Volker Reinhardt: "Die Tyrannei der Tugend"

Calvin und die Reformation in Genf


Calvin: Savonarola und Machiavelli in einer Person

Der Autor ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg und Autor einiger Werke zur europäischen Geschichte und Kulturgeschichte. Die Renaissance bildet sicherlich hierbei einen gewissen Schwerpunkt.

Im Text findet sich eine Reihe von Schwarzweiß-Abbildungen inklusiver dreier Karten. Die 50 Anmerkungen des Anhangs referenzieren die wiedergegebenen Zitate. Eine Zeittafel, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister komplettieren das Buch.

In der Einleitung wird denn auch die spannende Frage gestellt, wie denn diese "strengste aller Reformationen" in einer Stadt verwirklicht werden konnte, "die durch nichts auf diesen Rigorismus der Lebensführung und Moralkontrolle vorbereitet war?" Der Autor sieht darin eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, diese Geschichte zu erzählen, "ohne sich mit der eigenen Gesinnung einzumischen, ohne die einen abzustrafen und den anderen auf die Schultern zu klopfen, stattdessen behutsam, Schritt für Schritt." Ob er damit wohl Stefan Zweig im Sinn hatte, der in seiner Miniatur über Castellio und Calvin eine deutliche moralische Position bezog? Man wird sehen.

In den 1520er- und 1530er-Jahren veränderte sich die Schweiz grundlegend, indem mit Zwingli beginnend die Reformierte Kirche entstand. Man reinigte die Religion von den Elementen und Traditionen, die nicht auf der Schrift beruhten wie Kirchenschmuck, Klöster, Zölibat und Transsubstanziation, selbst die traditionelle Messe wurde abgeschafft. In Genf wirkte Guillaume Farel, bevor 1536 "iste gallus" eintraf, jener 27-jährige Franzose aus Noyon, der sich auf der Flucht befand, weil er den urkatholischen Franzosen den Protestantismus schmackhaft machen wollte.

Calvin führte bis zu seinem endgültigen Erfolg im Jahre 1555 einen langen, teils subtil, teils offen ausgetragenen Kampf um die Macht in Genf. Dabei drohte er stets mit der Keule der versagten Erlösung, was eine sehr mächtige Waffe in jenen Tagen darstellte. Er oktroyierte den Genfern seine Prädestinationslehre auf, gegen die selbst ein Erasmus vergeblich ankämpfte: "Der Mensch ist schuldig, obwohl er das tut, was Gottes unerforschlicher Ratschluss vorherbestimmt hat." Calvin ließ ja nicht einmal Naturgesetze gelten - alles war in seiner Ansicht nach im Augenblick geronnener Gotteswille. Das ihm vorschwebende politische Modell basierte auf einer christlich-ethischen Musterrepublik unter dem Präsidium der Priester und nährte sich aus der Kraft der Denunziation.

Das Fanal Calvins und letztlich des reformierten Genfs war jedoch der Fall Michel Servet, eines Bekannten Calvins aus Pariser Studientagen. Er vertrat als "europaweit ausgeschriebener Erzketzer" theologische Ansichten, die nach bester christlicher Tradition alles in Frage stellten, was den reformierten Priestern heilig war. Und so fühlten sich die Genfer Behörden unter sachkundiger Anleitung Calvins gewissermaßen gezwungen, Servet in einem Akt kollektiver Notwehr zum Schweigen zu bringen. Ein zitierter Text Servets zeugt von einer toleranten Weltsicht avant la lettre: "Ich glaube, dass in uns allen etwas Wahrheit und Irrtum ruht; doch lenkt jeder von uns die Aufmerksamkeit auf den Irrtum des anderen, ohne den eigenen Irrtum  zu sehen. Möge uns
Gott mit seinem grenzenlosen Mitleid in aller Gelassenheit auch unsere eigenen Irrtümer erkennen lassen." Und so ging ein leichtsinniger Geist am 27. Oktober 1553 in Genf in Flammen auf. Sébastien Castellio donnerte nun aus dem fernen und sicheren Basel: "Einen Menschen zu töten, heißt nicht, eine Doktrin zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten." Kurze Zeit später endeten ein angesehener Bürgersohn nebst dreier Komplizen wegen Sodomie - also Homosexualität - auf dem Scheiterhaufen.

Calvin bescherte Genf in jedem Fall eine Epoche der Außergewöhnlichkeit, die je nach Standpunkt des Betrachters jedoch völlig verschieden ausfällt. Man kann Calvin als Begründer einer Glaubensform betrachten, die seitdem die Welt veränderte und Genf damals zu dem Zentrum reformierter Gelehrigkeit machte und heute zu einem  Pilgerort. Schaut man hingegen aus dem Blickwinkel eines Humanisten auf Calvin, so präsentiert sich eine breite Spur des Terrors und der Gewalt, der lodernden Scheiterhaufen und zerstörten Biografien. Und alles im Namen des liebenden Gottes. Da kommt einem nicht nur die topografische Nähe des Calvinischen Heimatortes Noyon zu Arras in den Sinn, dem Heimatort eines späteren rücksichtslosen Predigers der Tugend.

Fazit:
Fachleuten steht eine Menge an Literatur zur Verfügung, die diese aus heutiger Sicht dramatische Epoche hinreichend ausleuchtet. Doch interessierte Laien waren praktisch auf Stefan Zweigs sympathisches Doppelporträt Castellios und Calvins angewiesen, das an Calvin kein gutes Haar ließ. Und so ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass uns der 500. Geburtstag Calvins eine Reihe von Büchern bescherte, über die an dieser Stelle nicht geurteilt werden soll. Dabei ist das Buch Volker Reinhardts sicherlich erste Wahl.

(Klaus Prinz; 02/2009)


Volker Reinhardt: "Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf"
C.H. Beck, 2009. 271 Seiten.
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Wilhelm Neuser studiert in diesem Band die Persönlichkeit und das Werk von Johannes Calvin in seinen jungen Jahren. An erster Stelle skizziert er den ideologischen Kontext des Reformators. Danach stellt er auf integrierende Weise die verschiedenen Zusammenhänge des Lebens von Calvin dar: seine Jugendzeit und Studium an der Artistenfakultät in Paris (1509-1528), sein Jurastudium und seine humanistischen Studien (1528-1532), die reformatorische Bewegung in Paris, die Ereignisse von Paris und Calvins Reisen im Jahr 1534, seine Anfänge als Wegbereiter und Verteidiger der Reformation im Jahr 1535, seine Mitarbeit an der Olvétanbibel, seine Verteidigungsschrift an König Franz I, die Institutio, den ersten Genfer Aufenthalt und seinen Aufenthalt in Straßburg (1538-1541).
Neuser analysiert besonders eingehend Calvins Predigten, Predigtentwürfe und sein gesamtes literarisches Werk. Er fokussiert auch die Personen und die Ideen, die sich einflussreich auf Calvin auswirkten und gibt auch die Quellen für eine Vita Calvini (bis 1538) detailliert an. (Vandenhoeck & Ruprecht)
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Peter Opitz: "Leben und Werk Johannes Calvins"
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Die durchgängig erfolgenden Hinweise auf die wichtigsten Quellen greifen auch auf neu verfügbare Akteneditionen zurück. Verweise auf ausgewählte neuere Literatur erleichtert den Zugang zu Calvins eigenen Texten und zur gegenwärtigen Forschungsdiskussion. (Vandenhoeck & Ruprecht)
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