Katharina Hagena: "Vom Schlafen und Verschwinden"
Ein dichtes, poetisches Werk
mit hoher Spannung bis zum Ende
In ihrem sehr erfolgreichen Buch "Der Geschmack von Apfelkernen" hat die 1967 in
Karlsruhe geborene, nun in Hamburg lebende Autorin Katharina Hagena die
Geschichte von Iris erzählt, einer jungen Frau, die sich nach dem Tod ihrer
Großmutter Bertha damit konfrontiert sieht, dass diese ihr das Haus vererbt hat,
in dem sie lange lebte und das Iris aus ihrer Kindheit sehr gut kennt.
Mit einer wunderbaren und poetischen Sprache voller Hinter- und Tiefsinn ist es
Katherina Hagena in diesem Buch gelungen, Iris nicht nur auf die Spur in die
eigene Kindheit zu setzen, sondern auch in die Geschichte ihrer Verwandtschaft:
"Und ich stellte fest, dass nicht nur das Vergessen eine Form des Erinnerns
war, sondern auch das Erinnern eine Form des Vergessens."
Die Seelenarbeit der Protagonisten hatte damals sogar für den Leser etwas
Heilendes.
Folglich hat der Rezensent mit Spannung den Roman "Vom Schlafen und
Verschwinden" begonnen und wurde auch dieses Mal nicht enttäuscht. Denn auch die
Ich-Erzählerin des Buches "Vom Schlafen und Verschwinden", Ellen Feld, ist an
irgendeinem Punkt ihres Lebens mit der Frage ihrer bisherigen Lebensgeschichte
konfrontiert. Und sie muss zusammen mit einem mit jedem weiteren Kapitel von der
Handlung gebannteren Leser langsam erkennen, welche bislang unbekannten Menschen
und Geschehnisse ihr Leben geprägt haben.
Jedes Kapitel beginnt mit einer kursiv gedruckten, chronologisch fortlaufenden
Notiz aus Marthes Chortagebuch. Sie ist vor einiger Zeit in den kleinen Ort
Grund am Rhein in der Nähe von Karlsruhe gekommen und hat sich sofort bereit
erklärt, in einem kleinen Chor mitzusingen, den Ellens Vater gründet, um John
Dowlands (1562-1626) Lied "Komm, schwerer Schlaf" einzuüben. Der Chor soll es
bei der Beerdigung der unheilbar kranken Mutter Ellens singen.
Ellen Feld, von Beruf Schlafforscherin und selbst unter schweren
Schlafstörungen
leidend, erzählt die Geschichte aus einer rückblickenden Perspektive. Sie lebt
mit ihrer fast erwachsenen Tochter Orla mittlerweile in Hamburg, nachdem eine
Beziehung mit einem Mann namens Declan in
Irland gescheitert ist. Ellen und Orla
gingen danach zurück nach Grund, wo sich im Zusammenhang mit der Einübung von
"Komm, schwerer Schlaf" die Haupthandlung zuträgt.
Ist die Verfasserin der Chortagebuchs, Marthe, zunächst noch eine fast
unsichtbare Person, deuten doch ihre Aufzeichnungen immer mehr darauf hin, dass
sie mit der Lebensgeschichte von Ellen Feld und deren Tochter Orla mehr zu tun
hat, als diese denken. Langsam und behutsam, mit viel Poesie von Liebe und Tod
erzählend, entwirrt Katharina Hagena in vielen Rückblicken Ellens die
Schicksalsfäden dieser beiden Frauen und führt den Leser in tiefe Reflexionen
über die Macht des Schlafs. Sie zeigt schlussendlich, warum und wofür es sich
lohnt, wach zu bleiben und der verhängnisvollen Anziehungskraft des
Schlafes/Todes zu widerstehen.
(Winfried Stanzick; 11/2012)
Katharina Hagena: "Vom Schlafen und Verschwinden"
Kiepenheuer & Witsch, 2012. 288 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:
"Der Geschmack von Apfelkernen"
Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der
Großmutter, geheimnisvoll die Geschichten der Tanten. Katharina Hagena erzählt
von den Frauen einer Familie, mischt die Schicksale dreier Generationen. Ein
Roman über das Erinnern und das Vergessen - bewegend, herrlich komisch und klug.
Als Bertha stirbt, erbt Iris das Haus. Nach vielen Jahren steht Iris wieder im
alten Haus der Großmutter, wo sie als Kind in den Sommerferien mit ihrer Kusine
Verkleiden spielte. Sie streift durch die Zimmer und den Garten, eine aus der
Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiß und als
konservierte Tränen eingekocht werden, in der ein Baum gleich zweimal blüht,
Dörfer verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln.
Doch der Garten ist inzwischen verwildert. Nachdem Bertha vom Apfelbaum gefallen
war, wurde sie erst zerstreut, dann vergesslich, und schließlich erkannte sie
nichts mehr wieder, nicht einmal ihre drei Töchter.
Iris bleibt eine Woche allein im Haus. Sie weiß nicht, ob sie es überhaupt
behalten will. Sie schwimmt in einem schwarzen See, bekommt Besuch, küsst den
Bruder einer früheren Freundin und streicht eine Wand an.
Während sie von Zimmer zu Zimmer geht, tastet sie sich durch ihre eigenen
Erinnerungen und ihr eigenes Vergessen: Was tat ihr Großvater wirklich, bevor er
in den Krieg ging? Welche Männer liebten Berthas Töchter? Wer aß seinen Apfel
mitsamt den Kernen? Schließlich gelangt Iris zu jener Nacht, in der ihre Kusine
Rosmarie den schrecklichen Unfall hatte: Was machte Rosmarie auf dem Dach des
Wintergartens? Und was wollte sie Iris noch sagen?
Iris ahnt, dass es verschiedene Spielarten des Vergessens gibt. Und das Erinnern
ist nur eine davon. (KiWi)
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