Nils Ole Oermann: "Albert Schweitzer 1875-1965"

Eine Biografie


Vom Bau und Betrieb eines Leuchtturms

Der Autor Nils Ole Oermann, ausgebildeter Theologe und Historiker, ist Direktor am Forschungsbereich "Religion, Politics and Economics" an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Selten ist ein Mensch so gefährdet als Mythos zu gelten wie Albert Schweitzer. Das liegt an seiner Vielseitigkeit, seiner Beharrlichkeit und letztlich auch an seinem hohen Alter. Bereits seine Herkunft aus einem elsässischen Dorf veranlasste Franzosen wie Deutsche ihn zu vereinnahmen - ihm entlockte das ein souveränes "homo sum". Das sind hinreichende Gründe, sich diesem elsässischen Phänomen Albert Schweitzer zu nähern und zu diesem Zwecke eine Biografie zur Hand zu nehmen. Der Autor verspricht im Vorwort, Albert Schweitzer in Person, Denken und Handeln vor dem Leser auszubreiten, damit dieser sich selbst ein Bild machen möge.

Promotion in Philosophie, Promotion und Habilitation in Theologie sind die Meilensteine einer ersten wissenschaftlichen Laufbahn Albert Schweitzers. Doch mit 30 Jahren entscheidet er sich für ein neues Studium, das er ebenfalls mit einer Promotion abschließt - Thema: Das Leben Jesu aus psychiatrischer Sicht. Der biblische Jesus stellt das zentrales Thema Schweitzers dar, und der eigentliche Motor seines Handelns liegt im die jesuanische Tradition extrapolierenden Wirken in seinem legendären Urwaldhospital in Lambarene. "Gegen Schweitzers Deutung des Leben Jesu konnte man opponieren, aber wer sollte schon etwas gegen ein Hospital in Afrika haben?", schreibt Oermann.

Literarisch stellt seine Kulturphilosophie das wohl bedeutendste Werk dar. Ihr liegt die zentrale "Ehrfurcht vor dem Leben" zugrunde: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will."
Schweitzer verehrte Jesus Christus in seinem ethischen Handeln, scheint aber dessen göttlichen Charakter eher abgelehnt zu haben, denn hinsichtlich des nahen Weltendes habe Jesus ja tüchtig danebengelegen. Seine Theologie dürfte damit deutlich außerhalb des damaligen Zeitgeistes gelegen haben, was ihm ja immerhin ein Predigtverbot in Lambarene einhandelte. Es riecht in Schweitzers Nähe also nicht nach Weihrauch. Dogmen anzugreifen, weil ihre Inhalte als Dogmen vertreten werden, ist tugendhaft und einfach, doch auf diesem Pfad muss man sich vor eigenen Dogmen schützen. Und genau das gelang Albert Schweitzer nicht, denn er band beispielsweise die Ethik an seine Auffassung des christlichen Glaubens, wodurch alles ausgeblendet wurde, was nicht seiner Interpretation entsprach, was man in u.A. "Das Christentum und die Weltreligionen" nachlesen kann.

Einen großen Stellenwert nimmt bei Oermann der politische Schweitzer ein, der sich nicht eindeutig verorten lässt, was letztlich übrigens für den kompletten Schweitzer gilt. Auf seine Rolle der DDR gegenüber im Kontext des nachkrieglichen Friedenswirkens geht Oermann umfänglich ein. Und stets stellt sich die Frage, wo bei Schweitzer die Grenze zwischen Subjekt-Sein und Objekt-Sein anzusiedeln ist, zwischen instrumentalisieren und instrumentalisiert werden. Der Träger des Friedensnobelpreises versäumte es jedenfalls, trotz umfangreicher Kontakte in die DDR - selbst zu Ulbricht -, gegen den Mauerbau zu protestieren.

