Michael Köhlmeier: "Madalyn"


Wenn der große Sehnsuchtsklotz zerbricht

Schmetterlinge im Bauch, schwebend auf Wolke sieben, Händchenhalten, Liebesbriefe, der erste Kuss und womöglich das "erste Mal". Die Rede ist von der ersten Liebe. Wer erinnert sich nicht gern daran zurück? Sie ist wohl die emotionalste Zeit im Leben, in der man die Welt neu ergründen möchte. Und um genau die geht es in Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn", nur läuft sie in seiner Erzählung nicht ganz so schwerelos für die Protagonistin ab.

Wie bereits in seinem Opus Magnum, dem im Jahr 2007 für den "Deutschen Buchpreis" nominierten "Abendland", agiert auch in "Madalyn" der Schriftsteller Sebastian Lukasser, dieses Mal als Ich-Erzähler. Auch hier schüttet ihm ein Anderer sein Herz aus. War es in "Abendland" der 95-jährige Carl Jacob Candoris, der seine Lebenserinnerungen, die sich schon bald als eine Art Geständnis herauskristallisieren, diktiert, so setzt der österreichische Autor dieses Mal ein vierzehnjähriges Mädchen in die Rolle der Beichtenden. Sie wählt Lukasser - Köhlmeiers Alter Ego - als ihren Vertrauten, dem sie von den ersten aufregenden Gefühlen erzählt, die sie für einen Mitschüler hegt, sowie den damit einhergehenden Problemen mit ihren Eltern.

Der Autor kennt Madalyn schon seit ihrer Geburt, die Familie Reis wohnt ein Stockwerk unter ihm. Ein Unfall, in den die Fünfjährige mit ihrem zum Geburtstag erhaltenen Fahrrad verwickelt wird, schweißt die Zwei eng zusammen, und Lukasser wird so etwas wie ein großer Freund, ein Vertrauter für das heranwachsende Mädchen.
Doch dann tritt Moritz in deren Leben, der Junge, der so wunderbar dichten kann. Das "Mo- klang, wie helle Schokolade riecht, und sah auch so aus, und das -ritz schmeckte süß und scharf in einem, und wenn es eine Farbe gehabt hätte, wäre es ein leuchtendes Orangerot gewesen." Aber der zwei Jahre ältere Junge ist alles Andere als ein "Liebling aller Schwiegermütter". Aus problematischen Familienverhältnissen stammend hat er sich zum notorischen Lügner entwickelt und fährt offensichtlich nicht nur Madalyn auf seinem Fahrrad spazieren. Doch das junge Mädchen hat sich schon längst in seiner eigenen Parallelwelt eingerichtet, und das Erwachen aus dieser wird recht schmerzhaft für sie.

Lukasser ist mit den Offenbarungen des jungen Mädchens überfordert. Er kann mit dem Auf und Ab seiner Gefühlswallungen schlecht umgehen. Vielleicht auch deswegen, weil "das ordnende, formende, die Wirrnis des Lebens durchsichtig und übersichtlich machende Wirken der Literatur" in der Realität nicht greift. Weil sie eben kein emotionales Notprogramm, kein Katalog mit Präzedenzfällen ist, aus dem man sich die Lösung für jedwedes Problem nur herauszuziehen braucht. Weil ein Mensch anders reagiert als ein Blatt Papier ... emotional und zuweilen kopflos. "Ich hatte über all die Jahre kein richtiges Bild von ihr. Ich hatte ein Bild von ihr, aber das hatte ich aus der Luft gegriffen, aus der Sentimentalität meines unbedankten Heldentums, ein präliterales Ding war sie für mich gewesen, eine Inspiration. Tatsächlich hatte ich irgendwann eine Erzählung begonnen, in der ein Abenteuer wie das unsere im Mittelpunkt stehen sollte. Das hier aber strengte mich an, ich wollte Charaktere in den Computer hacken und nicht in der Wirklichkeit ein Bild korrigieren, das ich mir einmal gemacht hatte und das mehr über meine Rührseligkeit mir selbst gegenüber verriet als über Madalyn. (...) Ich hatte mich nie für die Wahrheit zuständig gefühlt, warum ausgerechnet jetzt?"

Erneut stellt Michael Köhlmeier sein herausragendes erzählerisches Talent unter Beweis. Seine Protagonisten beobachtet er mit Genauigkeit. So entsteht ein scharf gezeichnetes Bild seines Gegenübers, das einmal zart, ein anderes Mal auch schonungslos direkt wiedergegeben wird. Sein Roman offenbart wie alle seine Bücher einmal mehr großartige Charakterstudien. Dabei stellt er sich oder sein Alter Ego genauso an den Pranger wie das seiner literarischen Helden. Aber immer ist dabei seine große Liebe zu den Menschen zu spüren.

Fazit:
"Wie viele Bücher würden wir verabscheuen, wenn wir die Geschichte ihrer Entstehung wüssten", sinniert Sebastian Lukasser, der Ich-Erzähler in Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn". Der österreichische Autor erzählt sie dem Leser. Aber zu Ressentiments führen sie keineswegs. Im Gegenteil: Ein kleiner durchkomponierter Roman, dessen Wörter sich wie Noten zu einer Melodie fügen und ein kleines elegisches Stück in einem zarten Mollton erklingen lassen.

(Heike Geilen; 08/2010)


Michael Köhlmeier: "Madalyn"
Gebundene Ausgabe:
Carl Hanser Verlag, 2010. 176 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2012.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Zwei Herren am Strand"

Winston Churchill und Charlie Chaplin - zwei Giganten der Weltgeschichte, so unterschiedlich wie nur möglich und doch enge Freunde. Der eine schuf als weltberühmter Komiker das Meisterwerk "Der große Diktator", der andere führte mit seinem Widerstandswillen eine ganze Nation durch den Krieg gegen Adolf Hitler.
Michael Köhlmeier hat mit dem Blick des großen, fantasievollen Erzählers erkannt, was in diesem unglaublichen Paar steckt: die Geschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Kunst und Politik, Komik und Ernst. Der arme Tramp und der große Staatsmann, in diesem verblüffenden Roman erleben sie die Geschichte des Jahrhunderts. (Hanser)
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