Juli Zeh: "Corpus Delicti"

Ein Prozess


Ein Roman der Tendenzen
"Das Mittelalter ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur."


Das werden einige von Mia Holls letzten Worten sein. Einige von den letzten Worten, die sie im erstmals anno 2009 erschienenen Roman von Juli Zeh sprechen wird. In einem Zeitalter, das dem jetzigen, dem unseren sozusagen, gar nicht so fern liegt. Irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts spielt Zehs Veröffentlichung. Die Welt hat sich von kranken Menschen, von so etwas wie Krankheit generell verabschiedet. In septischen Zuständen lebt die Zivilisation, und auf das 20. Jahrhundert blickt man in verachtenden Parolen zurück. Dort nämlich gab es so etwas wie Arztbesuche, das Erleben einer Krankheit noch - das allerdings ist eine Zeit, die nun weit zurückliegt und von der METHODE, diesem dem neuen Staat zugrundeliegenden System, das letztlich einer Gesundheitsdiktatur gleicht, abgelöst wurde. Mia Holl ist Naturwissenschaftlerin, Biologin.
"Ihren Körper hat Mia nie geachtet oder geliebt. Der Körper ist eine Maschine, ein Fortbewegungs-, Nahrungsaufnahme- und Kommunikationsapparat, dessen Aufgabe vor allem im reibungslosen Funktionieren besteht."

Und doch wird sie von der METHODE angeklagt. Sie steht vor Gericht, weil sie nach dem Selbstmord ihres Bruders Moritz, der durch einen DNS-Test der Vergewaltigung und des Mordes an einer jungen Frau überführt worden ist, an der Rechtmäßigkeit der METHODE zweifelt.
Mia glaubt an die Unschuld ihres Bruders, der sich der Justiz durch Selbstmord entzogen hat. Mia lebt nicht mehr im Glauben an die METHODE, sie vegetiert dahin und lässt sich in ihrem dem System entgegenstrebenden Verhalten von Wahnerscheinungen und (!) einem kräftigen Willen leiten.
In greifbarer Nähe hat Juli Zeh ihren Roman angelegt und einen Staat geschaffen, in dem so etwas wie Krankheit oder Unsauberkeit nicht mehr vorkommt. Eine ideale Welt, mag man meinen, in der in jedem Haushalt ein Trainingsgerät steht, an dem man jeden Tag seine der Gesundheit förderlichen Kilometer zurücklegt und in der Essen offensichtlich nicht mehr dazu dient, überflüssigem Genuss zu frönen, sondern schlicht der Erhaltung des Körpers für die alltäglich wichtigen Funktionen.
Das Wort Funktion ist ein sehr wichtiges innerhalb des Romans und wird ad absurdum geführt durch eine Protagonistin, die durch den kurz zurückliegenden Freitod ihres geliebten Bruders in eine Sinnkrise gestürzt wird, der sie nicht mehr entfliehen kann, egal, welcher Meinung oder welcher Hilfestellung sie sich auch unterziehen mag. Ohne eigene Befähigungskraft, den vor sich gehenden Prozess zu steuern, mehr oder minder, wird Mia Holl mit der Anklage, die gegen sie geführt wird, zur Symbolfigur für einen Staat, der Dreck und Schwäche nicht mehr erlaubt und alle diese Ausbrüche aus der Normalität durch den Zugriff über einen Chip im Oberarm verfolgen kann.
"Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet [...] Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existenziellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an 'funktioniert' oder 'funktioniert nicht' hält [...]."

Das werden Mias Worte sein, die sie übrig hat für diese Gesellschaft, die der Seele und dem herzlichen Sein des Menschen nur noch unter der Beachtung der Norm des weiblichen oder männlichen Körpers nahekommt. Und so baut Juli Zeh einen Roman, der von der widersprüchlichen Vorgehensweise eines Systems geleitet ist, das sich der Unfehlbarkeit verschrieben hat und diese mit allen nötigen Mitteln verteidigen muss. Dass eine solche Methode dabei nicht von ihren Wurzeln getrennt werden kann, mag das System vertuschen wollen, die stets auf das verdammte 20. Jahrhundert verweisenden Aussprüche allein zeigen schon, dass sich ein Konzept, das sich von diesen Idealen abgrenzen möchte, auch immer an diesen misst. Eine Abkehr ist nur in einer Überwindung möglich, die den Rückbezug auf das frühere, angeblich schlechtere nicht mehr benötigt.
Juli Zehs Roman allerdings ist durchzogen von diesen Rückbezügen, nur so kann der Roman, der von einem in dieser Hinsicht gut informierten zeitgenössischen Leser konsumiert wird, gelesen werden. Diese sehr drastische und mit vielen Wendungen versehene Geschichte von Mia Holl bleibt immer auch eine Andeutung und setzt sich vor allem mit juristischen Vorgehensweisen und Denkfragen auseinander, die in die sogenannte Privatsphäre des Individuums drängen. Denn sobald ein Mensch in der METHODE der Norm nicht mehr entspricht, wird er zum Problem für die METHODE. Fragen nach Selbstinteresse und dem Recht auf das Selbst werden laut.

