Brigitta und Thomas Busch (Hrsg.): "Mitten durch meine Zunge"

Erfahrungen mit Sprache von Augustinus bis Zaimoğlu


"In dieser unreinen Welt ist die Reinheit der Sprache nur eine Erfindung."
(Kenka Lekovich, geb. 1963 in Rijeka/Fiume, heute Kroatien, lebt seit 1990 in Triest)

"Alle Wörter waren entweder in Dornen gehüllt oder in ein Knäuel verworrener Fäden verklebt ... das alles konnte man weder angreifen noch drehen oder gar entwirren ... Es ging nicht! ... Es blieb ein Geheimnis ..."
(Lojze Kovačič, geb. 1928 in Basel, gest. 2004 in Ljubljana, 1938 ins Königreich Jugoslawien ausgewiesen)

Über Sprache(n) zu sprechen, ist der erste Schritt zur Mehrsprachigkeit

Die Europäische Kommission rief 2008 zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs aus. Was aber bedeutet interkultureller Dialog? Worüber soll - möglichst mit Gesprächspartnern aus anderen Kulturen - gesprochen werden?

In Antworten auf diese beiden Fragen wird meist früher oder später die Sprache genannt werden, sowohl Sprache als Thema als auch Sprache als Medium des interkulturellen Dialogs. Trotz dieser Doppelrolle von Sprache zeigt sich in den 49 Beiträgen, deren ältester vom römischen Dichter Ovid verfasst wurde, dass zwar alle Menschen Sprache(n) benutzen, darüber zu sprechen aber außerhalb interessierter literarischer und wissenschaftlicher Kreise bis heute kaum selbstverständlich ist.

Sprache hat außerhalb sozialer Beziehungen und ihrer Verwendung in Wort und Schrift keine Existenz, stellen die Herausgeber in den einleitenden Texten in Anlehnung an den Beitrag des Philosophen Jacques Derrida fest. Sprache existiert also nur, indem sie verwendet wird, und zwar auf vielfältigste Weise. Auch so genannte Einsprachige verfügen über eine Vielzahl an Idiomen, Registern, Ausdrucksformen Daher entsteht Sprache erst in ihrer Verwendung, lässt sich eine Sprache im Gebrauch - also eine lebende Sprache! - auch nicht einteilen und abzählen, wie dies Vorlesungsverzeichnisse, Stundenpläne und Angebotslisten von Übersetzungsinstituten suggerieren: jede Kommunikationssituation ist eigen und trägt bei zur sprachlichen Identität, zur individuellen Lebens-, Sprech- und Schreibgeschichte.

Über Sprache als Zwang, Befreiungssymbol und als Unterscheidungsmerkmal zwischen Kulturen reflektieren die Literaten, Philosophen, Essayisten, darunter Literaturnobelpreisträger wie Elias Canetti und Joseph Brodsky und Klassiker wie Vladimir Nabokov und Joseph Conrad.

Viele Beiträge machen neugierig auf die die sprachliche Vielfalt, geben Sprachgeschichten und menschliche Schicksale wieder, die man als Mitteleuropäer des beginnenden 21. Jahrhunderts nur erahnen kann. Zuwanderer und Emigranten, jüdische Flüchtlinge und kolonisierte Afrikaner geben Einsichten in die Notwendigkeit und auch in die neuen Möglichkeiten, wenn Sprachen erlernt werden (müssen), und was sie in diesen Sprachen wiederum erleben.

Aber auch das Verlernen und Vergessen von Sprachen ist Thema: in einem der ergreifendsten Beiträge beschreibt der Dramatiker Sławomir Mrożek, der nach fast dreißigjähriger Emigration in Frankreich und Mexiko erst 1996 nach Polen zurückkehrte, die Angstgefühle und verworrene Stimmung in den Stunden und Tagen nach einem Schlaganfall und das langsame Wiedererlernen des Sprechens.

Die ausgewählten Texte laden dazu ein, die Sprachwelten Anderer besser zu verstehen und die eigenen zu entdecken.

(Wolfgang Moser; 05/2008)


Brigitta und Thomas Busch (Hrsg.): "Mitten durch meine Zunge"
Verlag Drava, 2008. 256 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Brigitta Busch arbeitet als habilitierte Linguistin an den Universitäten Wien und Kapstadt u. a. an der Weiterentwicklung des sprachbiografischen Zugangs in der Mehrsprachigkeitsforschung.
Thomas Busch befasst sich im Rahmen seiner verlegerischen und editorischen Tätigkeit mit literarischer Mehrsprachigkeit und translingualer Literatur.

Zwei weitere Buchtipps:

Gabriele Leupold und Katharina Raabe (Hrsg.): "In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst"

Literarisches Übersetzen als Aufführung oder Darstellung - wie weit führt dieser Gedanke?
"Es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen." Was Nietzsche über die griechischen Künstler und Dichter sagt, trifft auch auf die Arbeit von Schauspielern, Musikern und Übersetzern zu. Sie alle wissen, was es heißt, wenn etwas nach langem Üben und Probieren endlich "stimmt". Gemeinsam ist ihrer Arbeit die Interpretation eines Textes, der sich in einem nachschöpferischen Prozess in etwas Anderes verwandelt: in die Darstellung auf der Bühne, in eine Studioeinspielung, in ein Buch.
Dass Sprechkunst und Klangkunst, die stimmliche Darstellung von Texten und musikalische Aufführung sich als Übersetzungen einer Notation in einen zeitlichen Verlauf fassen lassen, leuchtet unmittelbar ein. Die Resultate, greifbar in Tondokumenten, sind Gegenstand der Interpretationsgeschichte, wie die Übersetzungen kanonischer Texte auch.
Übersetzer, Musiker und Theaterleute, Musik- und Literaturwissenschaftler, Philosophen und Theologen denken nach über die Unausschöpfbarkeit des Originals und den Weg zur eigenen Interpretation, über den vielfältigen Zwang und die kreative Lücke, über große Verantwortung und kleine Freiheiten.
Aus dem Inhalt:
Olga Radetzkaja: Jirí Lev, Efim Etkind und die Elemente einer avancierten Theorie des Übersetzens
Gabriele Leupold: Leitmotiv und Minimalismus. Belyj und Schalamow
Reinhard Kaiser: Was tut der Übersetzer, wenn er sich auf seinen Text einlässt?
Klaus Reichert: Übersetzen mit dem Ohr
Dževad Karahasan: Was übersetzt der Schauspieler? Zu Platons Inspirationslehre
Stefan Litwin: Die "kreative Lücke"
Prozesse des Übens (Mit Tonbeispielen Schubert)
Dörte Schmidt: Die Krise der Repräsentation
Reinhard Kapp: Was ist an der Aufführungslehre der Wiener Schule fürs Übersetzen relevant?
Reinhart Meyer-Kalkus: Über die vokale Interpretation von Texten. Mit Tonbeispielen (Kainz, Drach, Moissi, Werner, Wüllner, Quadflieg)
Matthias Vogel: Lesen
Interpretieren
Realisieren
Markus Barth: Interpretation als existenzielle Entscheidung
Auf der beigelegten Audio-CD: Klangbeispiele: Goetherezitationen des 20.Jahrhunderts (Prometheus und Erlkönig); Sätze aus Schuberts Klaviersonate G-Dur D 894. (Wallstein Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Guy Deutscher: "Im Spiegel der Sprache" zur Rezension ...
Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht