Christoph Schlingensief: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!"

Tagebuch einer Krebserkrankung


Der berühmte Regisseur und Energiekünstler, der Tausendsassa der deutschen Kultur- und Theaterszene, jener Mann, der seit Jahren sprühte vor Ideen und der ruhelos von einem Projekt zum anderen hetzte, sah sich Anfang 2008 von einem Tag auf den anderen mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert; ein Lungenflügel war betroffen, obwohl Schlingensief doch gar nicht rauchte.

Und so wie seine beruflichen Projekte versuchte auch er auch diese Nachricht aufzunehmen. Er nahm sich ein Diktiergerät und vertraute diesem in den folgenden Monaten fast täglich all das an, was er erlebte, dachte und fühlte:
"Dieses Buch ist das Dokument einer Erkrankung, keine Kampfschrift. Zumindest keine Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs. Aber vielleicht eine für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens. Meine Gedanken aufzuzeichnen, hat mir jedenfalls geholfen, das Schlimmste, was ich je erlebt habe, zu verstehen und mich gegen den Verlust meiner Autonomie zu wehren. Vielleicht hilft es nun auch einigen, diese Aufzeichnungen zu lesen. Denn es geht hier nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen", schrieb er Ende März 2009 in seinem Vorwort, als sich nach einer vorübergehenden Verbesserung seines Zustands durch eine Operation und anschließende Chemotherapie auch in seinem verbliebenen Lungenflügel Metastasen gebildet haben.

Es ist ein schreckliches Buch, das Schlingensief da geschrieben hat, weil es von einer Krankheit handelt, gegen die sich ein Mensch letztlich nicht wehren kann. Es ist ein elendes, ein wahnsinnig trauriges Buch, aber auch ein sehr schönes, weil es seinem Autor gelingt, eine Authentizität herzustellen, die unter die Haut geht.

In einem Leben, das immer aus Energie, völliger Freiheit, Plötzlichkeit und die Menschen mitreißendem Enthusiasmus bestand, aus Wut und grenzenloser Fantasie, hat der Krebs die Macht übernommen.
Zunächst ist Christoph Schlingensief noch richtig bemüht, seine Diktate zu inszenieren, ist selbst ganz hingerissen von den vielen neuen Bildern, die ein solch radikal neuer Lebenszustand mit sich bringt:
"Es gibt eben Bilder, die haben keine Eindeutigkeit, in so einem Bild befinde ich mich zurzeit. Und ich habe das schließlich immer gemocht, dass es Bilder gibt, die nicht eindeutig sind, die aus Überblendungen bestehen und auf die die Leute völlig unterschiedlich reagieren."

Er besuchte das Grab seines Vaters, träumte davon, ein Opernhaus in Afrika zu bauen, wenn er wieder gesund würde, und er setzte sich mit Gott auseinander. Einmal war er ihm nahe, dann wieder ganz fern. Diese Gespräche mit Gott waren für den Rezensenten die anrührendsten Passagen in einem Buch, das einen nicht kalt lassen kann. Wenn Schlingensief etwa einfach schreibt: "Und ich lebe doch so gerne."

Das Buch ist ein Dokument eines Menschen, der so wie viele andere sprachlose Krebskranke vor ihm alle Phasen der Krankheit durchkämpfen muss, den Schock der ersten Nachricht, die Diagnose, die Hoffnung auf die Therapie, deren unsägliches Leid und am Ende doch zu spüren, dass man den Kampf verlieren wird. Aber er bleibt nicht sprachlos in seinem Leid; er spricht darüber und behält gerade dadurch seine Menschenwürde bis zum nahen Ende, als er beginnt, Abschiedsbriefe in sein Mobiltelefon zu tippen und jeder Optimismus verflogen ist.

Für von dieser Krankheit betroffene Menschen ist Schlingensiefs Buch eine Ermutigung, nicht aufzugeben, vor allem, nicht die Würde aufzugeben, obwohl sie einem an jeder Ecke des medizinischen Betriebs geraubt wird. Für einen gesunden Leser wie den Rezensenten ist die Lektüre eine permanente Frage an sich selbst, wie man in einer solchen Situation handeln und entscheiden würde.

Zurück bleibt ein Gefühl der Dankbarkeit über jeden neuen Tag geschenkten Lebens.

(Winfried Stanzick)


Christoph Schlingensief: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung"
Gebundene Ausgabe:
Kiepenheuer & Witsch, 2009. 254 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Kiepenheuer & Witsch, 2012.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2010.
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Der deutsche Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010 im Alter von 49 Jahren in Berlin.

Noch ein Buchtipp:

Christoph Schlingensief: "Ich weiß, ich war's"

Seine Vision für ein "Operndorf Afrika" wird in Burkina Faso gerade Wirklichkeit - ein beeindruckendes Zeichen dafür, wie lebendig die Kunst Christoph Schlingensiefs auch nach seinem viel zu frühen Tod ist. Die Lücke, die dieser Ausnahmekünstler hinterlassen hat, ist groß. Seine autobiografischen Skizzen und Gedanken, die nun posthum erscheinen, machen dies auf eindringliche Weise deutlich - und helfen zugleich, diese Lücke ein Stück weit zu schließen.
"Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so! Erinnern heißt: vergessen! (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)" Mit diesen Worten überschrieb Christoph Schlingensief den letzten Eintrag in seinem "Schlingenblog". Erinnern - das war für Schlingensief kein sentimentaler Vorgang, sondern ein Akt der Befreiung, um Platz für Neues zu schaffen. Und so setzte er nach der Veröffentlichung von "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein", dem vielgelesenen und vieldiskutierten Tagebuch einer Krebserkrankung, das Prinzip fort, seine Gedanken zur Kunst, seine Selbstbefragungen und Erinnerungen auf Tonband festzuhalten. Nicht um sich zurückzuziehen oder um Abschied zu nehmen, sondern um sich zurück ins Leben zu katapultieren.
In "Ich weiß, ich war's" erinnert er sich an seine Kindheit in Oberhausen und seine Anfänge als Filmemacher, an schwierige und an erfüllende Stationen seines Künstlerlebens in Berlin, Wien, auf dem afrikanischen Kontinent - sowie nicht zuletzt an seine Erlebnisse auf dem grünen Hügel Bayreuths. Und "Ich weiß, ich war's" zeigt einen Christoph Schlingensief, der voller Tatendrang am Leben teilnimmt, einmal humorvoll, dann wieder selbstkritisch, immer aber leidenschaftlich und mit Blick nach vorn. (Kiepenheuer & Witsch)
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