Rafik Schami: "Das Geheimnis des Kalligraphen"


"Und möchte man sorgfältig mit den Buchstaben musizieren, so erfordert die Leere zwischen den Buchstaben und Wörtern noch größeres Geschick." (Seite 179)

Der Freund aus Damaskus erzählt ...
Rafik Schami führt sich und seine deutschsprachigen Leser in den Orient, genauer gesagt ins Damaskus seiner Kindheit in den 1950er-Jahren.


Ein Gerücht beherrscht die Stadt: Nura, die schöne und außerordentlich gebildete Frau des erfolgreichen Kalligraphen Hamid, hat ihren Mann verlassen. Angeblich habe Nassri Abbani, der stadtbekannte Frauenheld, seine Liebesbriefe an Nura höchstpersönlich bei Meister Hamid in Auftrag gegeben. In Wirklichkeit aber flieht Nura gemeinsam mit dem Christen Salman aus ihrem beengenden Eheleben. Denn ihr Mann lebt schon lange nur noch für die Kalligraphie. Die sich langsam entwickelnde Liebesgeschichte ist eine der Wahrheiten hinter der Flucht Nuras; die zweite ist eine politische Verschwörung gegen jede Reform der arabischen Schrift - und sei sie auch noch so rational erklärbar.

Das jüngste Buch von Rafik Schami, dem Freund aus Damaskus, wie sein Pseudonym lautet, besteht aus drei fast unabhängig aufgebauten Erzählkreisen, den Gerüchten um Nuras Flucht, ihrer Liebesgeschichte - dem so genannten ersten Kern der Wahrheit - und aus dem politischen Komplott jener, die aus falsch verstandenem Kulturkonservatismus alles zerstören und verbieten wollen, was nach Veränderung und Kreativität aussieht. Dies ist der zweite Kern der Wahrheit. Die identen Protagonisten und gedankliche Verbindungen und Schlüsse des Lesers halten die drei Teile zusammen.

Der Syrer, der schon deutlich mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht hat und aus politischen Gründen seit Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr in seine Heimat reisen konnte, zeigt mit diesem gewichtigen Roman ein Meisterwerk orientalischer Erzählkunst in deutscher Sprache: Der Autor begnügt sich nicht mit der Wiedergabe einer Handlung; er führt den Leser gleichsam an der Hand immer tiefer in die Welt von Nura, Hamid und Salim ein, zeigt Wahrheiten hinter dem Augenscheinlichen und verknüpft neben den großen Spannungsbögen der drei Teile unzählige Rückblenden und Ausblicke mit informativen Nebenhandlungen. Doch geht der Erzählfluss, die Führung durch den Autor Rafik Schami, nie verloren. Insbesondere am Ende jedes der meist kurzen Kapitel deutet ein kurzer Satz grob an, was später geschehen wird. Dieses in sich geschickt verwobene Buch kann den Schlaf der Nacht verkürzen ...

Zwischen den Szenen der Handlung erfährt der Leser auch vielerlei über das Leben in einer arabischen Metropole vor rund fünfzig Jahren, als Handwerker, Botengänger und Schönschreiber noch gebraucht wurden, das koloniale Erbe noch jung und der Nationalstolz damals wie heute töricht überbordend war. Aus den historischen Bezügen können deutschsprachige, europäische Leser auch drei Erkenntnisse über die arabische Welt mitnehmen, deren Fehlen viele Missverständnisse verursachen: In Syrien leben auch Christen - Rafik Schami entstammt ebenfalls einer christlichen Familie. Das Leben im Orient kann man wie im "Geheimnis des Kalligraphen" auch aus überwiegend weiblicher Perspektive betrachten - auch wenn Frauen in der medial vermittelten Sicht der arabischen Öffentlichkeit nicht so sichtbar sind. Die dritte Erkenntnis ist, dass Liebe und Sexualität, auch Homosexualität, im Orient mit weit weniger Tabus belastet sind, als hierorts oft angenommen wird.

Mit dem "Geheimnis des Kalligraphen" ist Rafik Schami ein Opus magnum gelungen, gleichzeitig eine Hommage an seine entschwundene Heimat und eine schöne und lesenswerte Buchausgabe, dessen Deckblätter zu den drei Teilen arabische Zitate zu den Themen Wahrheit und Schrift zieren.

(Wolfgang Moser; 12/2008)


Rafik Schami: "Das Geheimnis des Kalligraphen"
Gebundene Ausgabe:
Verlag Carl Hanser, 2008. 464 Seiten.
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Taschenbuchausgaben:
dtv, 2010. 560 Seiten.
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Hörbuch:
Gelesen von Markus Hoffmann und Rafik Schami.
steinbach sprechende bücher, 2008. 6 CDs; Spieldauer ca. 450 Minuten.
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Leseprobe:

1.

