Sabahattin Ali: "Die Madonna im Pelzmantel"


Verpasste Gelegenheiten oder: Eine auf dem Meer schaukelnde Nussschale

"Wie lächerlich, oberflächlich und unbedeutend, und gleichzeitig wie unbarmherzig sind doch die Faktoren, welche die Beziehungen zwischen den Menschen bestimmen! (...) Gerade weil wir wissen, wie schwer es ist, den anderen wirklich zu erkennen, und die damit verbundene Mühe oft scheuen, ziehen wir es vor, wie Blinde aneinander vorbeizulaufen", sinniert der namenlose Ich-Erzähler zu Beginn des Romans. Diese Erkenntnis gewinnt er, nachdem er einem anderen Mann, der von der Masse der Gesellschaft eher nicht beachtet wurde, einem "ganz normalen Sterblichen ohne herausragende Eigenschaften, wie sie uns täglich zu Hunderten begegnen und denen wir kaum einen Blick schenken", näher gekommen ist. Dessen Lebensgeschichte - die des Raif Efendi - erzählt er in diesem Buch und öffnet und schärft dabei den Blick für das Individuelle, das Innere in einem Menschen.

"Wenn wir, statt diesen für uns undurchschaubaren Individuen jegliches Seelenleben abzusprechen, auch nur ein wenig neugierig wären und ihre verborgene Innenwelt zu erforschen versuchten, würden wir sehr wahrscheinlich auf überraschende Dinge, ja unerwartete Schätze stoßen." Als neuer Angestellter im Unternehmen seines ehemaligen Schulfreundes wird der Ich-Erzähler in das Büro des Raif Efendi gesetzt. Dieser von allen nur herumkommandierte stille, oft kränkelnde, jedoch fleißige und pünktliche Mann arbeitet als Übersetzer vom Deutschen ins Türkische. Stoisch lässt er alle Beschimpfungen über sich ergehen, ohne jemals gegen all die an ihm verübten Ungerechtigkeiten aufzubegehren. Auch zu Hause führt er ein untergeordnetes Dasein und lässt sich von seiner großen Familie ausnutzen.

Dieser Mann erregt dennoch die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers, und beide kommen sich langsam näher. Er weiß zwar immer noch nicht, was für ein Mensch er ist, aber dessen, dass er nicht der war, der er schien, ist er sich zunehmend sicher. Als Raif eines Tages ernsthaft erkrankt und keine Aussicht auf Besserung besteht, bittet er seinen jungen Kollegen, seinen Büroschreibtisch zu leeren und ihm den Inhalt zu bringen. Unter den wenigen Habseligkeiten ist ein kleines, geheimnisvolles, schwarzes Heft.

"Erst ein Zusammenstoß bringt uns die Existenz des anderen ins Bewusstsein."
Dieses schmale Heft entpuppt sich als rückblickender Lebensbericht, der tief ins Innerste des alten Mannes blicken lässt. "Gestern ist mir etwas Sonderbares zugestoßen, etwas, das mir gewisse, zehn Jahre zurückliegende Ereignisse in Erinnerung rief ...", beginnt der erste Satz, der mit dem Datum 20. Juni 1933 überschrieben ist.
In den 1920er-Jahren von seinem Vater nach Berlin geschickt, um die Seifenherstellung zu studieren, lernt er jedoch etwas viel Wertvolleres kennen: die tiefe Liebe zu einer Frau.

Begonnen hatte alles mit einem Gemälde in einer Ausstellung, dem Selbstporträt der darauf abgebildeten Künstlerin - der "Madonna im Pelzmantel". Raif verliebt sich unsterblich in diese Abbildung ("Sie war eine Mischung, eine Verschmelzung aller je in meiner Fantasie lebenden Frauen"), bis er Nora Puder - die Malerin - persönlich kennenlernt. Zwei äußerst individuelle Menschen treffen aufeinander: er, Raif, der stille, menschenscheue, undurchschaubare Träumer, der bis dato nur in seinen Büchern lebte, und sie, Nora, die kapriziöse, wechselhafte, selbstbewusste und selbstbestimmende Frau. Doch trotzdem scheint es ganz so als wäre eine Seele auf ihr Ebenbild getroffen. Es entwickelt sich eine Nähe, die auf geistiger, gedanklicher Übereinstimmung begründet ist.

