Dževad Karahasan: "Berichte aus der dunklen Welt"


Bosnische Geschichtsphilosophie

Dževad Karahasan, der unermüdliche Aufklärer über die bosnischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat in vier Erzählungen - in Berichten, wie er sie nennt - Familie und Freundschaft als geschichtsgestaltendes Element für seine Leserschaft entdeckt.

Die dunkle Welt ist natürlich - womit erfahrene Karahsan-Leser schon gerechnet haben - Bosnien, erfährt man auf der fünftletzten Seite, und sie sei eine Welt, die zwischen Gegensätzlichem ein Gleichgewicht herstellen könne, eine Welt, in der die Samen aller Dinge enthalten sind und die daher einen gewaltigen Überschuss an Realem enthalte.

Alle Erzählungen handeln vom Reisen und Besuchen, von Treffen mit Freunden und Bekannten, beginnen meist in einem Gasthaus, einmal im Salzburger Bahnhofsrestaurant; der letzte Text entwickelt sich um den Aufbau des bosnischen Hauses, seiner teilweisen Öffnung nach außen und der Verwobenheit zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Natur und Kultur.

In den dichten Texten, in denen keine Zeile zuviel, kein Wort zuwenig ist, ist die Frage des Wohnens und des Treffens mit Bekannten immer auch eine Reflexion des Flüchtlingsschicksals. Wer Dževad Karahasan kennt, weiß aber auch, dass in diesem Buch keine blinde Anklage gegen Eroberer erhoben wird. Ohne "Ćevapčići-Metaphysik" (Seite 121) und ohne Sentimentalität zeigt er den Reichtum, die Chance aber auch die Gefahren Bosniens - seine Vielfalt und seine verschlungenen historischen Beziehungen zwischen den mächtigen Nachbarn.

Das Exil ist eine Chance zur Selbsterkenntnis. In der ersten Erzählung "Anatomie der Traurigkeit" berichtet ein Freund von seiner Liebesunfähigkeit, von seinem verpfuschten Leben, das in der Flucht keinen Neuanfang schafft. Das "Prinzip Gabriel" handelt von dem ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt, wo der Attentäter von Sarajevo, Gavrilo Princip, seine letzten Lebensjahre vor seinem Tod im Jahr 1918 zubrachte. In dem Prosastück "Briefe aus dem Jahre 1993" konfrontiert ein Student seinen Dozenten mit erschütternden Erinnerungen eines Kriegsopfers aus Sarajevo, um zu erklären, warum eine Poetik Sarajevos unmöglich zu schreiben sei.

Der letzte, wahrscheinlich nachdenklichste Text greift noch weiter in die Geschichte zurück; der Ich-Erzähler und ein Freund sinnieren über die Unfähigkeit des Westens, ein Geschenk aus dem Orient anzunehmen oder - allgemeiner - den Orient als Geschenk zu sehen. Karl der Große schickte um das Jahr 800 eine Delegation zu Harun al-Raschid nach Bagdad. Die Gesandten überbringen Geschenke und kehren, vom Kalifen ihrerseits reich beschenkt, an den karolingischen Hof zurück. Doch das berühmteste Geschenk, eine Wasseruhr, ein Meisterwerk der Uhrmacherkunst, das von der technischen und zivilisatorischen Überlegenheit des Morgenlandes künden sollte, verliert sich in den abendländischen Quellen, wird kaum erwähnt, während es im Orient noch jahrzehntelang gerühmt wird.

Die Erzählungen verbindet auf den ersten Blick offensichtlich nichts außer dem Thema Bosnien, sie wirken unzusammenhängend. Doch Dževad Karahasan schafft es in ruhiger, nachdenklicher Sprache, die authentischen und in ihrer Zusammenstellung und inneren Komposition fiktiven Geschichten so geschickt miteinander zu verweben, dass sich das Bosnien Dževad Karahasans, die Dunkle Welt, vor dem Leser erhebt.

(Wolfgang Moser; 06/2007)


Dževad Karahasan: "Berichte aus der dunklen Welt"
Übersetzt von Brigitte Döbert.
Insel Verlag, 2007. 215 Seiten.
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