zu zeigen, dass er natürlich weiß, dass das Gedächtnis alle Vergegenwärtigung immer wieder neu erfindet. Diese Spannung zwischen Erinnern und Erfinden sowie der dauernde Wechsel zwischen der Erfindung des Autors und der von ihm vermuteten authentischen Erfahrung des Erlebten verleihen dem Buch seinen unvergleichlichen und anziehenden Charakter.

Denn Eugen Ruge gelingt es, seinen Leser nach wenigen Seiten mit auf eine Erinnerungsreise zu nehmen, die seinen Ich-Erzähler schon bald nach Andalusien führt, nach Cabo de Gata, in das kleine, im Winter, als er ankommt, fast ausgestorbene Fischerdorf an der Mittelmeerküste. Ein paar Schreibhefte, (er will ja seine Blockade überwinden), und eine Hängematte hat er sich vor der Abreise in Berlin gekauft.

Obwohl das Klima dort alles Andere als einladend ist, bleibt er, mietet sich bei einer alten analphabetischen Witwe ein. Auf langen Spaziergängen am Strand trifft er einheimische Fischer, er beobachtet und denkt nach und kommt ganz langsam, fast im Schneckentempo, immer mehr wieder mit sich selbst in Kontakt. In der Kneipe, wo er abends isst, muss er sich wiederholt mit dem prallen Hintern der unfreundlichen Bedienung beschäftigen - wie ein Hinweis darauf, dass er bei allem Rückzug ein Mann mit entsprechenden Bedürfnissen geblieben ist.
Bald treffen auch andere Gäste ein. Mit einem US-Amerikaner hat er Kontakt, auch zu anderen Touristen, als das Frühjahr kommt. Doch er bleibt die ganze Zeit so etwas wie ein Fremder unter Fremden.

Als er schon darüber nachdenkt, wie lange ihm seine knappen Rücklagen noch gestatten, in Cabo de Gata zu bleiben, nähert sich ihm eines Tages eine Katze. Sehr einfühlsam und vorsichtig freundet er sich mit ihr an, ja er empfindet so etwas wie Liebe für dieses scheue Tier, das schließlich in seinem Bett in der Pension übernachtet.

Eine Zeit lang bleibt die Katze dann verschwunden, kehrt aber trächtig wieder zurück. Und dann geschieht ein Unglück, nach einhundertdreiundzwanzig Tagen, das nicht nur seine Abreise erzwingt, sondern ihm auch eine wichtige Erkenntnis bringt ...

Eugen Ruge hat in seiner Novelle das eindrückliche Porträt eines Aussteigers gezeichnet, klar umrissen. Im hellen Licht des Südens skizziert er Orte und Menschen. "Cabo de Gata" ist eine schöne Parabel, ein Gleichnis über die Sehnsucht nach einem anderen Leben und die Unmöglichkeit einer Flucht aus dem alten.
Das Buch ist ein großes und sinnliches Leseerlebnis, das lange nachwirkt.

(Winfried Stanzick; 06/2013)


Eugen Ruge: "Cabo de Gata"
Rowohlt, 2013. 200 Seiten.
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Eugen Ruge, 1954 in Soswa (Ural) geboren, studierte Mathematik an der Humboldt-Universität und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Seit er 1988 aus der DDR in den Westen ging, ist er hauptberuflich für das Theater und für den Rundfunk als Autor und Übersetzer tätig.
Für seine dramatischen Arbeiten erhielt Eugen Ruge den "Schiller-Förderpreis" des Landes Baden-Württemberg; 2009 wurde sein erstes Prosamanuskript "In Zeiten des abnehmenden Lichts" mit dem "Alfred-Döblin-Preis" ausgezeichnet; für den daraus entstandenen Roman erhielt er den "Aspekte-Literaturpreis" und den "Deutschen Buchpreis 2011".

Ein weiteres Buch des Autors:

"In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie"

Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 und darüber hinaus reicht diese wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR, führt über die Gipfel und durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts. So entsteht ein weites Panorama, ein großer Deutschlandroman, der, ungeheuer menschlich und komisch, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar macht. (Rowohlt)
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Noch ein Buchtipp:

Wolfgang Ruge: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion"

Berlin, im Sommer 1933: Der sechzehnjährige Wolfgang Ruge verlässt mit seinem zwei Jahre älteren Bruder das nationalsozialistische Deutschland. Ziel der beiden jungen Kommunisten ist das Land, auf das sich all ihre Hoffnungen richten - die Sowjetunion. In Moskau erwartet Ruge Manches, was ihn begeistert, aber auch Ernüchterndes. Als die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschiert, wird er wegen seiner Herkunft zunächst verbannt und bald darauf ins Arbeitslager verbracht. Erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, kann er nach Berlin zurückkehren.
"Gelobtes Land" ist einer der raren Zeitzeugenberichte eines deutschen Autors über den stalinistischen Terror und insbesondere über die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Gruppe der sogenannten Arbeitsarmisten, die ohne einen auch nur formalen Straftatbestand während des Krieges zur Zwangsarbeit genötigt und interniert wurden. Ein Bericht, der die große Erzählung über den Gulag um eine bedeutende Perspektive bereichert
Wolfgang Ruge (1917-2006) wurde von seinen Eltern schon als Kind im Sinne des Kommunismus erzogen. Sein Bruder wurde in der Sowjetunion verhaftet, sein ebenfalls emigrierter Vater an Nazi-Deutschland ausgeliefert. Ruge selbst verbrachte vier Jahre im stalinistischen Lager und elf in der Verbannung. Nach seiner Ausreise in die DDR arbeitete er bis 1982 als Professor im Fachbereich Weimarer Republik an der Akademie der Wissenschaften. Er galt als einer der bedeutendsten Historiker der DDR und war der Vater von Eugen Ruge. (Rowohlt)
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