Unter dem Gejohle einer Gruppe Jugendlicher taumelte ein Mann aus seinem Getreidegeschäft. Er versuchte verzweifelt, sich an der Tür festzuhalten, doch die lärmende Meute schlug ihm auf die Finger und Arme, zerrte an ihm, versetzte ihm Schläge, wenn auch keine besonders kräftigen. Als wäre das Ganze ein Spaß, lachten die Jugendlichen dabei und sangen ein absurdes Lied, in dem sie zugleich Gott dankten und den Mann unflätig beschimpften. Es waren gereimte Obszönitäten von Analphabeten.
"Hilfe", schrie der Mann, doch keiner half ihm. Die Angst ließ seine Stimme heiser klingen.
Wie Wespen schwirrten kleine Kinder in ärmlichen Kleidern um die Traube der Jugendlichen, die den Mann hermetisch umschloss. Die Kinder quengelten und bettelten in einem fort, auch sie würden den Mann gerne einmal anfassen. Sie fielen zu Boden, richteten sich auf, spuckten geräuschvoll und weit wie Erwachsene und rannten hinter der Meute her.
Nachdem zwei Jahre lang Dürre geherrscht hatte, regnete es an diesem Märztag 1942 wie schon seit über einer Woche ununterbrochen. Erleichtert konnten die Bewohner der Stadt nun wieder tief schlafen. Schlimme Sorgen hatten wie ein Alp auf Damaskus gelegen. Schon im September des ersten Jahres der Dürre waren die Unheilverkünder, die Steppenflughühner, gekommen, sie suchten in riesigen Schwärmen Wasser und Nahrung in den Gärten der grünen Oase Damaskus. Man wusste seit Urzeiten, wenn dieser taubengroße, sandfarben gesprenkelte Steppenvogel erscheint, wird es Dürre geben. So war es auch in jenem Herbst. So war es immer. Die Bauern hassten den Vogel.
Sobald das erste Steppenflughuhn gesichtet wurde, erhöhten die Großhändler von Weizen, Linsen, Kichererbsen, Zucker und Bohnen die Preise.
In den Moscheen beteten die Imame seit Dezember mit Hunderten von Kindern und Jugendlichen, die, von Lehrern und Erziehern begleitet, scharenweise alle Gebetshäuser aufsuchten.
Der Himmel schien alle Wolken verschluckt zu haben. Sein Blau war staubig. Die Saat harrte voller Sehnsucht nach Wasser in der trockenen Erde aus, und was kurz keimte, erstarb - dünn wie Kinderhaare - in der sommerlichen Hitze, die bis Ende Oktober anhielt. Bauern aus den umliegenden Dörfern nahmen in Damaskus für ein Stück Brot jede Arbeit an und waren dankbar dafür, denn sie wussten, bald würden die noch hungrigeren Bauern aus dem trockenen Süden kommen, die mit noch weniger Lohn zufrieden wären.
Scheich Rami Arabi, Nuras Vater, war seit Oktober völlig erschöpft, denn neben den offiziellen fünf Gebeten in seiner kleinen Moschee musste er Männerkreise leiten, die bis zur Morgendämmerung religiöse Lieder sangen, um Gott milde zu stimmen und Regen zu erbitten. Und auch am Tag kam er nicht zur Ruhe, denn zwischen den offiziellen Gebetszeiten rückten die Massen der Schüler an, mit denen er traurige Lieder anstimmen musste, die Gottes Herz erweichen sollten. Es waren weinerliche Lieder, die Scheich Rami Arabi nicht mochte, weil sie von Aberglauben nur so trieften. Der Aberglaube beherrschte die Menschen wie ein Zauber. Es waren keine ungebildeten, sondern angesehene Männer, die glaubten, die Steinsäulen der benachbarten Moschee würden beim Gebet Scheich Hussein Kiftaros vor Rührung weinen. Scheich Hussein war ein Halbanalphabet mit großem Turban und langem Bart.
Rami Arabi wusste, dass Säulen niemals weinen, sondern durch die Kälte Wassertropfen aus dem Dampf kondensieren, den die Betenden ausatmen. Aber das durfte er nicht sagen. Den Aberglauben müsse er erdulden, damit die Analphabeten ihren Glauben nicht verlören, sagte er seiner Frau.
Am ersten März fiel der erste Tropfen Wasser. Ein Junge kam in die Moschee gerannt, während Hunderte von Kindern sangen. Er schrie so schrill, dass alle verstummten. Der Junge erschrak, als es so still wurde, dann aber kamen die Worte schüchtern und leise aus seinem Mund: "Es regnet", sagte er. Eine Woge der Erleichterung ging durch die Moschee und man hörte aus allen Ecken den Dank an Gott: Allahu Akbar. Und als hätten auch ihre Augen den Segen Gottes erfahren, weinten viele Erwachsene vor Rührung.
Draußen regnete es, anfangs zögerlich und dann in Strömen. Die staubige Erde hüpfte vor Freude, dann sättigte sie sich und wurde ruhig und dunkel. Innerhalb weniger Tage glänzte das Pflaster der Straßen von Damaskus vom Staub befreit, und die gelben Felder außerhalb der Stadt bekamen einen zarten, hellgrünen Mantel.
Die Armen atmeten erleichtert auf und die Bauern machten sich auf den Weg zurück zu ihren Dörfern und zu ihren Frauen.
Scheich Rami aber regte sich auf, denn nun war die Moschee wie leergefegt. Abgesehen von ein paar alten Männern kam niemand mehr zum Gebet. "Sie behandeln Gott wie einen Restaurantdiener. Sie bestellen bei ihm Regen, und sobald er ihnen das Bestellte bringt, zeigen sie ihm die kalte Schulter", sagte er.

