Harald Hartung: "Der Tag vor dem Abend"

Aufzeichnungen


"Weniger werden / Aber nicht weniger sein."

Geht das überhaupt, fragt man sich unwillkürlich, wenn man das schmale, klassisch edel gestaltete Buch von Harald Hartung in den Händen hält. Reichen 160 Seiten für das Leben eines Intellektuellen und Dichters? Für das, wie es im Klappentext heißt, persönlichste Buch eines achtzigjährigen Lyrikers? Es ist weder Autobiografie noch Tagebuch, es gibt keine Erklärungen oder Fußnoten, kein Vorwort und kein Nachwort, und doch sollen diese knappen Aufzeichnungen das Wesentliche im Denken aufzeigen und so etwas wie eine denkerische Lebensbilanz darstellen.

Die Aufzeichnungen umfassen vierzehn Jahre, reichen von 1998 bis 2012. Sie sind kurz und kommentarlos, beginnen mit einer Wien-Reise und enden mit Betrachtungen zu Philosophie und Poesie. Jahr für Jahr umkreisen sie eindrucksvoll die Interessen des Autors und schaffen auf diese Weise letztendlich ein vielschichtiges Bild von Harald Hartung als Lyriker, Essayist, Kritiker und nicht zuletzt als Privatmann.

Allerdings ein Buch mit Aufzeichnungen, so Hartung in den Worten eines Freundes (beinahe meint man ihn schmunzeln zu sehen), dürfe nicht zu dünn sein. "Ich weiß, und füge schnell diese Notiz hinzu." Wie gut, denkt man im Stillen, dass es doch immerhin 160 Seiten geworden sind. Aphorismen, Reflexionen und Beobachtungen, sorgfältig ausgewählt und mit lyrischer Präzision ausgedrückt, stellen die Werkzeuge dar, mit denen Hartung seinen Kosmos ablichtet. Da finden sich Überlegungen und Kommentare zu Kunst und Literatur, zu Schriftstellern wie Válery, Max Frisch, Rilke, Thomas Mann, Paul Celan, Mörike, Achim von Arnim, André Gide oder Kafka, Reisenotizen aus Venedig, Wien oder auch Marokko, sowie Bemerkungen zum Zeitgeschehen wie dem 11. September 2001, dem Tsunami in Thailand oder dem Kentern der "Costa Concordia". Dazwischen Persönliches, ohne jede Geschwätzigkeit, und Anmerkungen zu  Gesundheitszuständen, die immerhin beweisen, dass er tatsächlich der ist, der er vorgibt zu sein: Ein Mann im fortgeschrittenen Alter.

Besonders eindringlich sind jedoch Hartungs Erinnerungsstücke an seine Kindheit im Nationalsozialismus und seine sich immer hartnäckiger einschleichenden Überlegungen zu Tod und Alter. Nicht umsonst lautet der Titel des Buches "Der Tag vor dem Abend", der diese letzte Lebensphase anspricht. Nicht der Tod an sich ist das Schreckliche, nicht das Sterben beschäftigt Hartung, sondern das Alter und was es mit uns, mit ihm und den Anderen macht. Es sind Fragen, die in der öffentlichen Diskussion kaum thematisiert werden, die aber für kreative Menschen gerade die wichtigsten sind. Was heißt Alter genau? Macht man bis zum Schluss einfach so weiter? Viele seiner Aufzeichnungen kreisen um die Resignation des Alters. Irgendwann, lange bevor sie sterben, so die Beobachtung, hören alle auf zu schreiben oder zu publizieren. Aber sie hören nie auf zu denken. Und er zitiert Max Frisch, der in seinem Tagebuch fragt, warum die Zeichen der Resignation immer indiskret sind? Vermutlich, so, Hartung, weil sie Zeichen von Schwäche sind. "Der Schwäche des anderen zuschauen schwächt auch den Zuschauenden. Aus Selbstschutz wendet er sich ab." Frisch beantwortete schließlich seine Frage in dem Sinne, dass er sein drittes Tagebuch nicht zu Ende schrieb und ebenso das bereits Vorhandene nicht publizierte. Auch das Alter hat ein Recht auf Privatheit.

Auf einer der letzten Seiten notiert Hartung: "Mit den Meistern starben die Schüler aus. Letzte Chance eines Meisters: er kann noch ein Vorläufer werden." Oder auch andersherum: "Der alt gewordene Meister gilt seinen Kritikern als Epigone: Als Epigone seiner Schüler." Wie immer wir auch zum Alter stehen, eine der berührendsten Definitionen liefert er selbst: "Weniger werden / Aber nicht weniger sein." Und reicht  zugleich ein weiteres Hilfsmittel nach: Schreiben, denken, immer wieder. Schreiben als Lebensverlängerung. "Je weniger du notierst, umso schneller stürzt die Zeit. Also weiter." Aber: "Warum weiter?"

