Nadine Gordimer: "Keine Zeit wie diese"


Leben in Südafrika nach Apartheid

Die südafrikanische Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer war und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Afrikas, eine moralische Instanz und eine vehemente Kämpferin für Gerechtigkeit. In den Jahren der Apartheid war, ich denke, die Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen, jedes ihrer Bücher eine Anklage gegen das ungerechte System, das die Menschen ihres Landes in unterschiedliche Kategorien eingeordnet hatte, natürlich mit ganz unterschiedlichen Rechten.

Ihr Roman "Keine Zeit wie diese" beschäftigt sich mit dem Leben in Südafrika in den Jahren nach dem Ende von Apartheid.

Steve und Rebecca Jabulile sind ein Paar. Er ist weiß, mit jüdischer Mutter und nicht-aktiv-katholischem Vater. Sie schwarz, die Tochter eines methodistischen Pfarrers. Kennen und lieben gelernt haben sich die beiden in Zimbabwe (Rhodesien), als ihre Liebe in Südafrika verboten war. Steves Tätigkeit im „Untergrund“ gegen das Regime als bindende Kraft in ihrer Beziehung. Die beiden heiraten, als es noch gesetzlich verboten ist. Zur Sicherheit ist Jabuliles Name am Postfach nicht extra angeführt.

Die Zeiten ändern sich. Während ihres gemeinsamen Kampfes gegen die Apartheid wissen beide genau, wo sie stehen, was ihnen in ihrer Beziehung einen festen Rückhalt gibt. Nun, in der Zeit danach, in der plötzlich alles geht, müssen sie sich erst finden.

Beide bilden sich weiter, erklimmen unterschiedliche Beförderungsstufen, bis sie sich eines Tages plötzlich als typisches Mittelklassepaar mit Kind in einem typischen, modischen Vorort erkennen müssen. Jabulile wird Rechtsanwältin, während Steve seine Kenntnisse in die Wissenschaft einbringt und Lehrer wird.

Sie beobachten, wie Nelson Mandela die politische Bühne verlässt, während immer unsympathischere Menschen Einzug in der Politik halten. Menschen wie der spätere Präsident des Landes Jacob Zuma, der sich alibihaften Prozessen wegen Bestechung und Vergewaltigung mit einem Lächeln stellt. Sie sorgen sich, dass das Land, für dessen Freiheit sie gekämpft haben, durch Armut, Arbeitslosigkeit, AIDS, Regierungsskandale, durch Überflutung von Immigranten aus den umliegenden Ländern und vor allem auch durch Gewaltverbrechen in den Abgrund stürzt. Das von den Fesseln der Apartheid befreite Land ist weit davon entfernt, eine sichere und zuverlässige Demokratie zu sein.

Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass auch ehemalige Mitkämpfer gegen Apartheid, Gier und Korruption gierig und korrupt geworden sind, sich dem neuen System bestens angepasst haben. Wer zuerst kommt und die kräftigsten Schultern hat, kommt weiter. Ethik und Moral werden hinten angereiht, weil davon niemand satt zu bekommen ist.

Und so beginnt Steve, sich mit der Idee der Auswanderung nach Australien beschäftigen, um seiner Familie vielleicht auf diesem Weg eine sichere Zukunft in einem Land zu bieten, in dem man sich wenig Sorgen darum machen muss, wegen ein paar Rand aus nächster Nähe abgeknallt zu werden.

Nadine Gordimers Text beschäftigt sich mit dem Innenleben dieser Familie und teilt seine Botschaft fast beiläufig zwischen den Zeilen mit. Aus wechselnden Erzählperspektiven, aus erster Instanz oder aus der Perspektive eines doch besser wissenden Erzählers, der sich teilweise in das sich dem Leser öffnende Gehirn der Protagonisten einschleicht, breitet die Literaturnobelpreisträgerin ihren Roman langsam vor dem und für den Leser aus.

Starke Momente streuen den Weg, zum Beispiel als Jabulile erkennen muss, dass ihr geliebter Vater alle Anklagen gegen Zuma nur als Versuch der Diffamierung sieht, oder die Beschreibung der Jabulile liebenden Schwägerin Brenda, die Jabulile bei jeder Gelegenheit herzt und umarmt, in deren Kopf aber ständig klischeehafte Vorstellungen über "Schwarze" herumgeistern. Auch die Beschreibung der Ausflüge der beiden Kinder in das Dorf des Großvaters gehört zu den Höhepunkten dieses Romans.

Wenngleich dem großartig von Barbara Schaden übersetzten Roman hie und da ein wenig zu viel Abschweifen und das eine oder andere Wort zu viel vorgeworfen werden könnte, ist die große Stärke von "Keine Zeit wie diese" das Untertreiben. Ohne dieses Tiefstapeln hätte der Text leicht zu einem politischen Pamphlet verkommen können, so ist es ein großer, wichtiger Roman für das Verständnis des neuen Südafrikas geworden. Nadine Gordimer stellt weiterhin wie gewohnt ihre unangenehmen Fragen, die sich hier im konkreten Fall mit den Schwierigkeiten beschäftigen, die auftreten, wenn nicht integre oder unzureichend rückgratstarke Personen die neu gewonnene Freiheit verwalten.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 11/2012)


Nadine Gordimer: "Keine Zeit wie diese"
(Originaltitel "No Time Like The Present")
Aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Berlin Verlag, 2012. 506 Seiten.
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