Dževad Karahasan: "Die Schatten der Städte"

Essays


"Ja, das Leben wäre vielleicht auch erträglich, wenn nicht der Geist wäre, wenn wir nicht die Paradiesblume bekommen hätten, die allen anderen wie eine Ringelblume aus Nachbars Garten erscheint." (Seite 116)

Wenn Dževad Karahasan, der bosnische Literaturpapst mit enzyklopädischem Wissen über literarische Traditionen der antiken, der islamischen und der christlichen Welt, seinen Essay-Band "Die Schatten der Städte" nennt, ist nicht daran zu zweifeln, dass Sarajevo die Haupt-Stadt seiner Gedanken (und seines Lebens zumindest bis 1995) ist. Und auch der Schatten kann leicht als eines jener gewaltsamen Ereignisse der letzten hundert Jahre gedeutet werden, die von Sarajevo ausgingen oder in Sarajevo stattfanden.

Und doch ist Sarajevo nur eine Metapher und der Schatten des Ersten Weltkrieges oder des Krieges in und um Bosnien nur ein Weg zu einer gedanklich tiefen Reise in die Weiten der europäischen Literaturen.

Aus zwei Essays besteht das trotz dichter Inhalte locker und leicht geschriebene Buch. Die "Schatten des Jenseitigen" eröffnen von der Beziehung zwischen Raum und Zeit seit den Anfängen der Erzählprosa im Hellenismus. Der Chronotopos legt die Koordinaten einer fiktiven Erzählung fest: Er bildet die Weltordnung einer Erzählung, ihr internes Orientierungssystem in Zeit und Raum und zugleich das Orientierungs- und Wahrnehmungsmuster ihrer Figuren. Gleichzeitig verweisen Zeit und Raum auf Erfahrungen aus der nicht-literarischen Außenwelt, auf das eigene Erleben und somit das mögliche oder unmögliche Hineinfühlen in die Literatur. Der bukolische Chronotopos, das weltferne und scheinbar zeitlose Schäferdasein im ewigen Frühling und in fast unsterblicher Liebe, diese paradiesische Pastorale kann nur im Gegensatz zur Welt, aus dem Widerspruch zwischen dem Goldenen und dem Eisernen Zeitalter, wirksam sein. Anders die Tragödie von König Ödipus: Er kann der Zeit und dem Raum nicht entkommen, seine Heimat bleibt Fremde, die Vergangenheit wird zur grausamen Gegenwart und zur zerstörerischen Zukunft.

Dževad Karahasan, Literat und Literaturwissenschaftler mit Lehraufträgen in halb Europa, führt in diesem Essay scheinbar so unterschiedliche Erzähltraditionen wie die der Antike, der klassischen Moderne am Beispiel Kafkas und die religiöse Überlieferung in Katholizismus und Islam unprätentiös und geradlinig auf wenige Grundmuster zurück.

"Das Erzählen und die Stadt", der zweite Essay, rückt das Augenmerk der literaturinteressierten Leser näher an Sarajevo, an die Stadt der literarischen und akademischen Sozialisation des im kleinen westbosnischen Duvno geborenen Karahasan. Von der Blütezeit der Erzählprosa in hellenistischen Städten des ausgedehnten Alexanderreichs über die römischen Satiriker Petron und Apuleius bis hin zu "Tausendundeiner Nacht", Boccaccio und zum bosnischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić (1892 bis 1975) spannt der Autor seinen literaturhistorischen Erinnerungsbogen, aus dem hervorgeht, wie sich das Epos zum Roman entwickelte und welche Rolle Privatleben und Öffentlichkeit darin spielen. Heldensagen dienen a priori der Herrschaftserrichtung und -festigung, sie entdecken das Private als öffentliche Aussage für städtische Zentren und das Staatswesen.

Doch was hat die Stadt mit der Prosa zu tun? Anders als die vorangegangenen Versepen diente sie nicht der mündlichen Rezitation, bei der Rhythmus, Metrum und Reim auch der Mnemotechnik dienten. Die Prosa ist an Schriftlichkeit und Bücher gebunden. Die Erzählprosa konnte sich in der Antike und später am Ende des Mittelalters erst durchsetzen, als im städtischen Ambiente ein höherer Prozentsatz schriftkundiger Menschen mit Zugang zu Büchern konzentriert war.

Am Beispiel der Erzählliteratur über Sarajevo klärt sich auch die Metapher des Schattens aus dem Titel auf. Die Vielschichtigkeit dieser Stadt entzieht sich dem direkten Ausdruck. Wie in Platons Höhlengleichnis ist nur der Schatten beschreibbar.

Dževad Karahasans Essayband gehört sicher zum Buntesten, was ein Schatten zu bieten hat.

(Wolfgang Moser; 06/2010)


Dževad Karahasan: "Die Schatten der Städte. Essays"
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Insel Verlag, 2010. 172 Seiten.
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