Jürgen Schmidt: "August Bebel"

Kaiser der Arbeiter


Ein sozialdemokratischer Apostel

In der Einleitung ist zu lesen: "Eine Biografie Bebels ist [...] immer auch eine Einführung in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert." Und, so könnte man diesen Satz verlängern, somit auch eine Einführung in die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, die in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mündete. Und schon wären wir beim Thema, denn Bebel warnte stets vor dem großen Kladderadatsch, der sich ein Jahr nach seinem Tod im Jahre 1913 erhob. Wir Heutigen halten das Ende des Seils in der Hand und sehen diese Zeit stets im Schatten des folgenden Säkulums, ob wir nun wollen oder nicht - schon im Anfang mahnt uns das Ende.

Kindheit und Jugend des 1840 in Köln geborenen August Bebel war wegen der frühen Tode des Vaters, Stiefvaters und der Mutter durchaus an der Grenze zur Armut angesiedelt. Doch die Wetzlarer Familie seiner Mutter fing ihn auf und "[s]o war dank der Schulbildung und dank der Existenzsicherung auf einfachem, niedrigen Niveau die Tür einen Spalt offen, um das Leben ein klein wenig selbst gestalten zu können", wie der Autor schreibt. Doch er wurde in seiner Jugend auch mit den gesellschaftlichen Schranken der Zeit konfrontiert, denn sein angestrebtes Studium des Bergfachs blieb dem städtischen Bürgertum vorbehalten und war für ihn unerreichbar. Nach einer Ausbildung zum Drechsler ging er auf Wanderschaft, die ihn durch ganz Süddeutschland und schließlich 1860 nach Leipzig führte.

Da ab 1861 in Preußen Gewerbefreiheit herrschte, konnte er sich selbstständig machen und auch die Bürgerrechte erwerben. Der Eintritt in den gewerblichen Bildungsverein in Leipzig bot ihm eine erste Bühne zur Formulierung politischer Gedanken. Dort plädierte er dafür, "dass Arbeiter und Handwerker sich Bildung aneignen und sowie nach wirtschaftlicher und politischer Selbständigkeit streben sollten".

Am 23. Mai 1863 wurde, von Ferdinand Lassalle wesentlich initiiert, in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, der Vorläufer der heutigen SPD. Mit einem Mandat des gewerblichen Bildungsvereins reiste Bebel im Juni 1863 als Delegierter nach Frankfurt zum Vereinstag deutscher Arbeitervereine (VDAV), einer losen Dachorganisation der Arbeitervereine. Ziel beider konkurrierender Organisationen war das allgemeine, gleiche und unmittelbare Wahlrecht. Dieses Wahlrecht wurde 1867 in Preußen eingeführt, von Bismarck, dem alten Taktiker des Machterhalts, dem es jedoch hierbei nicht um die Menschen ging, sondern um den Machterhalt durch zu erwartenden Stimmenzuwachs für die Konservativen. Das Wahlrecht schuf eine potenzielle Machtbasis, die aber erst noch erarbeitet werden musste. Man musste den Menschen klarmachen, dass sie eine Wahl hatten und worin die politischen Alternativen lagen. "Trotz wirtschaftlichem und sozialem Strukturwandel war die Mobilisierung der Arbeiter und Handwerker alles andere als ein Selbstläufer und die politische Zukunft der Arbeiterparteien und ihrer Vertreter war keineswegs garantiert", schreibt Schmidt. Er zitiert einen Augen- und Ohrenzeugen eines Bebelschen Wahlkampfauftritts: "Wie ein Platzregen auf dürres Land rauschten ihre sozialdemokratischen Apostelworte von der Tribüne [...] auf die verbrannten Schädel der Philister wohltätig nieder".

