Antonio Muñoz Molina: "Mondwind"


Der Staub des Meeres der Stille

Antonio Muñoz Molina, der im deutschsprachigen Raum leider viel zu wenig Beachtung findet, gehört in seinem Heimatland zweifellos zu den herausragendsten Autoren. Mit seiner virtuosen Prosa hat er seit den 1980er-Jahren immer wieder Publikum wie Kritik gleichermaßen beeindruckt und ist trotzdem im deutschen Sprachraum kaum bekannt.

Dabei ist sein literarisches Werk äußerst vielschichtig. Der in Úbeda in Andalusien geborene Schriftsteller, der 1988 den "Spanischen Staatspreis" für Literatur und 1991 für den Roman "Der polnische Reiter" den "Premio Planeta", den wichtigsten spanischen Literaturpreis erhielt, scheut weder vor einem Krimi ("Die Augen eines Mörders"), noch vor so gewichtigen Themen wie Flucht, Exil und Judenverfolgung ("Sepharad") zurück. Mit "Mondwind" hat er einen Entwicklungsroman seiner (?) Jugend geschrieben. Bereits in "Der polnische Reiter" machte er das Fernweh eines Jungen zum Thema, der davon träumt, der Enge seines kleinen Dorfes Mágina, einem andalusischen Provinznest, zu entkommen, indem er sich die große weite Welt vor dem Radio herbeiträumt. Und ebenso lässt er in "Mondwind" den dreizehnjährigen Ich-Erzähler vom Ausbruch aus der ländlichen Eintönigkeit, "der unmittelbaren Wirklichkeit (...) mit all den Pflichten und ihren erbärmlichen Entschädigungen, den düster strafenden Vorgaben der theologischen Welt" und der Weite träumen, nur dass sie dieses Mal das Ausmaß von 380 000 km annimmt.

Das Jahr 1969 markierte in der Entwicklung der Zivilisation einen Meilenstein. Auch wenn die Eroberung des Mondes zu den nutzlosesten Vorhaben der Menschheit gehörte, so standen die Tage vom 16. bis zum 20. Juli stellvertretend für den enormen technischen Wandel, der auch von der entfernten bäuerlichen Provinz, in der der Junge aufwächst, Besitz ergreift. Obwohl dort immer noch das "Höchste, was sie von der Zukunft verlangen, ist, dass sie dem Besten der Vergangenheit gleicht".
Vom Start in Kap Kennedy bis zum ersten Fußtritt eines Menschen auf unseren Erdtrabanten verfolgt der Junge am neu angeschafften Fernseher gebannt die Reise der drei Männer zum Mond. Er, der lieber Bücher über die Erdgeschichte, Captain Cooks Weltumsegelungen oder Darwins Reise mit der "Beagle" liest, als in die Fußstapfen seines Vaters, eines Gemüsebauern, zu treten, erkennt, dass Kirche, religiöse Ansichten sowie die fest verankerten Traditionen seiner Familie immer mehr im Widerspruch zu seinem sich entwickelnden Weltbild stehen, das den Sprung aus der ptolemäischen Welt in die des Galileo und Newton bereits vollzogen hat. "Die Geschichte des uns von den fünfhundert Millionen Jahre alten Versteinerungen des Kambriums bezeugten Ausbruchs zahllosen Lebens ist viel verblüffender als die der Erschaffung der Welt in sechs Tagen durch einen Gott, den er sich so unerforschlich und zornig vorstellt wie den Pater Direktor oder Generalissimus Franco."

Antonio Muñoz Molina hat dem Hauptstrang seines Romans den zeitlichen Rahmen der us-amerikanischen "Apollo 11"-Mission gegeben. In kunstvollen Sätzen, die etwas von einer "streichelnden Zärtlichkeit" haben, fließt seine Erzählung in einem ganz eigenen Rhythmus über die Seiten. Dabei entwickelt er in seinen Beschreibungen eine dichte Atmosphäre der damaligen Zeit. Er erzeugt vor dem Auge des Lesers eine unglaublich hohe Suggestivkraft und intensive optische und akustische Bilder, streckenweise ist das reine Poesie. Allerdings erfordert der Duktus des Spaniers erhöhte Konzentration und Geduld, denn Muñoz Molina springt unvermittelt von Außensicht zu Innensicht und zurück, vom Ich zum Er zum Du. Kapitel, ausschließlich in Dialogform gehalten, wechseln mit melancholischen Betrachtungen des Ich-Erzählers oder gar der Sichtweise von Michael Collins, des im Raumschiff verbliebenen Piloten des Kommandomoduls, ab. Aber gerade die Sprache ist das Medium dieses bemerkenswerten Autors. Mit ihr arbeitet er, formuliert, malt, dichtet, beobachtet, analysiert, verfeinert bis zum perfekten Ausdruck, der stellenweise beinahe ein symphonisches Ausmaß annimmt. Hervorzuheben ist gleichfalls die großartige Leistung des Übersetzers Willi Zurbrüggen, der dem deutschsprachigen Leser diese Sprachmelodie ungebrochen zugänglich gemacht hat.