Auch in seinem kolonialen Selbstverständnis kritisiert der Kolonialist Schweitzer den Kolonialismus. "An Schweitzers Afrikabild scheiden sich die Geister", schreibt der Autor. "Die einen sehen in ihm den wohlmeinenden Urwalddoktor, der sich mit Leib und Seele um seine ihm anvertrauten afrikanischen Patienten kümmert." Andere sähen den kolonialen Patriarchen in ihm und ein dritte Gruppe gar den Rassisten, so Oermann. Auch hier präsentiert uns der Autor ein ausgeglichenes Bild Schweitzers, mit dem Anspruch unserer Zeit vor der Folie von Zeit und Ort. Der Theoretiker der universellen Ehrfurcht vor dem Leben, der aber schon Ohrfeigen verteilen konnte - von Ohrfeigen an Weiße wurde allerdings nie berichtet. Er, von dem es im "Spiegel" hieß, er sähe aus wie ein naher Verwandter des lieben Gottes und benähme sich auch so.

Einzig an Oermanns Interpretation Schopenhauers stört sich der Rezensent ein wenig, denn dieser erscheint nur als Vertreter eines Welt- und Lebenspessimismus', was jedoch zu kurz greift. Selbst Schweitzer findet an Schopenhauers Gedanken - insbesondere seiner explizit auf Tiere ausgedehnten Ethik - einiges für ihn Richtige (siehe Kulturphilosophie Band II, Kapitel XV).

Am Beispiel Schweitzer zeigt sich wieder einmal, dass effektive Gestalter recht genau wissen, was sie wollen und dies auch beharrlich durchzusetzen wissen. Es mag den einen oder anderen Leser das Gefühl beschleichen, dass er mit Albert Schweitzer realiter nicht klargekommen wäre. Selbstsicherheit steigt durch Selbstbestätigung, die in der Regel durch interaktive, aber auch religiöse, Rückkopplung gefestigt werden kann. Und so blinkte Albert Schweitzer als Leuchtturm in vornehmlich eigener Sache unaufhörlich aus dem fernen Afrika.

Der Verlag C. H. Beck hat erneut eine ausgezeichnete Biografie auf den Markt gebracht. Ein vorbildlicher Anhang inklusive eines selbst bei Biografien nicht selbstverständlichen Personenregisters rundet das Buch ab. Der Autor hielt am Ende Wort und breitete Leben und Werk Albert Schweitzers aus, auf dass der Leser sich selbst ein Bild machen möge ...

(Klaus Prinz; 09/2009)


Nils Ole Oermann: "Albert Schweitzer 1875-1965. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2009. 367 Seiten mit 49 Abbildungen.
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Albert Schweitzer: "Briefe aus Lambarene"
Albert Schweitzer ist durch seine Tätigkeit als Arzt im zentralafrikanischen Lambarene weltbekannt geworden. Der im heutigen Gabun am Ogowe gelegene Ort war damals von den Europäern noch kaum erschlossen. In regelmäßigen Briefen berichtete Schweitzer an seine Freunde und Mitstreiter in Europa vom Aufbau des Krankenhauses, von Krankheiten und Behandlungen, von der einheimischen Bevölkerung und der Natur des Landes sowie von den Schwierigkeiten, mit denen er als Arzt, Organisator, Bauherr und Mensch zu kämpfen hatte. Die schlichten Berichte, die Schweitzer selbst als Fortsetzung seines Erfolgstitels "Zwischen Wasser und Urwald" verstanden hat, sind bis heute eine höchst spannende und aufschlussreiche Lektüre. (C.H. Beck)
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Friedrich Schorlemmer entwirft ein eindrucksvolles Bild vom Leben und Wirken Albert Schweitzers und würdigt die vielfältigen Berufungen des berühmten Urwaldarztes. Sein Respekt vor der Natur, aller Kreatur und allen Menschen machte Albert Schweitzer zum Pionier für humanitäre Hilfe weltweit. Albert Schweitzer war bereits anerkannter Theologe, Philosoph, Orgelvirtuose und Musikwissenschaftler, als er ein Medizinstudium absolvierte. 1913 bricht er nach nach Afrika auf, um sein Credo vom Dienst an den Menschen zu verwirklichen. In Lambarene begründet er seine "Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben": nie preisgegebene Humanität, während die Welt in zwei furchtbare Kriege, Rassismus, Wahn und Untergang verstrickt war. Nach 1945 verurteilt Schweitzer den Krieg und protestiert vehement gegen Atomwaffen. Mit diesem Engagement gerät der Friedensnobelpreisträger zwischen die weltpolitischen Fronten. (Aufbau)
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