Joachim Riedl: "Jüdisches Wien"


Die Geschichte des jüdischen Wien ist eine Geschichte des Antisemitismus. Was sich plastisch anlesen mag, ist doch nicht mehr und nicht weniger als eine Tatsache, die selten so unverblümt und drastisch dargestellt ist wie im zu besprechenden Buch.

Der Leser wird einige Überraschungen erleben, die Erschütterung immer wieder groß sein. Denn die Wiener Juden hatten es von Anfang an nicht nur schwer, sondern es wurde ihnen verunmöglicht, sich zu assimilieren und zu einem akzeptierten Teil der Gesellschaft zu werden. Die bis heute in Wien grassierenden antisemitischen Einstellungen beruhen auf Vorurteilen, die selbstgemacht sind. Geldgier, Eigensinn, unter sich bleiben. Allein schon diese drei Faktoren, die Juden gerne zugeschrieben werden, lassen sich auf die nie erfolgte soziale Normierung zurückführen, welcher die jüdische Bevölkerung unterworfen war. Die Juden mussten sich auf jene Plätze zurückziehen, die keine Anpassungsleistung erforderten. Und dazu gehörten der Finanzsektor, die Wissenschaft und die Kunst. Kein Wunder also, wie viele Finanzmagnaten, Wissenschafter und Künstler in Wien jüdischer Herkunft waren und im Grunde bis heute sind.

Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, auch nur annähernd jene Gefühle zu beschreiben, die mich bei der Lektüre und der Sichtung des "jüdischen Wien" ergriffen haben. Selten übt ein Buch einen solchen Sog aus, weil es schlicht und einfach Wahrheiten ausspricht und darstellt, die eine ganze Stadt in Beschlag nehmen. Der Antisemitismus war von seinen Ursprüngen an in Wien wohl stärker ausgeprägt als in vielen anderen Großstädten. Die Folge war, dass er ab den 1930er-Jahren diese ungeheure Welle erzeugen konnte, an der die Wiener Juden so eklatant zu leiden hatten. Nachdem einige Pogrome Wien "entjudet" hatten, war es den jüdischen Finanzmagnaten, welche in Wien sesshaft werden durften, zu verdanken, dass Wien nicht vor die Hunde ging. Zum Dank dafür breitete sich das Märchen von der Raffgier der Juden weiter aus. Nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 erfolgte innerhalb kürzester Zeit die Arisierung zahlreicher Wohnungen und Unternehmen, unzählige Jüdinnen und Juden wurden ihres Vermögens beraubt. Unmittelbar nach dem Krieg wurde freilich nichts rückerstattet. Waren vor dem Beginn der Deportation und der auf dem Reißbrett festgelegten Vernichtung gut 200.000 Juden ein fester Bestandteil der Wiener Bevölkerung, so waren es hernach nur ein paar Tausend, die überlebt hatten und aus dem Exil zurückkamen. Das Irrsinnige war, dass Juden nach wie vor nicht willkommen waren, der Antisemitismus also auch im Bewusstsein der ungeheuren Verbrechen, die an Millionen unschuldiger Menschen begangen wurden, ungebrochen wie ein Schreckgespenst in Wien umging. Antisemitismus wurde offen, auch politisch, demonstriert und galt richtiggehend als schick.

