Prof. Dr. Karl-Heinz Göttert: "Deutsch"

Biografie einer Sprache


Das Bild einer Sprache in Bewegung

Karl-Heinz Göttert, bis 2009 Professor für Germanistik an der Universität Köln, hat eine lange Spur von Publikationen hinterlassen, über die deutsche Sprache im engeren und weiteren Sinne und über (Kirchen-)Orgeln.

Sprachen leben, selbst nominell tote, wie das mittelalterliche Latein etwa zeigte, doch kann man sie denn biografieren und somit einem üblichen biografischen Objekt gleichsetzen? In den Vorbemerkungen hinterfragt der Autor seinen eigenen Untertitel "Biografie einer Sprache" und schränkt den biologistischen Vergleich wieder ein, da Sprachen eine Genetik vermissen lassen, eine die Entwicklung biologischer Organismen steuerndes Moment. Die Sprache sei im Übrigen ein kulturelles System und kein biologisches. Und so sei die Geschichte der Sprache eine Geschichte eines beständigen Ringens mit der und um die Sprache. Dieser Widerspruch zwischen dem Untertitel des Buches und diesen Erläuterungen bleibt bestehen und kann und soll am Ende vielleicht auch dazu führen, dass den Leser die Frage nach der Natur der Sprache durch das ganze Buch hindurch nicht mehr loslässt.

Leitmotivisch zieht sich die Veränderlichkeit aktiver Sprachen im Allgemeinen und der deutschen Sprache im Besonderen durch das Buch. Das leuchtet ein, wenn neue Entwicklungen aus anderen Sprachräumen nebst den dazugehörigen Begriffen importiert wurden, wie etwa die arabische Mathematik und das italienische Bankwesen, die höfische Kultur des französischen Absolutismus oder das lateinische Recht. Trotz teilweiser Dominanz des Lateinischen und des Französischen als Bildungssprachen hat sich Deutsch dennoch stets auch als Kultursprache geäußert, von der Minne bis zur szeneartigen und aktiv gestalteten "Kanak Sprak". Der Autor schreibt: "Aus der Sicht der Sprachgeschichte dürfte die Pointe jedoch darin liegen, dass die deutsche Sprache an ihren Flanken Sonderbildungen erhält, die auf die eine oder andere Weise auch den Standpunkt beeinflussen." Und: "Man muss darüber keineswegs in Panik verfallen."

Natürlich ahnte man bereits, dass Sprachen robust sind und einem ständigen Wandel unterliegen, die Befürchtung, dass es diesmal ernst werden könnte, ist jedoch weit verbreitet. Die Feuilletons beklagen allenthalben den drohenden Untergang der deutschen Sprache: Anglizismen in Wort und Satzbau bedrohen den sprachlichen Organismus im Kern, während der Genitiv praktisch kaum noch durchblutet wird. Was tut Not? Eine kulturpolitische Abschottung à la française? Gelassenheit lautet das Rezept des Autors, und er prognostiziert, dass Deutschland als Land im Herzen Europas letztlich nur eine Öffnung zur Welt übrig bleibt: "Wer die Geschichte des Deutschen kennt, braucht sich [aber] davor nicht zu fürchten."

Vermutlich hat er Recht, doch es ist ihm entgegenzuhalten, dass wir einen Preis zu zahlen haben werden und dass wir uns für eine der ersten Raten das englische Apostroph einhandeln werden. Es graust dem Sprachliebhaber schon ein wenig. Doch Veränderung ist ein scheinbar notwendiges Attribut gelebter Sprache. Und die heutige (nahezu) selbstverständliche Verwendung von wie und als ist so alt auch noch nicht, wie wir wissen.

Dennoch scheint die Bedrohung durch die englische Sprache von neuer Qualität zu sein. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant prognostiziert sogar ein Globalesisch als die Sprache der Zukunft. Vor Ort wird der Dialekt vorherrschen - wie etwa in der Schweiz -, der Rest ist Englisch. Und die Schwaben werden diesbezüglich die Vorreiter in Deutschland sein, meint Trabant. Hier widerspricht der Autor deutlich, denn auch das hatten wir schon. Englisch ist nur ein neues Latein oder Französisch. Im Übrigen stecken in vielen Anglizismen letztlich doch griechische, lateinische und romanische Wurzeln.