Warum weiter? Für wen? Wiederholt kommt der Autor auf diese zentrale Fragen zurück, auf die er eine wunderbare Antwort findet. Der Resignation, die auch die  prominentesten Denker und Künstler mit der Frage "Für wen eigentlich?" heimsucht, stellt er die Zwecklosigkeit der Lyrik entgegen, welche die Freiheit in sich trägt. Poesie, sagt der Lyriker Hartung, ist ein Spiel. Und er zitiert Günter Eich, der auf dem Sterbebett gesagt haben soll: "Ich möchte nur noch spielen." Das Spiel  gibt uns die Freiheit aufzuhören, ohne uns zu verlieren. Der Spielende fragt niemals: "Für wen eigentlich?"

Mit diesen Sätzen enden die Aufzeichnungen des Harald Hartung. Und sagen mehr als ein Nachwort je sagen könnte.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 08/2012)


Harald Hartung: "Der Tag vor dem Abend. Aufzeichnungen"
Wallstein Verlag, 2012. 160 Seiten.
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Harald Hartung, geboren 1932 im westfälischen Herne, ist als Lyriker, Kritiker und Essayist in Berlin tätig. Hartung erhielt zahlreiche Preise: u.A. den "Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis" (1989), den "Premio Ruffino-Attico Fattore" (1998), den "Preis der Frankfurter Anthologie" (2004), den "Würth-Preis für Europäische Literatur" (2004) und den "Johann-Heinrich-Merck-Preis" (2009).

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Wintermalerei"

Harald Hartung ist ein genauer Beobachter. Er hält die Dinge fest, wendet sie spielerisch nach allen Seiten, befragt sie und bringt sie in eine neue Form. In "Krieg und Nachkrieg" greifen die Erinnerungen zurück; der Waschtrog im Luftschutzkeller wird evoziert, die von der Mutter im Juni 1945 erbettelte Dose Apfelmus, der "ferne Sommer mit Eliot". Hartung hält Zwiesprache mit Kollegen, erweist Inger Christensen oder W. H. Auden Reverenz. Gewiss zählt Hartung zu den Melancholikern, aber zu jenen, die wissen, dass die Zuflucht zur Apokalypse schlicht sinnlos ist. Das Weltende nimmt sich Zeit: "Es trifft uns an bei bester Verfassung". Das Gedicht ist Hoffnung wider alle Hoffnung. "Wintermalerei" setzt der Kälte der Welt Bilder entgegen, die jäh aufleuchten. (Wallstein)
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"Ein Unterton von Glück. Über Dichter und Gedichte"
Harald Hartung ist ein Kenner der internationalen Lyrik, der Geschichte der Gattung, ihrer Formen. Seine Essays sind voller Anmut und lehrreich zugleich - für die Leser und für die Schreiber von Gedichten.
Der Dichter Harald Hartung, der ein bedeutendes lyrisches Werk vorgelegt hat, ist zugleich einer der besten Lyrikkenner. Seine Kritiken setzen Maßstäbe. In Essays und Anthologien bringt er uns die Stimmen der Weltlyrik nahe.
Es ist der "Unterton von Glück", den Hartung in seinen Essays über Dichter und Gedichte zum Klingen bringt. Er entwickelt auf amüsante Weise, wie die Langeweile für Goethe zur Mutter der Musen wird, oder wie Dampfschiff, Mergelgrube und trunkene Flut bei der Droste zusammenkommen. Von den Gedichten Alfred Brendels schlägt er den Bogen zurück zu Erich Kästner. Er zeigt auf, wie sich der frühe Celan auf Trakls Palette bezieht. Oder Robert Schindel auf Lethe und Memoria, Günter Kunert auf eine verlorene Utopie. Hartung betreibt die Wiederentdeckung Ernst Meisters und Ludwig Greves. Er liest aus den Oden jene Freiheit, wie sie die strenge Form erst ermöglicht. Nicht zuletzt spricht der Lyriker Hartung in eigener Sache, wenn er die Erfahrungen beim Schreiben reflektiert. (Wallstein)
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"Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957-2004"
"Aktennotiz meines Engels" fasst sämtliche Gedichtbände Harald Hartungs zusammen, ergänzt um neue Gedichte aus den Jahren 2002 bis 2004.
Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut verwandeln sie alte Formen in neue Verfremdungen und lassen Trauer in Ironie, Witz in Empfindung umschlagen. Sie tarnen sich als "arme Kunst" und zeigen einen Reichtum der Töne, der in der gegenwärtigen Lyrik einzig ist. (Wallstein)
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