Annette Pehnt: "Lexikon der Angst"


Bei Annette Pehnts "Lexikon" handelt es sich nicht, wie man aufgrund des Titels denken könnte, um ein Sachbuch, sondern um Belletristik, etwa dreißig drei- bis sechsseitige Kurzgeschichten, die allerdings wirklich allesamt die Angst als Hauptthema haben. Umfassendes und Systematisches wird hier also nicht angestrebt, wohl aber ist die Autorin darum bemüht, eine große Bandbreite von Ängsten, denen die Antihelden ihrer Geschichten zum Opfer gefallen sind, zu beschreiben: Angst vor Milch, vor Schweigen, vor Sonne und Schatten, vor Geistern, vor eigenen und Anderer Erwartungen, vor Unfällen und Ansteckungen usw.: eine Angst - eine Kurzgeschichte.

Als zusätzliches gemeinsames Merkmal spielen die Geschichten in einem Raum, den man als im weiteren Sinn bürgerlichen bezeichnen kann. Die Personen führen scheinbar ein ganz normales Leben, haben Beruf und Haushalt, Familie oder zumindest Verwandte, Freunde, ihre kleinen Leidenschaften und Routinen und jede Menge Alltag. Ähnliche Menschen, wie sie Loriot gezeichnet hat, möchte man ergänzen, denn in der Tat erinnert die eine oder andere Szene ein wenig an den großen Humoristen. Doch die Herausarbeitung von Humor ist nicht das Anliegen der Autorin. Hin und wieder lässt sich Komik allerdings nicht vermeiden, etwa in dem tragikomischen Moment, wenn eine Angst gerade das verschuldet, was zu vermeiden ihr Inhalt war, und überhaupt spürt man das verängstigten Menschen stets innewohnende Potential, unfreiwillige Hauptakteure komischer Szenen zu werden und dem Auge eines Anderen mit vielleicht nur geringfügig abweichender Perspektive lächerlich zu erscheinen. Was die Autorin stattdessen mehr interessiert und sie auch entsprechend herausarbeitet, ist so etwas wie die negative Essenz des Angstgefühls, ein düsterer, rein negativer Grundton, der sich durch das ganze Buch zieht und an dem die Figuren mehr oder weniger stark leiden - Phobien und chronische Ängste als ständige verengende Begleiter der von ihnen Befallenen.

Der Ton ist dabei ein nüchterner, ob nun sachlich kühl von äußerer Erzählperspektive die Handlungen der Personen geschildert werden oder, häufiger, deren Innensicht, womit gemeint ist, dass sich die kleinen, weitgehend von der jeweiligen Angst geprägten Innenwelten für die Betroffenen genauso objektiv wirklich anfühlen, ohne es in den meisten Fällen vermutlich zu sein. Zweifel an der Berechtigtheit ihrer Ängste ist den Pehnt'schen Figuren fremd, außer natürlich, wenn der Zweifel Teil des Systems, der Phobie ist, wie beispielsweise in der Angst, ausgelacht zu werden.

Ein weiterer Punkt ist der irrationale Aspekt der Angst, dem die Autorin schon in der quasi surrealistischen Auswahl ihrer Kurzgeschichtentitel Rechnung trägt. Die Beliebigkeit der Gestalt, die die Angst annimmt, wird deutlich gemacht: nicht die Form ist das Wesentliche, wenn da für erfahrene Psychoanalytiker auch manch interessante Ansatzpunkte vorhanden sein können, sondern das Angstgefühl selbst, das irgendwann übermächtig wurde und im Bewusstsein des Opfers mittels einer Scheinbegründung oder auch völlig grundlos Wurzeln geschlagen hat.

Annette Pehnt hat ein beklemmendes Buch geschrieben, das gerade durch die scheinbare Aussichtslosigkeit des Beschriebenen, von Leuten, die weit davon entfernt sind, ihre Ängste zu hinterfragen und sich gegen sie zu wehren, dem Leser diese Möglichkeit umso anschaulicher macht, die verschiedenen Mechanismen, mit denen sich das System Angst am Leben hält, zu durchschauen und seine eigenen Ängste mit größerer Distanz zu betrachten. Auch wenn das aufgrund des im wesentlichen emotionalen Charakters der Angst nur ein erster Schritt wäre.

(Esquilin; 12/2013)


Annette Pehnt: "Lexikon der Angst"
Piper, 2013. 176 Seiten.
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Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Dozentin und freie Autorin in Freiburg. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Ich muß los", für den sie unter Anderem mit dem "Mara-Cassens-Preis" ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den "Preis der Jury" für einen Auszug aus dem Roman "Insel 34", 2008 den "Thaddäus-Troll-Preis" sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den "Italo Svevo-Preis". 2011 erschien ihr Roman "Chronik der Nähe", im selben Jahr erhielt sie den "Solothurner Literaturpreis" sowie den "Hermann Hesse Preis".

Noch ein Buchtipp:

"Inseln des Eigensinns. Beiträge zum Werk Annette Pehnts"

Herausgegeben von Friedhelm Marx unter Mitarbeit von Marie Gunreben.
Einblicke in das Werk einer der wichtigsten und eigenwilligsten Autorin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Im Zentrum von Annette Pehnts literarischem Werk stehen Figuren, die sich am Rande des Gewöhnlichen und gesellschaftlich Etablierten bewegen: So erzählt der Roman "Insel 34" von einer eigenwilligen jungen Frau, die vor der elterlichen Fürsorge auf immer entlegenere und unwirklichere Inseln flieht. In den Romanen "Haus der Schildkröten" und "Mobbing" werden mit dem Seniorenheim und modernen Arbeitsverhältnissen jeweils soziale "Inseln" in den Blick genommen, wobei in der lakonischen Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene immer wieder surreale Momente aufscheinen.
Literaturwissenschaftler aus dem In- und Ausland, Literaturkritiker und Schriftsteller gehen dieser narrativen Mehrdimensionalität im Werk Annette Pehnts nach und widmen sich seinen eigentümlichen Außenseiterfiguren ebenso wie der facettenreichen Auseinandersetzung mit den sozialen Herausforderungen der Zeit. Annette Pehnt leitet den Band mit ihrem Essay "Metapher und Gebet" ein und diskutiert in einem abschließenden Gespräch mit der Schriftstellerin Katja Lange-Müller zentrale Aspekte des Schreibens. (Wallstein)
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