Wie so oft hilft ein gerüttelt Maß Wissen bei chronischer Unsicherheit und bei Vorurteilen. Dieses Wissen um die rund 1200-jährige Geschichte der deutschen Sprache schickt Karl-Heinz Göttert sich an zu vermitteln. Diese Geschichte einer Entwicklung mit literarischen Höchstleistungen und politischer Verführung und Geiselnahme. "[...] ein halbes Jahrhundert sprachwissenschaftlicher Forschung [hat] gezeigt, dass die Mittel der Sprache begrenzt sind, dass Sprache nicht selbst 'verführt' oder das Denken 'lenkt', sondern dass Verführung immer nur von den Benutzern der Sprache ausgeht - zum Beispiel in Form von verbrecherischen Versprechen. Eine viel zitierte Formel für diese Erkenntnis lautet: 'Unschuld der Sprache und Schuld der Sprechenden' (Konrad Ehlich). Übrigens hat auch schon damals ein unmittelbar Betroffener seine Skepsis gegenüber dem Argument einer Verführung durch Sprache geltend gemacht. Es war Karl Kraus, der von der 'Aufrichtung einer Diktatur' sprach, 'die alles beherrscht außer der Sprache'." Was ist handwerklich zu sagen? Der Leser lauert bei einem solchen Buch natürlich bis zum Ende auf Fehler in Orthografie und Interpunktion, auf verunglückte Sätze, doch er lauert vergebens, zumindest ist dem Rezensenten nichts Derartiges aufgefallen, was schon eine große Seltenheit ist. Chapeau! Vielleicht kann man dieses Buch als ein außergewöhnlich gelungenes Fazit eines Lebenswerkes bezeichnen, die Summa einer lebenslangen Beschäftigung mit und einer Liebe zur Sprache. Klug im Aufbau, geschliffen formuliert und mit einem gelegentlichen Augenzwinkern vorgetragen.

Der Autor hat auf Anmerkungen verzichtet. Ein nach Kapiteln aufbereitetes Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister bilden den Anhang. Eine Kleinigkeit sei vielleicht doch erwähnt: Im Literaturverzeichnis zu Kapitel "Lingua Tertii Imperii" beispielsweise könnte man aufgrund des Textzitats einen Verweis auf Kraus' Fackel erwarten. (Es ist übrigens die Nummer 890 aus dem Jahr 1934, Seite 153.)

(Klaus Prinz; 03/2010)


Prof. Dr. Karl-Heinz Göttert: "Deutsch. Biografie einer Sprache"
Ullstein, 2010. 400 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Ritter"

Das weitaus populärste Relikt aus dem Mittelalter ist und bleibt der Ritter. Jeder Bub wollte einmal Ritter werden und hat dann Ritter gespielt, jedes Mädchen hat sich gefragt, ob Ritterin zu sein nicht attraktiver wäre als Burgfräulein. Aber hat es die Ritter wirklich gegeben? War das Mittelalter so, wie wir es in Kindertagen träumten? Ritter zu werden, Ritter zu sein, das war immer, auch im hohen und späten Mittelalter, eine schöne Fantasie, ein Spiel. Gespielt haben es zuerst adelige Krieger, die es sich leisten konnten und die aus diesem Spiel die Demonstration ihres Anspruchs auf Selbstbestimmung, Macht und gesellschaftlichen Rang entwickelten: Pferde, Waffen, Burgen und all das als Statussymbole einer aufstrebenden Männergruppe. Das Spiel behielt seine unschönen Seiten in der rauen Wirklichkeit, aber es entwickelte auch eine verfeinerte Kultur: Freiheit, Großzügigkeit, Vornehmheit, Maß und Eleganz kamen durch sie in Mode. Diesen fantastischen, fiktiven und manchmal ideologischen Charakter des mittelalterlichen Rittertums nimmt Karl-Heinz Göttert in seiner farbenreichen und unterhaltsamen Gesamtdarstellung aus historischer Perspektive erstmals in den Blick. (Reclam)
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Noch ein Buchtipp:

Karl-Heinz Göttert, Eckhard Isenberg: "Orgeln im Ruhrgebiet"

Die Ernennung der Metropole Ruhr zur Kulturhauptstadt Europas 2010 hat den Blick für das vielfältige Angebot dieser kulturell oft unterschätzten Region geschärft.
So repräsentiert die Orgel im Essener Münster die unerwartete Vielfalt und Qualität von Orgeln aus verschiedenen Epochen, die das Ruhrgebiet zu einer außergewöhnlichen Orgellandschaft machen. Speziell aus der Romantik sind historische Instrumente erhalten, die der damaligen Konjunktur von Kohle und Stahl zu verdanken sind. Und in den letzten Jahrzehnten kamen neue Orgeln von beträchtlichem Format und Anspruch hinzu.
Ein einführender Beitrag zur Orgellandschaft an der Ruhr eröffnet diesen reich bebilderten Orgelführer. Darauf folgen Präsentationen von rund 60 Orgeln in verschiedenen Städten. Beschrieben werden Instrumente in katholischen und evangelischen Kirchen sowie solche, die sich in weltlichen Räumen befinden, beispielsweise im Audimax der Bochumer Universität.
Zudem enthält das Buch ein "Orgel-ABC" im Anhang sowie eine Übersichtskarte, auf der sämtliche beschriebenen Orgeln eingezeichnet sind. (Bachem Verlag)
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