Peter Sprengel: "Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum"

Eine Biografie


Würdigung eines bedeutenden Dramatikers

Gleich zu Anfang dieses über 700 Textseiten umfassenden Werkes verkündet der Autor: "Das vorliegende Buch hat nicht zuletzt deshalb einen gewissen Umfang erreicht - als die ausführlichste Monografie, die je über Hauptmann geschrieben wurde -, weil es den einigermaßen verwegenen Anspruch erhebt, die Verflechtung dieses Schriftstellers mit Zeitgenossen und Zeitgeist möglichst kontinuierlich und mit einer gewissen Ausgewogenheit zu rekonstruieren."

Es sollte keineswegs einen verwegenen Anspruch eines Biografen darstellen, "die Verflechtung dieses Schriftstellers mit Zeitgenossen und Zeitgeist möglichst kontinuierlich und mit einer gewissen Ausgewogenheit zu rekonstruieren." Und wenn man sich die vielen wirklich großen Biografien ansieht, die in den letzten zehn, zwölf Jahren auf dem deutschsprachigen Markt erschienen sind, so ist glücklicherweise festzustellen, dass dieser Anspruch praktizierte Normalität geworden ist. Dabei hat die vorliegende Arbeit es gar nicht nötig, dieses expressis verbis zu betonen, denn sie ist - um das vorwegzunehmen - eine große Biografie eines bedeutenden deutschen Autors, der in den Krisenzeiten des deutschen Intellekts stellenweise strauchelte, doch es strauchelte der homo politicus und weniger der homo poeticus.

Wenngleich der Naturalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen in der Luft lag, musste sich jemand daransetzen und dramatischen Stoff in Alltagsszenen mit Alltagsmenschen in Alltagskleidern und einer realen Sprache des Alltags umsetzen. Hauptmann war einer dieser Autoren, und er beherrschte die Kunst der dramatischen Verkürzung auf außergewöhnliche Weise. Es ist zwar anfangs etwas mühsam, sich in die (nicht immer nur) schlesische Umgangssprache einzufinden, doch die Stücke erhalten dadurch eine weitere Ebene der Authentizität. Die Wirkung auf den Bühnen der Zeit muss enorm gewesen sein. Gleich 44 Dramen weist die Centenar-Ausgabe aus dem Jubiläumsjahr 1962 auf, wovon sicherlich nahezu die Hälfte heute noch zu fesseln vermag, nicht nur die berühmten "Weber". Doch auch seine Prosa enthält einige Perlen wie den "Bahnwärter Thiel" oder den "Ketzer von Soana".

Das Erscheinen der Novelle "Bahnwärter Thiel" im Herbst 1888 etablierte den jungen Autor. Das 1889 erschienene Drama "Vor Sonnenaufgang" bahnte ihm den Weg zu den Bühnen. Selbst Fontane war begeistert. Doch der naturalistische Charakter des Stückes rief bei konservativen Besuchern während der Uraufführung im "Lessing Theater" Proteste hervor, kontrastiert von lauter Zustimmung bei Anhängern der naturalistischen Moderne. Von einem "Schlachtfeld" sprachen die Schauspieler in der Pause, von einem "Hexensabbath" der Presse berichtete Hauptmann selbst.

Eine zentrale Frage hinsichtlich Hauptmanns ist wohl die seines politischen Kerns. Anfangs stand er der Sozialdemokratie nahe und war mit August Bebel bekannt, mit dem er "auf familiärem Fuß" verkehrte, wie Sprengel schreibt. "Die Weber", Hauptmanns frühes Hauptwerk, sind und bleiben ein politisches Drama, auch wenn Hauptmann Sprengel zufolge "der eigentlichen Politik aber eher fernstand" und die Weber "ganz der Dialektik seines sozialen Gegenstands in der Polarität von vitaler Unterdrückung und Energieentladung" geschuldet waren. Insofern sind "Die Weber" sicherlich unpolitisch, indem man sich darauf einigen kann, dass die darin geschilderten Schicksale bedauerliche Einzelfälle sind und darin keine systemische Komponente zur Wirkung kam. Legt man hingegen einen Zusammenhang zugrunde, sind "Die Weber" politisch, wenngleich Hauptmann auch und gerade dies im Hinblick auf seine juristischen Auseinandersetzungen mit den Zensurbehörden abstritt. Auch in einem Telefoninterview mit der schwedischen Zeitung "Social-Demokraten" betonte Hauptmann: "Ich war nie Mitglied einer politischen Partei und werde nie irgendeiner Partei angehören. [...] Ein Künstler darf kein Politiker sein. So etwas bindet zu sehr. Und alle Kunst muß frei sein. [...] In dem Maße wie [Dichtung] politisch gefärbt ist, ist sie nicht länger Kunst. [...] [Die Weber] ist ein rein menschliches Dokument und keineswegs gesellschaftskritisch." Aber auf die Frage, ob er denn keine politischen Sympathien oder Antipathien hege, sagte er jedoch: "Das habe ich nicht gesagt. Doch ich habe keine Lust, die eventuell vorhandene gerade heute zum Nobelfest darzulegen. Dazu ist der Zeitpunkt denkbar ungeeignet."

