Robert Menasse: "Ich kann jeder sagen"

Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung


Der Geruch des Glücks

In Robert Menasses Erzählungsband "Ich kann jeder sagen" eint die Protagonisten eine originelle und vom Autor unterschiedlich interpretierte Idee, jeweils ein Ereignis aus ihrem Leben zu beleuchten, das zum Zeitpunkt einer wichtigen geschichtlichen Umwälzung passiert ist, oder einen Moment zu untersuchen, der mit einem geschichtlichen Ereignis in einem mehr oder weniger losen Zusammenhang steht.

Die gehörige Portion Kummer, die er seinen Protagonisten mitschickt, ist bemerkenswert. Trotzdem schimmert in jeder dieser sehr unterschiedlichen Erzählungen jede Menge Wiener Schmäh mit, was den dünnen Band zu einem insgesamt vergnüglichen Leseerlebnis macht.
Wie in vielen Erzählungsbänden, sind die Erzählungen in "Ich kann jeder sagen" von unterschiedlicher Qualität und Gewichtung.

Von leichten Bagatellen, wie der Erzählung "Glück in Luxemburg", die einen schwülen Regentag in Luxemburg (der Tag des Finales der Fußball-EM mit dem Sieg Griechenlands) im Leben eines Vertreters zeichnet, bis zu wirklich beeindruckenden Erzählungen, wie "Lange nicht gesehen", die eine Affäre zum Zeitpunkt des Mauerfalls als Ausgangspunkt hat.

In der faszinierenden Erzählung "Das Ende des Hungerwinters" ist man Gast bei einem Leichenschmaus, während der Sohn des Verstorbenen eine fast allen Beteiligten bekannte Geschichte der Rettung der Familie im Amsterdamer Zoo zum wiederholten Mal zum Besten gibt.

In der "Chronik der Girardigasse" erzählt ein Schriftsteller die Geschichte des Hauses, in dem er scheinbar sein Arbeitsstudio hat, die mit den Worten: "Ich arbeite in einem Bordell. Das Bordell ist kein Bordell mehr, man kann lediglich sehen, dass es eines gewesen ist. Allerdings nur, wenn man es weiß. Wer dieses Haus betritt und dessen Geschichte nicht kennt, kommt nie auf die Idee, ein ehemaliges Freudenhaus zu betreten" beginnt. Stringent erlebt man eine über hundert Jahre umfassende Geschichte eines Hauses, in dem "man sich weggesperrt fühlt vom Leben, wie es scheint, und sich auf wenigen Quadratmetern doch in der Welt fühlen kann, wie sie ist, zumindest in dieser seltsamen Stadt, in Wien."

Die vielleicht schönste Geschichte in diesem Band stellt "Der Geruch des Glücks", die ein Porträt der Eltern des Ich-Erzählers ist, dar, der, im Übrigen wie alle anderen Protagonisten und Robert Menasse selbst, im Jahr 1954 geboren wurde.
"Als meine Eltern sich kennenlernten, schienen sie füreinander bestimmt. Damals, im Jahr 1954, war mein Vater en zwanzigjähriger Mann mit Träumen und Muskeln. Er träumte davon, Weltmeister zu werden und Marilyn Monroe zu erobern, und die Muskeln waren alles, was er mitbrachte, um seine Träume zu verwirklichen."
Der Ich-Erzähler versucht, den Grund der Trennung seiner Eltern nachzuvollziehen und findet den Grund im Fehlen des Geruchs von Glück. Das Glück des Heims, des Hafens im Leben.

"Die amerikanische Brille" ist eine Momentaufnahme einer versuchten Trennung des Erzählers von seiner ihn nervenden Freundin, deren "Oh mein God"-Getue ihm nach einer Scheinschwangerschaft ziemlich auf die Nerven geht.

"Wie mir ihr 'Oh mein God!' Getue auf die Nerven ging! Debbie war Amerikanerin, das heißt, sie besaß neben ihrem österreichischen auch einen amerikanischen Pass, weil sie in New York zur Welt gekommen ist ... Sie hatte nur ihre ersten vier Jahre in den USA verbracht, später noch vier Jahre in Helsinki, als ihr Vater dorthin versetzt wurde, aber das hatte offensichtlich keine Spuren hinterlassen. Und die acht Jahre in einem Schweizer Internat hatten auch keinen Niederschlag auf ihr Selbstverständnis und ihre Sprache gehabt."
Diese Erzählung schlägt eine imaginäre Brücke zur Ermordung von J. F. Kennedy und überrascht am Ende.

In der surreal anmutenden Erzählung "Romantische Irrtümer" bereist der Ich-Erzähler nach einer peinlichen Aussage und einem unabsichtlich ausgelösten Löscheinsatz in seinem Hotelzimmer das "Romantische Deutschland" in depressiver Grundstimmung, verkommt in einer Bacchanale mit "Russen" bevor er von einem ehemaligen Olympiasieger, der aus dem Westen in den Osten ausgewandert war, um besser trainieren zu können, im Taxi zum Flughafen chauffiert wird.

Erzählungen, in denen die berühmten zwei Seiten der Medaille umspielt werden. Über den unvorhersehbaren Moment, der über Sieg und Niederlage entscheidet, über den Punkt, der alles verändert, egal in welche Richtung.

Auch wenn nicht alle Erzählungen in "Ich kann jeder sagen" auf einem Niveau sind, so ist dieser Erzählungsband doch sehr beglückend; Erzählungen, die vom Scheitern, von privaten Niederlagen und kurzen Siegen erzählen.
Die hier versammelten Erzählungen sind abwechslungsreiche, assoziative, mit den Geschehnissen der Nachkriegszeit verbundene, schöne Beleuchtungen dieser Idee.
Originelle Kurzprosa eines großen Wiener Autors, der unprätentiös seine in der Tradition stehende Erzählerrolle lebt und mit diesem Band Appetit auf einen neuen Roman aus seiner Feder (man hofft) geweckt hat.

(Roland Freisitzer; 08/2009)


Robert Menasse: "Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung"
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2009. 186 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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