Gustav Meyrink: "Walpurgisnacht"


Nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal wurde "Walpurgisnacht" von Gustav Meyrink herausgebracht

Die Geschichte selbst umfasst lediglich 207 Seiten. Sie spielt in Prag zur Zeit des Ersten Weltkrieges und zwar in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai - eben in der Walpurgisnacht.
Meyrink beschreibt darin einige Figuren, die im "Oben" leben, einige Adelsleute auf dem Hradschin. Während diese sich zum Kartenspiel treffen und mit dem "Unten", der Welt der Proletarier, nichts zu tun haben wollen, schneit ein Fremder in ihre Mitte, der alles durcheinander bringt.

Meyrinks Prag ist ein reales und doch unbekanntes und unbestimmtes. Mit den Figuren ist es nicht anders. Sie alle stehen für etwas, für jemanden, für eine bestimmte Art, Wesenheit und Charakter, und doch sind es Individuen - wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise.

Es fällt schwer, zu "Walpurgisnacht" einen umfangreichen Einblick zu geben, ohne in eine Nacherzählung zu geraten, denn auf den wenigen Seiten passiert unheimlich vieles, und das in einer Sprache, die schwer zu lesen ist und an die man sich erst einmal gewöhnen muss.
Meyrink wurde 1868 geboren und starb 1932, "Walpurgisnacht" erschien erstmals 1917. Da bleibt es nicht aus, dass einem Leser des 21. Jahrhunderts so einiges fremd erscheint, eben auch die Sprache an sich. Zusammen mit all den versteckten und offensichtlichen Ereignissen im Roman, mit all den direkten und indirekten Inhalten, ergibt sich daraus eine Lektüre, in die man sich einfinden muss und die nicht sinnvoll zwischen Tür und Angel geschehen kann.

Wer die Ruhe und Muße hat, sich auf "Walpurgisnacht" einzulassen, wird letztlich positiv überrascht sein. Es steckt sehr viel in diesem Roman, der der Fantastik zuzuordnen ist, so vieles, dass es für mehrere Lesedurchgänge und immer wieder einen weiteren ausreicht. Es gibt viel zu entdecken, zu erkennen, und auch vieles, das sich mit in die gegenwärtige Zeit nehmen beziehungsweise übertragen lässt.

Als kleine Hilfe, Anregung, vielleicht auch als eine Art Lektüreschlüssel, fungieren das enthaltene Nachwort von Ulrike Ehmann, das Meyrinks Lebensweg kurz skizziert, aber ebenso den der in "Walpurgisnacht" enthaltenen Figuren, sowie die knappe Zeittafel, die näheren Aufschluss über Meyrinks Leben und Werk bietet.

(Tanja Thome; 06/2008)


Gustav Meyrink: "Walpurgisnacht"
Mit einem Nachwort von Ulrike Ehmann.
dtv, 2008. 220 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Der weiße Dominikaner. Aus dem Tagebuch eines Unsichtbaren"

Ein Klassiker der fantastischen Literatur
Wieder taucht man mit Gustav Meyrink tief ein in okkulte Welten: Christopher Taubenschlag, Waise und Ziehkind eines in esoterischen Lehren beschlagenen Barons, besitzt die Fähigkeit, im Traum zwischen den Welten der Lebenden und der Toten zu wandeln. Die Entdeckung seiner wahren Herkunft und die Liebe zu der unglücklichen Ophelia treiben ihn immer tiefer in die Mysterien von Tod und Visionen. Nach Ophelias Selbstmord kennt Christopher nur noch ein Ziel: Er muss das Rätsel um das ewige Leben lüften, um für immer an der Seite seiner toten Geliebten weilen zu können. Welche Rolle wird dabei das geheimnisvolle Erbe seiner Ahnen spielen? (dtv)
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"Der Kardinal Napellus"
Gustav Meyrink gibt mit seinen Erzählungen so manches Rätsel auf, das den Leser noch lange beschäftigen wird. Seine fantastischen Ideen speisen sich aus alten Überlieferungen und religiösen Mythen, so dass sie nicht vollkommen abwegig, sondern immer auch möglich scheinen.
Was bedeutet beispielsweise die Grabinschrift "vivo"? Könnte man ganz und gar ohne Hoffnungen und Wünsche und somit glücklich leben? Verbirgt sich hinter unserer Lebenswelt eine zweite, die wir vielleicht sogar aufsuchen könnten, wenn wir es nur wollten?

Leseprobe:
Wir wußten nicht viel mehr von ihm außer seinen Namen: Hieronymus Radspieller, und daß er jahraus, jahrein in dem zerfallenen Schlosse lebte und von dem Besitzer, einem weißhaarigen, mürrischen Basken - dem hinterbliebenen Diener und Erben eines in Trübsinn und Einsamkeit verwelkten Adelsgeschlechtes - ein Stockwerk für sich allein gemietet und mit kostbarem, altertümlichem Hausrat wohnbar gemacht hatte.

