Hans Magnus Enzensberger: "Rebus"

Gedichte


Stellvertreter auch seiner selbst womöglich

Ein Bilderrätsel überlässt uns hier einer der letzten Veteranen der zeitgenössischen Literaturszene, der uns schon vor fünfzig Jahren mit sehr kräftigen Versen verzückte. Ein Rebus ist eben nicht eindeutig, es handelt von dem, was eben geschieht ("De rebus quae geruntur"), wie die Lateiner zu sagen pflegten. Der vorliegende Band gliedert sich in vier Teile und einen Anhang, "einer gesalzenen Coda" (Klappentext). Gleich mit dem Eingangsgedicht werden wir aufmerksam gemacht auf eine vielfältige "Gleichgewichtsstörung" ("Auch das blühende Leben / ist rutschig") - Enzensberger kommt uns jahreszeitlich. Oder mit Körperteilen oder Identitäten: "Nicht immer macht mein Gehirn, / was ich will." Oder noch einmal neu angesetzt in "Salomonisch": "Psyche, Ego, Identität - / ziemlich fremde Wörter. / Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser."

Enzensberger erweist sich wieder einmal als ein Lyriker, der nicht alles verrätseln kann oder will, der Leser soll wohl nicht dumm sterben, wie es der Volksmund so griffig formuliert. Und wenn Enzensberger ratlos ist, dann ist er es so demonstrativ, dass der Leser ihm beizuspringen sich beeilen möchte. Enzensberger ermutigt uns auch: "Ihr wißt doch, / wovon ich rede." Ach ja, erinnern wir uns: niemand - außer Grass - konnte so intellektuell-integer über "Die Scheiße" schreiben wie Enzensberger - und hier nun reflektiert er über das stille Örtchen: "überlassen wir uns träumerisch, / als wären wir Kinder, / einem Bedürfnis, von dem es heißt, / es sei menschlich, / wie einer Art von Meditation." Ja, menschlich ist so vieles, aber oft entschuldigen wir angeblich Peinliches mit dieser Etikettierung. Und dieser Autor darf über alle Banalitäten schreiben: Haare, Hemden, Wasser und über die unlösbaren Probleme, "welche die Menschheit seit / Menschengedenken zu lösen versucht."

Wir dürfen teilhaben an einer modernen "Inventur" (wer erinnert sich da nicht mit Schauder an Günter Eich), wir treffen Ratsuchende oder Versager, da geht es auch ums Alter, um Erinnerungen und Enttäuschungen: "Da wo ich herkomme, / haben sie mich vergessen." Und manchmal wird uns Hans Magnus E. fast schon zu direkt, wenn er sinniert: "Manchmal weiß ich selber nicht mehr, ob ich einer von den einen bin oder ein anderer. Am liebsten wäre ich ich selber, aber das ist natürlich unmöglich." Identitätsverlust durch Perspektivenwechsel, könnte man dieses Spielchen nennen - es kommt aber doch darauf an, von wem wir uns definieren lassen. Überdeutlich führt uns das der Autor in dem Text "Stellvertreter" vor: "Ja, wir bemühen uns, wären gerne / wir selber, und ziehen uns doch / die Schuhe der andern an, / und strampeln uns darin ab. // Auch dieses Gedicht steht natürlich / nur an der Stelle des richtigen, / das noch auf sich warten läßt."

Vielleicht sind das ja alles nur Stellvertreter-Gedichte, die uns hinhalten sollen, bis dem Dichter das Eigentliche kommt, bis er imstande ist, sich so zu artikulieren, wie er es eigentlich möchte?! Dann müsste Enzensberger auch noch der Stellvertreter seiner selbst sein ein Leben lang - so wie wir alle vielleicht?! Welche Zumutung oder welche Perspektive! Das wäre gar nicht so übel. Dann ließe sich ja noch alles revidieren - und man könnte vor sich hin pfeifend die Hände auf dem Rücken dahinschlendernd den Unbeteiligten mimen. Da beunruhigt uns fast schon ein Versprechen wie eine Drohung: "Wir können auch anders, aber dazu kommt es nur, / wenn man uns nicht in Ruhe läßt."