Der Regen wurde weniger und ein warmer Wind fegte die feinen Tropfen in die Gesichter der Jugendlichen, die nun ihren Tanz mit dem Mann in die Mitte der Straße verlegten. Sie schlossen ihre Arme um ihn und drehten ihn in ihrer Mitte, und dann flog sein Hemd über die Köpfe, und als wäre es eine Schlange oder eine Spinne, traten die Kleineren im äußersten Kreis der Tanzenden erregt auf das Hemd, zerbissen und zerrissen es in Fetzen.
Der Mann hörte auf, Widerstand zu leisten, weil ihn die vielen Ohrfeigen verwirrten. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Ton heraus. Irgendwann flog seine dicke Brille durch die Luft und landete in einer Pfütze am Bürgersteig.
Einer der Jugendlichen war schon heiser vor Aufregung. Er sang inzwischen keine Reime mehr, sondern aneinandergereihte Schimpfwörter. Die Jugendlichen skandierten wie berauscht und streckten ihre Hände gen Himmel: "Gott hat uns erhört."
Der Mann schien niemanden zu sehen, während sein Blick auf der Suche nach Halt umherirrte. Für einen Augenblick starrte er Nura an. Sie war gerade sechs oder sieben und stand vor dem Regen geschützt unter der großen, bunten Markise des Süßigkeitenladens am Eingang ihrer Gasse. Sie wollte gerade anfangen, den roten Lutscher zu genießen, den sie für einen Piaster bei Elias geholt hatte. Aber die Szene vor ihr nahm sie gefangen. Jetzt zerrissen die Jugendlichen die Hose des Mannes, und keiner der Passanten half ihm. Er fiel zu Boden. Sein Gesicht war starr und blass, als hätte er bereits eine Ahnung von dem, was noch kommen sollte. Die Tritte, die ihm die Tanzenden versetzten, schien er nicht zu spüren. Er schimpfte nicht und flehte nicht, sondern tastete zwischen den dünnen Beinen der Jugendlichen den Boden ab, als ob er seine Brille suchen würde.
"In der Pfütze", sprach Nura, als wollte sie ihm helfen.
Als ein älterer Herr im grauen Kittel der Angestellten zu ihm gehen wollte, wurde er auf dem Bürgersteig von einem Mann unsanft aufgehalten, der elegante traditionelle Kleider trug: nach hinten offene Schuhe, weite schwarze Hosen, weißes Hemd, bunte Weste und einen roten Schal aus Seide um den Bauch. Über seinen Schultern lag das gefaltete, schwarzweiß gemusterte Kufiya, das arabische Männerkopftuch. Unter dem Arm trug er ein verziertes Bambusrohr. Der dreißigjährige muskulöse Mann war glatt rasiert und hatte einen großen, mit Bartwichse gepflegten schwarzen Schnurrbart. Er war ein bekannter Schlägertyp. Man nannte solche Damaszener Männer Kabadai, ein türkisches Wort, das so viel bedeutet wie Raufbold. Das waren kräftige und furchtlose Männer, die oft Streit suchten und davon lebten, für Wohlhabende mit sauberen Händen schmutzige Aufträge zu erledigen, wie etwa jemanden zu erpressen oder zu demütigen. Der Kabadai schien Gefallen an der Tat der Jugendlichen gefunden zu haben.
"Lass den Kindern ihren Spaß mit diesem Ungläubigen, der ihnen das Brot vom Mund raubt", rief er wie ein Erzieher, packte den Mann im grauen Kittel mit der linken Hand am Hals und schlug ihm mit dem Stock lachend auf den Hintern, während er ihn ins Geschäft zurückbeförderte. Die umstehenden Männer und Frauen lachten über den Angestellten, der wie ein Schüler zu flehen anfing. (...)

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