Ein greller phantastischer Gegensatz, wenn man eintrat in diese Räume aus der wegverwachsenen Wildnis draußen, in der nie ein Vogel sang und alles vom Leben verlassen schien, wenn nicht hin und wieder die morschen, wirrbärtigen Eiben schreckerfüllt aufächzten unter der Wucht des Föhns, oder der grünschwarze See wie ein in den Himmel starrendes Auge die weißen, ziehenden Wolken spiegelte.
Fast den ganzen Tag war Hieronymus Radspieller in seinem Boot und ließ ein funkelndes Metall-Ei an langen, feinen Seidenfäden hinab in die stillen Wasser - ein Lot, um die Tiefen des Sees zu ergründen.

Er wird wohl in Diensten einer geographischen Gesellschaft stehen, mutmaßten wir, wenn wir, von unseren Angelfahrten heimgekehrt, des Abends noch ein paar Stunden in dem Bibliothekzimmer Radspiellers beisammen saßen, das er uns gastfreundlich zur Verfügung gestellt hatte.

"Ich habe heute von der alten Botenfrau, die die Briefe über den Bergpaß trägt, zufällig erfahren, daß die Rede geht, er solle in seiner Jugend ein Mönch gewesen sein und habe sich Nacht für Nacht blutig gegeißelt - sein Rücken und seine Arme seien über und über mit Narben bedeckt", mischte sich Mr. Finch ins Gespräch, als sich wieder einmal der Austausch der Gedanken um Hieronymus Radspieller drehte - "übrigens, wo er heute nur so lange bleibt? Es muß längst elf Uhr vorbei sein."

"Es ist Vollmond", sagte Giovanni Braccesco und deutete mit seiner welken Hand durch das offene Fenster hinaus auf den flimmernden Lichtweg, der quer über dem See lag; "wir werden sein Boot leicht sehen können, wenn wir Ausschau halten."
Dann, nach einer Weile, hörten wir Schritte die Treppe heraufkommen; aber es war nur der Botaniker Exhcuid, der da, so spät von seinen Streifzügen heimgekommen, zu uns ins Zimmer trat.

Er trug eine mannshohe Pflanze in der Hand mit stahlblau glänzenden Blüten.
"Es ist ohne jeden Zweifel das größte Exemplar dieser Gattung, das jemals gefunden wurde; ich hätte nie geglaubt, daß der giftige Sturmhut noch in solchen Höhen wächst", sagte er mit klangloser Stimme, nachdem er uns einen Gruß zugenickt hatte. Dann legte er die Pflanze mit umständlicher Sorgfalt, damit ihr kein Blatt geknickt werde, auf das Fensterbrett.

"Es geht ihm wie uns", kroch es mir durch den Sinn, und ich hatte die Empfindung, daß Mr. Finch und Giovanni Braccesco in diesem Momente dasselbe dachten, "er wandert ruhelos als alter Mann über die Erde, wie einer, der sein Grab suchen muß und nicht finden kann, sammelt Pflanzen, die morgen verdorrt sind; wozu? warum? Er denkt nicht nach darüber. Er weiß, daß sein Tun zwecklos ist, wie wir es von dem unsrigen wissen, aber ihn wird wohl auch die traurige Erkenntnis zermürbt haben, daß alles zwecklos ist, was man beginnt, ob es groß scheint oder klein - so wie sie uns anderen zermürbt hat ein Menschenleben lang. Wir sind von Jugend an wie die Sterbenden", fühlte ich, "deren Finger unruhig über die Bettdecke tasten; die nicht wissen, wonach sie greifen sollen, wie Sterbende, die einsehen: Der Tod steht im Zimmer, was kümmert es ihn, ob wir die Hände falten oder die Fäuste ballen." (edition Büchergilde)
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Hartmut Binder: "Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie"
Mit Hartmut Binders Werk liegt erstmals eine umfassende, auch gehobenen Ansprüchen genügende Biografie Gustav Meyrinks vor. Einer der wichtigsten Satiriker deutscher Zunge und zugleich einer der bedeutendsten Vertreter fantastischer Literatur wird damit vom Rankenwerk fragwürdiger Legenden befreit, die bisher den Blick auf sein Leben verstellt hatten.
Anhand bislang unbekannter Archivmaterialien, unausgewerteter gedruckter Quellen und mit Hilfe zahlreicher historischer Abbildungen führt Binder den Leser durch Meyrinks unglückliche Jugendjahre, zeigt den Prager Dandy, Sportsmann, Esoteriker, Prozesshansel, der einen Gesellschaftsskandal provozierte, den scheiternden Bankier, der wegen Betrugsverdacht monatelang in Untersuchungshaft saß, beschreibt den Münchner Übersetzer und den erfolgreichen Schriftsteller, der sich an den Starnberger See zurückzog.
Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Prager Jahren Meyrinks, denn die besondere Atmosphäre der alten Kaiserstadt an der Moldau, ihre Legenden und ihr Figurenschatz haben tiefe Spuren in den frühen Satiren, in der "Walpurgisnacht" und im Golem-Roman hinterlassen, die ausführlich gewürdigt werden.
Aus dem Inhalt: Die frühen Jahre eines "sehr unglücklichen Kindes", Gustav Meyrink als Rennruderer, Ehrenaffären und Gesellschaftsskandale, Untersuchungshaft in Prag, Begeisterung für Spiritismus und okkulte Phänomene, Als Redakteur in Wien, Welterfolge mit fantastischen Romanen, Am Starnberger See, Meyrinks Tod. (Vitalis)
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