Außer dem Individuum und den Einzelnen gibt es freilich auch noch alle zusammen, ein "Wir", welches sich nie eindeutig fassen lässt, weder aus der Vergangenheit heraus noch in der Gegenwart: "Wer zu uns gehört uns warum, / und wie viele wir sind: / ein gut gehütetes Geheimnis. / Wir wissen es selber nicht." Solcherart Feststellungen sollten uns womöglich beunruhigen, wäre uns nicht eine harmlose Ungewissheit lieber als eine folgenschwere Klarheit. Der Alltag mit seinen Wünschen und Unterlassungen, all die Gewissensbisse und Ausreden, Beschwichtigungen und Illusionen. Immer wieder die Konstellationen, die einen Dichter ins Grübeln bringen, so als reflektiere er sein eigenes Leben. Und dabei sollen sich wahrscheinlich die Leser in den Zeilen wiedererkennen. Wir sind alle so abgestumpft, nicht mehr euphoriefähig. Ja, wir sind die Anderen der Anderen der Anderen. Manchmal, in Ansätzen, erinnert Enzensberger ein klein wenig an den Handke der frühen Jahre, als es noch üblich war, Wörter ernst zu nehmen und durch Hinundherwenden ihren Sinn zu ergründen.

Im Nachklapp reflektiert der Autor über seine alte Wut, über den Kampf, der weitergeht und über das große Aber. Und er gibt quasi zu Protokoll: "ich bin nur ein vorübergehender, / der nur vorübergehend beobachtet, was der Fall ist, / der nur redet (de rebus quae geruntur), / und der kaum etwas ausrichtet." Sind das womöglich die "wankenden Gestalten", die Goethes Faust weiland beschwor - da marschieren sie auf, die alten Weggefährten, die nur noch Vorwürfe für ihn übrig haben. Er will ja wider besseres Wissen weiterkämpfen, "obwohl Alles mögliche unmöglich ist" - aber im Grunde hat er sich längst abgeseilt: "Nein, ich lasse mich nicht provozieren, / ich rege mich, verdammt noch mal, / nicht mehr auf über euch, / denn ihr könnt mich mal." Das klingt zusehends immer weniger lyrisch, so als ob der ganz persönliche Enzensberger hier völlig das lyrische Ich aushebelt. Hier hat sich ein Autor noch einmal hochgerappelt, die Verse platzen auf wie eine Angstblüte. Man spürt unweigerlich eine Endzeitstimmung durch die Zeilen. Da ist wenig Geduld, da ist wenig Distanz - der Enzensberger übergibt den Staffelstab seinem Stellvertreter und reklamiert für sich das Recht, nur noch hin und wieder zu beobachten und sich einzugestehen, dass der große 68er-Kampf kläglich verebbt ist und von den Veteranen jedenfalls nicht mehr gewonnen werden kann.

(KS; 04/2009)


Hans Magnus Enzensberger: "Rebus. Gedichte"
Suhrkamp, 2009. 120 Seiten.
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Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in München. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Tumult"

Wer sich nach einem halben Jahrhundert wiederbegegnet, muss auf Überraschungen gefasst sein. Hans Magnus Enzensberger hat sich auf dieses Abenteuer eingelassen: Ein zufälliger Kellerfund gab den Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
1963 führt den Autor eine erste Reise nach Russland, und unverhofft wird er zum Gast auf Chruschtschows Datscha in Gagra. Das Ergebnis ist ein genaues Porträt des Mannes und der sowjetischen "Tauwetter"-Politik dieser Zeit. Drei Jahre später durchreist Enzensberger die UdSSR vom äußersten Süden bis nach Sibirien. Auf diesem Parforce-Ritt nehmen die Verwicklungen des "russische Romans", der konfliktreichen Beziehung zu seiner zweiten, russischen Frau, ihren Anfang. 1968/1969 gerät der Dichter dann in eine Phase des politischen und privaten Tumults. Mitten im Vietnam-Krieg folgt er einer Einladung an die Wesleyan University, aber schon nach wenigen Monaten lockt das Cuba der Revolution. Doch sind die Fraktionskämpfe der außerparlamentarischen Opposition in Berlin nicht so weit entfernt, als dass der Dichter nicht auch auf diesem Schauplatz zum Akteur würde ...
Wie aber sieht mit dem zeitlichen Abstand von 50 Jahren der alte Enzensberger den jungen? Die Antwort auf diese Frage gibt ein lebhaftes Streitgespräch, in dem beide sich ihrer Haut zu wehren wissen. Ein letztes Kapitel unter dem lapidaren Titel "Danach" gilt dem Abschied von den "politischen und privaten Obsessionen der 60er Jahre". Hier gedenkt Enzensberger auch der Verlierer und derer, die ihm nahestanden. Gewidmet ist das Buch "Den Verschwundenen". (Suhrkamp)
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