Kein literarisches Leichtgewicht, aber "Mondwind" des spanischen Autors Antonio Muñoz Molina gestaltet sich als ein anspruchsvolles, poetisches und farbenreiches  Lesevergnügen. Die erste bemannte Raumfahrt zum Mond steht dabei stellvertretend für das Erwachsenwerden des dreizehnjährigen Ich-Erzählers. Gestern und Heute, Vergangenheit und der offene Blick in die Zukunft, Sehnsucht nach Weite (auch des Geistes), Fortschritt und rückwärts gerichtete religiöse Sichtweisen sowie das Aufeinanderprallen von Weltbildern sind die Themen dieses großartigen Buches.

"Um der zu sein, der zu sein ich mir vorstelle, oder der ich sein möchte, muss ich fliehen ..." (aus "Mondwind").

(Heike Geilen; 02/2010)


Antonio Muñoz Molina: "Mondwind"
(Originaltitel "viento de la luna")
Deutsch von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt, 2010. 335 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Antonio Muñoz Molina wurde am 12. Jänner 1956 in Úbeda, Andalusien, geboren. Er studierte Journalismus in Madrid und Kunstgeschichte in Granada. Sein belletristisches Werk ist vielfach preisgekrönt; so wurde er beispielsweise gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. 1995 wurde er in die "Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung" aufgenommen.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Nacht der Erinnerungen"

Madrid 1935/36, am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs: Ignacio Abel, ein erfolgreicher Architekt, beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit der attraktiven US-Amerikanerin Judith Biely. Als Ignacios Frau das Verhältnis entdeckt, versucht sie, sich umzubringen. Judith, geschockt und geplagt von Gewissensbissen, verschwindet spurlos. Auf der Suche nach ihr irrt Ignacio durch die Straßen von Madrid, in denen die politische Lage sich zuspitzt.
Wie durch ein Wunder gelingt es ihm, einem Erschießungskommando zu entkommen und nach Amerika zu fliehen. Dort trifft er überraschend Judith wieder, mit der er eine letzte Nacht verbringt, die große "Nacht der Erinnerungen".
Kunstvoll verknüpft Muñoz Molina die Schicksale zu einer Geschichte von später Liebe, Verrat und verpassten Gelegenheiten in Zeiten des Krieges. Ein großer europäischer Gesellschafts- und Zeitroman - sprachlich brillant und meisterhaft komponiert. (DVA)
Buch bei amazon.de bestellen

"Sepharad. Ein Roman voller Romane"
"Sepharad": der hebräische Name für Spanien. Dem Land, aus dem die Juden 1492 vertrieben wurden. Und das Land, in dem sie Mitte des 20. Jahrhunderts Zuflucht suchten vor dem Terror Hitlers und Stalins.
Nach dem Motto "Wo immer ein Mensch hingeht, trägt er seinen Roman mit sich" spinnt Muñoz Molina solche Lebenslinien aus. Aus der Vielfalt realer und erfundener Lebenswege entsteht die Gesamtschau eines zerrissenen und gewalttätigen Jahrhunderts.
Muñoz Molinas Opus magnum: ein großer Roman über Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert. (Rowohlt)
Buch bei amazon.de bestellen

"Siesta mit Blanca"
Blanca ist sensibel, weltoffen und künstlerisch begabt, ihr Mann einfach, geradlinig und seiner Frau treu ergeben. Er ist glücklich mit ihr, sie dagegen sehnt sich nach einem aufregenden, wilden Leben. Als Mario eines Tages nach Hause kommt ist Blanca verschwunden.
Und so füllt Mario die Leere in Haus und Herz, indem er sich Blanca neu erfindet - ein feines Gedankenspiel zwischen Schmerz, Sehnsucht und Hoffnung, das die Vermisste näher bringt, als sie ihm jemals war. (Rowohlt)
Buch bei amazon.de bestellen

"Die Augen eines Mörders"
Der Sexualmörder schlägt bei Vollmond zu. Sein jüngstes Opfer: ein zehnjähriges Mädchen. Vom Täter finden sich Zigarettenstummel, Blut und Schamhaare. Der Inspektor sucht ihn mit der Besessenheit eines Mannes, der ein persönliches Unglück kompensieren muss. Denn er ist neu in der kleinen südspanischen Stadt, und seine Kollegen betrachten den einstigen Spitzel in Francos Diensten mit Argwohn. (Rowohlt)
Buch bei amazon.de bestellen

Noch ein Buchtipp:

Wolfram Weimer (Hrsg.): "Andalusien. Ein Reiselesebuch"

Millionen kommen und gehen. Andalusien ist die meistbesuchte Provinz Spaniens. Ein Inbegriff von Süden, ein Mekka des modernen Sonnentourismus. Doch den meisten bleibt das wahre Andalusien verborgen. In diesem Reiselesebuch wird das Geheimnis gelüftet. Es reihen sich Reportagen, Analysen, literarische Streifzüge und erzählende Skizzen zu einem Band der feinsinnigen Begegnung. Wer wissen will, was jenseits von Kampfstieren und edlen Pferden, Flamenco und weiß getünchten Dörfern, von Sherry und Fiestas zu entdecken ist, der liest hier richtig. Dieses Buch öffnet einen Fächer der Andalusien-Feuilletons, die in Granada mehr als nur die Alhambra, in Marbella mehr als nur die Golf-Millionäre und in Sevilla mehr als nur die Kathedrale im Auge haben. (Ellert & Richter)
Buch bei amazon.de bestellen