Von besonderer Brisanz sind die Vorgänge, welche der Staatsvertragsunterzeichnung vorausgingen. Vor allem die U.S.A. erwarteten, dass Österreich mit den jüdischen Opferverbänden über eine zumindest teilweise Abgeltung der geraubten Vermögenswerte Einigung erzielte. Ansonsten sei von keiner Ratifizierung des ersehnten Dokuments, welches Österreich die Unabhängigkeit bescheren würde, auszugehen. Tatsächlich ließ sich die Regierung auf einen Minimalkompromiss ein, der darin bestand, innerhalb der nächsten zwölf Jahre insgesamt 550 Millionen Schilling in einen Hilfsfonds einzuzahlen. Auf jeden Einzelnen der Ermordeten oder  Vertriebenen übertragen ergibt dies satte 2.750 Schilling, also eine Nichtigkeit. Doch dieser Minimalkompromiss reichte aus, um die U.S.A. um den Finger zu wickeln, und am 15. Mai 1955 durfte also Leopold Figl sein berühmt gewordenes "Österreich ist frei!" vom Balkon des Schlosses Belvedere ausrufen. Aus Sicht der kleinen israelitischen Kultusgemeinde bedeutete dies, dass sie ihrer letzten Schutzmacht verlustig gegangen war. In Folge der Unabhängigkeit stellten die Volksgerichte zur Ahndung von NS-Verbrechen sofort ihre Tätigkeit ein, und die meisten noch in Haft befindlichen NS-Verbrecher wurden begnadigt. Selbst Massenmörder wurden freigesprochen. Und nun geschah, was uns allen bekannt sein sollte: Diese "pardonierten" Verbrecher, darunter einige schwersten, schrecklichsten Kalibers, tauchten aus der Versenkung auf und rückten in einflussreiche Positionen empor. Das Nachkriegs-Österreich nahm eine schwere Schuld auf sich, die Unabhängigkeit Österreichs hatte Folgen, bei der vernünftige Menschen nur den Kopf schütteln können. Ja, aber der Nationalstolz feierte also fröhliche Urständ', und die Juden in Österreich wurden als Störfaktor angesehen, weil allein schon durch deren Vorhandensein das von allen Parteien angestrebte gute Verhältnis zu den ehemaligen oder auch unverbesserlichen Nationalsozialisten gestört würde.

Die wenigen verbliebenen Juden Wiens zogen sich zurück, blieben unter sich. Sie wollten nicht auffallen, das Schreckgespenst des Antisemitismus verhinderte, dass sie sich öffneten und Stellung nahmen. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis die israelitische Kultusgemeinde in Gestalt ihres Präsidenten Ariel Muzicant (stand von 1998 bis 2012 der Kultusgemeinde vor) ein Aushängeschild hatte, das die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Gruppierungen im ganzen Land nicht scheute. Er erreichte auch die Rückerstattung des 1938 geraubten Areals des jüdischen Sportklubs Hakoah, und erhob seine Stimme, wenn es um die Rückgabe von Raubkunst ging. Die kleine Gemeinde trat aus dem Schatten und fand ihre Rolle in der Gesellschaft.

Nunmehr leben vielleicht 7.000 Juden in Wien. Angesichts der ungeheuren Verbrechen, die an der jüdischen Bevölkerung in Wien über Jahrhunderte begangen wurden, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, endlich dieses Schreckgespenst des Antisemitismus aus Wien  vertreiben zu wollen. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies eine sehr schwere Aufgabe darstellt. Offener Antisemitismus und antisemitische Tendenzen sind in Wien nach wie vor spürbar. Das vorliegende Buch sollte fixer Bestandteil von Schulbibliotheken sein. Mehr noch bin ich davon überzeugt, dass in Wiener Schulen und darüber hinaus sowohl im Religions- als auch im Ethikunterricht die Geschichte des jüdischen Wien erzählt werden müsste. Denn wer weiß schon in aller Deutlichkeit, welche Ungeheuerlichkeiten in Wien im Laufe vieler Jahrhunderte passiert sind, die schweres bis unfassbares Leid den Jüdinnen und Juden Wiens angedeihen ließen? Der Antisemitismus kann nur aus Wien vertrieben werden, wenn die absurden Märchen richtiggestellt werden. Der Rezensent befürchtet aber, dass dies eine langwierige Angelegenheit darstellt, wobei nicht einmal sicher ist, ob sie je jenes Ergebnis erzielt, welches der jüdischen Bevölkerung Wiens zu wünschen ist. Das heißt aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken.
Der ausgezeichnete Essay von Joachim Riedl und die zahlreichen ausgezeichneten Fotos dokumentieren die Geschichte des jüdischen Wien auf eine Weise, wie es notwendig ist, um den wachen Leser und Betrachter aufzurütteln. Der Versuch, den Antisemitismus aus Wien zu tilgen, ist vielleicht ein Kampf gegen Windmühlen, doch das heißt nicht, ihn deswegen nicht zu wagen. Dieses Buch ist ein wichtiger Mosaikstein in diesem Bemühen. Dafür kann Joachim Riedl und dem Christian Brandstätter Verlag nur höchste Anerkennung gezollt sein.

(Jürgen Heimlich; 02/2013)


Joachim Riedl: "Jüdisches Wien"
Christian Brandstätter Verlag, 2012. 160 Seiten.
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