Mit den Wahlen im Februar 1867 zogen August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Berliner Reichstag ein. Ab 1867 hauchten beide auch dem anfangs dahinplätschernden VDAV nach und nach Leben ein. Während der VDAV anfangs noch dem liberalen Lager zuzuordnen war, erfolgte 1868 der Richtungswechsel durch den Anschluss an die von Marx und Engels dominierte sozialistische Arbeiterassoziation (IAA). Schmidt zitiert aus den Programmpunkten des VDAV 1868: „Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch sie bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.“ Das mag wohl im 19. Jahrhundert gestimmt haben, doch heute beobachtet man das Gegenteil davon, denn die Protestwellen entstehen in den politischen und wirtschaftlichen Zentren von Schwellenländern, hier geht also der, wenn auch bescheidene, Wohlstand den politischen Ansprüchen voraus. Doch der damalige Schwenk zerriss den VDAV, der sich am 10. August 1869 in Eisenach auflöste und aus seinem Kern die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gebar. Die deutsche SPD darf also in sechs Jahren schon wieder ihren 150. Geburtstag feiern. Während die Anfänge der Arbeitervereine sozialdemokratische und liberale Positionen in sich vereinigten, fühlte sich das liberale Bürgertum von der SDAP nicht mehr vertreten. Das war wohl mit auf die aggressive Marx- und Engelsche Rhetorik zurückzuführen. Während Letztere nur in einem auf Revolution basierenden Richtungswechsel ihr Heil sahen, ging es den deutschen Sozialdemokraten überwiegend um eine Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse - wenn dies auf parlamentarischem Weg ohne Blutvergießen zu bewerkstelligen sei: umso besser. Eine reine Klassenkampfrhetorik konnte Bebel nicht recht sein, und so lehnte er es ab, "unter 'Arbeiterklasse die Lohnarbeit im engeren Sinne zu verstehen'. Vielmehr würden Schriftsteller, Volksschullehrer, einfache Beamte, kleine Handwerksmeister und Kleinbauern, diese 'verschiedenen Klassen', 'ohne Gnade von der modernen Entwicklung bedroht'. Ziel sein daher auch nicht die Klassenherrschaft der Arbeiterklasse, sondern die 'Gleichberechtigung und Gleichstellung Aller'." Die Gleichheitsideale dieser frühen sozialdemokratischen Epoche sollten erst hundert Jahre später in eine Chancengleichheit präzisiert werden.

Auch Bebels kluge Äußerungen angesichts des sich abzeichnenden deutsch-französischen Krieges gehören zu den parlamentarischen Sternstunden auf dem Weg zu einer freien und bürgerlichen europäischen Gesellschaft. Dass ihn dieses politische Credo nach dem Leipziger Hochverratsprozess Festungshaft einbrachte, gibt dieser politischen Grundhaltung ein zusätzliches moralisches Gewicht. Die Reichsgründung, das politische Manifestieren der Kulturnation durch einen Staat, begrüßte Bebel durchaus, wie übrigens die meisten seiner Zeitgenossen, aber der Rest des Bismarck-Wilhelminischen Weges konnte von einem Sozialdemokraten nicht mitgetragen werden. Das Deutsche Reich war konzeptionell eine starke Monarchie, und Bebel wünschte sich eine starke Bürgergesellschaft. Ein Pazifist war Bebel nicht, denn verteidigt hätte er sein Land auch noch in hohem Alter. Doch das Wilhelminische Gebaren im Vorfeld des Ersten Weltkrieges verurteilte er entschieden, denn er fürchtete, wie eingangs erwähnt, den großen Kladderadatsch.

Man kann auf etwas mehr als knapp 240 Seiten keine umfassende Biografie schreiben, die auch noch die ungemein vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Strömungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges umfasst. Doch angesichts des vergleichsweise geringen Umfangs kann man das Buch nur als gelungen bezeichnen.

Bedauerlich ist allerdings das Fehlen eines Personenregisters.

Es wird im Übrigen auch höchste Zeit, diesen großen deutschen Politiker mehr ins Licht der Zeitgeschichte zu rücken.

(Klaus Prinz; 07/2013)


Jürgen Schmidt: "August Bebel. Kaiser der Arbeiter"
Rotpunktverlag, 2013. 287 Seiten.
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Jürgen Schmidt, geboren 1963 in Würzburg. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg, Innsbruck und Berlin (Freie Universität). Wissenschaftlicher Mitarbeiter u.A. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, seit 2009 im Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg "Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive" an der Berliner Humboldt-Universität. Diverse Buchveröffentlichungen. Freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen wie "FAZ", "ZEIT", "Tagesspiegel".