Zum Ersten Weltkrieg trat er nicht als der große Mahner in der Öffentlichkeit in Erscheinung, doch wer will es dem in Oxford promovierten und in Stockholm nobilitierten Einzelunternehmer des Literaturgewerbes verdenken, wenn er sich in deutlicher öffentlicher Kritik zurückhält? Selbst die Niederlage brachte - zumindest öffentlich - noch keinen Gesinnungswandel zutage, doch wer sein Hexameter-Epos "Till Eulenspeigel" liest, kann Hauptmanns Bild des Ersten Weltkrieges als Menschenverschlinger nachlesen. So heißt es im dritten Abenteuer: "Sie kommt viel zu spät, deine Faulheit, außerdem ist sie billig jetztund. Damals sollten wir faul sein, als es hieß, das Gewehr zu ergreifen, zu rennen im Sturmlauf, die Geschütze zu lösen, die Mördergranate zu schleudern: solche Faulheit erfordert Mut und das Opfer des Lebens!" Auch der "Mann unterm Stahlhelm" beklagt zum Töten aufgestachelt worden zu sein, nach dem Krieg, wohlgemerkt. Die Kirche nimmt Hauptmann im vierten Abenteuer aufs Korn: "[I]ch sah den Ehrwürdigen [Priester] wieder, als er draußen im Felde dem Riesengeschützrohr, genennet Dicke Bertha, den Segen erteilte, abtrünnig dem Heiland!" Das sind sehr deutliche Worte.

Doch Hauptmann und die Politik ist ein unbefriedigendes Thema. Ein Autor mit einem Blick für das Schicksal einfacher Menschen scheint dem politischen Schicksal der Nation gegenüber auf merkwürdige Weise unsensibel, er verweigert sich der politischen Dimension der conditio humana. Wen befällt nicht ein Kopfschütteln, wenn man liest, Hauptmann, der selbst als Präsidentschaftskandidat im Gespräch gewesen war, habe Hindenburg für eine gute Wahl gehalten? Doch ist man andererseits überhaupt in der Lage, das heutige Wissen der Geschichte auch nur für einen Moment außer Acht zu lassen? Wann immer man sich in die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts hineinbegibt, sieht man sich diesem unauflösbaren Dilemma ausgesetzt.

Hauptmanns dichterisches Werk wird nie frei sein von seinen politischen Ansichten, selbst wenn er sich nicht "einmischte". Aber er begrüßte den Anschluss Österreichs und die politische Achse Berlin - Rom. Inwieweit ist das Nationalismus? Er war kein Parteimitglied, ließ sich aber vereinnahmen. Er war empfänglich für die diplomatischen und anfangs auch militärischen Erfolge Hitlers, während der Dichter in ihm den Preis zunehmend als zu hoch betrachtete. Im abschließenden Kapitel stellt Sprengel die widersprüchlichen Äußerungen und Handlungen Hauptmanns gegenüber, ohne zu werten. Das muss jeder für sich entscheiden.

2012 ist ein Hauptmann-Jahr, und die Branche ignoriert ihn weitgehend. Deshalb muss man einmal mehr dem Beck-Verlag zu einer hervorragenden Biografie gratulieren, geschrieben von dem derzeit wohl profundesten Kenner Hauptmanns. Auch wenn das Buch so ganz nebenbei eine gründliche Werkschau betreibt, so fehlt es doch an der dem Autor angemessenen analytischen Literatur: dem Hauptmann-Handbuch. Auch die inzwischen 50 Jahre alte Centenar-Ausgabe ist eine reine Leseausgabe. Bei Metzler ist (auf Nachfrage) nichts in Sicht, nur der gute alte Kindler widmet Hauptmanns Oeuvre ganze 35 Seiten. Ist Hauptmann trotz seines beeindruckenden Werkes politisch nicht unverdächtig genug für ein Handbuch?

"Nun, die Erde liegt in Scherben,
und mich widert all der Graus."

(Klaus Prinz; 10/2012)


Peter Sprengel: "Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2012. 848 Seiten.
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