Wolfgang Frühwald: "Das Gedächtnis der Frömmigkeit."

Religion, Kirche und Literatur in Deutschland


Seit der Reformator Martin Luther mit seiner Übersetzung der beiden Teile der Bibel ins Deutsche weitgehende, bis in die heutige Zeit reichende Maßstäbe gesetzt und Prägungen für die deutsche Schriftsprache bewirkt hat, sind Spiritualität und Sprache im Deutschen nur schwer voneinander zu trennen. Frömmigkeit, wie der emeritierte Münchner Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald die heute gerne so bezeichnete Glaubenshaltung in seinem vorliegenden Buch konsequent nennt, steht sozusagen an der Wiege der deutschen Literatur.
Frühwald spricht wie in anderen seiner Schriften auch hier vom "Gedächtnis", also davon, was über die Jahrhunderte in seinem langen Entwicklungsweg "aufbewahrt" wurde.

Der Autor zeichnet diesen Weg bei so unterschiedlichen Autoren wie Matthias Claudius, Johann Wolfgang von Goethe, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff und Adalbert Stifter, den religiös geprägten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, wie etwa Alfred Döblin, Elisabeth Langgässer, Reinhold Schneider und Albrecht Goes, aber auch bei modernen Autoren wie Horst Bienek, Peter Huchel und Tankred Dorst, nach.
Doch Frühwalds Buch handelt nicht nur von frommer Zuversicht und Gottesfreuden, sondern auch von Gottesferne und nihilistischer Verzweiflung. Deshalb hat er sein Buch mit zwei "Untröstlichkeiten" genannten Kapiteln eingerahmt.

Wolfgang Frühwalds Buch ist eine Literaturgeschichte eigener Art, und obwohl sie in säkularen Zeiten von Frömmigkeit handelt, ist sie aktuell, nicht nur wegen der von Habermas so genannten "postsäkularen Kultur", die sich in den letzten Jahren dem Phänomen der Religion wieder neu und zunehmend unbefangen stellt.

Beeindruckend ist neben den zahlreichen auch persönlichen Zeugnissen der behandelten Schriftsteller die Geschichte Horst Bieneks, der Anfang der 1950er-Jahre nach einer Denunziation für Jahre in einem russischen GULAG verschwand. Dort begegnete der bisher agnostische Bienek einem Mitgefangenen, der große Teile der Bibel auswendig kannte und sie seinen Leidensgenossen erzählte. Ohne den Zuspruch des Apostels Paulus, so bekennt Bienek, ohne die Briefe an die Korinther, hätte er die Qualen des Lagers vermutlich nicht überlebt.

Seit Jahrzehnten erfahren angehende Theologen bei ihrer Predigtausbildung von entsprechend denkenden Lehrern vom hohen Wert der Literatur für die Verkündigung der christlichen Botschaft, und doch kommen viele in der Fülle ihrer alltäglichen Arbeit kaum zum Lesen. Das vorliegende Buch aus dem neuen, die Landschaft der Bücher enorm bereichernden "Verlag der Weltreligionen" könnte sie ermutigen, die Lektüre klassischer, aber auch moderner Literatur wieder in ihre homiletische Arbeit einzubeziehen.
"Religion ist Sinn und Geschmack für 'alles Unendliche'", sagte Schleiermacher Anfang des 19. Jahrhunderts. Das ist heute aktueller als je zuvor.

Wolfgang Frühwalds Darstellung verschiedener Dichter, und dessen, wie sie jeweils "die Gretchenfrage" beantworten, ist vorbildlich; ihm sind wunderbare Porträts gelungen: lebendig, vielfältig und berührend.
"Das Gedächtnis der Frömmigkeit" ist nicht nur, aber besonders Theologen sehr zu empfehlen.

(Winfried Stanzick; 05/2008)


Wolfgang Frühwald: "Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland"
Verlag der Weltreligionen, 2008. 369 Seiten.
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