"Die METHODE gründet sich auf die Gesundheit ihrer Bürger und betrachtet Gesundheit als Normalität. Aber was ist normal? Einerseits alles, was der Fall ist, das Gegebene, Alltägliche. Andererseits aber bedeutet ‚normal’ etwas Normatives, also das Gewünschte. Auf diese Weise wird Normalität zu einem zweischneidigen Schwert. Man kann den Menschen am Gegebenen messen und zu dem Ergebnis kommen, er sei normal, gesund und folglich gut. Oder man erhebt das Gewünschte zum Maßstab und stellt fest, dass der Betreffende gescheitert sei. Ganz nach Belieben."

Juli Zeh webt ihre Geschichte mit sehr gegensätzlichen Figuren und in sich ambivalenten Charakteren, mit denen der Leser mitfiebert und denen er in der Selbstreflektion auf die Systemgegebenheiten Sympathie und/oder Antipathie entgegenbringen wird. Immer wieder wird der Drang zum Erleben des eigenen Körpers mit der Funktionsweise von technischen Geräten in Verbindung gebracht. Die Funktion des Körpers, des Lebens, des Seins, der Dinge im Sein spielt eine zentrale Rolle in "Corpus Delicti", und das Buch macht schon aufgrund seines Titels darauf aufmerksam, dass ein einzelner Mensch zur Spielfigur eines Systems werden kann, wenn es sich selbst beweisen muss.

Der Roman kommt mit gewissen Ambivalenzen daher. Er beginnt mit einem Vorwort, das sich wie ein Text aus einem Sachbuch liest und auf den ersten Blick, mit dem Unwissen bezüglich des vorliegenden Buches, nicht wie ein fiktiver Text allein gelesen werden kann, denn das Vorwort spielt uns als Leser eine Wirklichkeit vor, derer man sich vielleicht nicht ganz sicher ist, die man aber erst im Laufe des Lesevorgangs gesichert einstufen kann. Des Weiteren changiert das Buch zwischen Gegenwart und Vergangenheit und verflicht die Glaubensgeschichte von Moritz und Mia Holl so ineinander, dass sowohl die juristische Vorgehensweise eines sich selbst schützenden Staates als auch die psychologische Reaktion der Protagonistin nachvollzogen werden kann. Immer wieder greift ein Erzähler in das Geschehen ein, der dem Leser klarzumachen versucht, warum er diese Geschichte überhaupt erzählt. Anscheinend geht es hier um das Verständlichmachen eines Einzelschicksals, es soll einmal gezeigt werden, warum ein Mensch zum "Täter" aus der Sicht des Staates werden kann. Dass dahinter so einige in absoluter Verständlichkeit liegende Gründe zu finden sind, aber wohin das Ganze führen soll, das vermag am besten dieser Roman selbst bis zu seinem eigenen, ganz ambivalenten Ende zu erzählen.

Einige Kritiker Zehs werfen der Autorin immer wieder vor, sie beschreibe inhaltsleere Figuren, die zu keinem wirklichen Leben fänden, ihre Romane seien konstruiert und dadurch nicht glaubhaft.
Ich sehe im vorliegenden Buch eine durchaus sehr glaubhafte Geschichte, die auch im Handeln ihrer Figuren sehr viel Lebensnähe erzeugen kann und natürlich durch seine dystopisch ausgerichteten und damit ganz klar systemtheoretisch orientierten Inhalte überzeugen will und dies ohne Abstriche tut.
In manchen Punkten erscheinen mir einige Dialoge etwas phrasenhaft, und die Vielschichtigkeit des Buches verliert sich im Plauderton sowie in einem etwas schrägen Sarkasmus, der mich als Leserin nicht überzeugt.
Aber ich spreche mich in allen anderen Punkten eindeutig für "Corpus Delicti", ein Buch, das viele Diskussionen entfachen kann, aus.

(Christin Zenker)


Juli Zeh: "Corpus Delicti. Ein Prozess"
btb, 2010. 272 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin:

"Unterleuten"

Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn es gibt nicht nur den Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Es gibt auch den nach wie vor untergründig schwelenden Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist ...
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