"Zu leben, in dem man die kleinste Regung der Natur wahrnahm und die unerschütterliche Logik unserer Existenz begriff; zu leben und zu wissen, dass man bewusster und intensiver lebte als alle anderen; zu leben, indem man die Fülle eines ganzen Lebens in einen Augenblick komprimierte ... Vor allen Dingen aber zu wissen, dass es jetzt einen Menschen gab, dem man all dies erzählen, auf den man warten konnte ..."
Doch ganz so harmonisch läuft diese innige Beziehung nicht ab. Zu sehr reiben sich die zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten aneinander. "Die Menschen können nur bis zu einem gewissen Grad einander nahekommen, alles weitere entspringt ihrer Erfindung, und wenn sie eines Tages ihren Irrtum einsehen, lassen sie in ihrer Verzweiflung alles zurück und suchen das Weite. Das müsste nicht sein, wenn sie sich nur mit dem Möglichen begnügen und davon absehen würden, ihre Wunschvorstellungen für wahr zu halten."
Dann geschieht etwas, das alles verändern sollte, allem eine neue Richtung gibt ...

Feingeistiges Kunstwerk
Nach der Lektüre dieses Tagebuches wird dem jungen Ich-Erzähler endgültig klar, dass dieser unscheinbare Raif Efendi unauslöschlich in sein Leben getreten ist. "Noch nie habe ich die Gegenwart eines anderen Menschen so bewusst und lebendig in mir wahrgenommen", sind seine Worte, die sogleich die letzten Zeilen des Romans einläuten und denen man sich uneingeschränkt anschließen möchte.

Sabahattin Ali nimmt den Leser für Stunden gefangen, er zieht ihn in einen geradezu magischen Sog und verzaubert ihn. In luziden, tiefgeistigen, ja philosophischen Betrachtungsweisen schaut der 1948 auf bis heute ungeklärte Weise auf der Flucht nach Bulgarien ermordete türkische Hoffnungsträger der damaligen Istanbuler Literaturszene tief ins Innerste der Menschen und zeichnet gleichzeitig ein wunderbares Lokalkolorit des Berlins der 1920er-Jahre mit einem neueren, freieren Frauenbild.

Mit essenziellen, teils elegischen, teils hoffnungsfrohen, aber immer unprätentiösen Worten und Sätzen - wie eine grazile Decklasur - überzieht er seine Prosa und schafft so ein eigenständiges kleines Kunstwerk, das Melancholie, zuweilen gar Hoffnungslosigkeit, aber gleichzeitig auch Lebensfreude ausdrückt, manchmal wie ein Traum erscheint. Die Handlung tritt gegenüber langen inneren Monologen und Selbstanalysen zurück. Tiefe Einblicke in die menschliche Seele wechseln mit detailreichen Naturbeobachtungen. Wortgewandt, manchmal spöttisch und selbstironisch, weiß Ali sein Publikum grandios zu umgarnen. Ein wunderbar besinnliches, kleines, feines Meisterwerk.

Fazit:
Sabahattin Ali hat ein meisterlich feingeistig-kraftvolles Werk geschrieben, das die innersten Seiten eines Menschen berührt und die sensiblen zum Vibrieren bringt. Ute Birgi hat seine Worte einfühlsam und ohne Identitätsverlust ins Deutsche übertragen.

(Heike Geilen; 08/2008)


Sabahattin Ali: "Die Madonna im Pelzmantel"
(Originaltitel "Kürk Mantolu Madonna")
Aus dem Türkischen von Ute Birgi.
Dörlemann, 2008. 254 Seiten.
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Sabahattin Ali wurde am 12. Februar 1906 in Gümülcine (im heutigen Nordgriechenland) geboren. Nach seinem Studium in Berlin und Potsdam (1928 bis 1930) lehrte er in der Türkei Deutsch. Ali musste zeitlebens gegen die staatliche Zensur kämpfen, 1932 wurde er wegen eines Satire-Gedichts über Atatürk für ein Jahr inhaftiert. 1944 gab er in Istanbul das Satire-Blatt "Markopasa" heraus. Am 2. April 1948 wurde Ali auf der Flucht ins Exil an der bulgarischen Grenze ermordet. Bis heute ist ungeklärt, ob er einem Raubmord oder einem politischen Anschlag zum Opfer fiel.

Ein weiterer Roman des Autors:

"Der Dämon in uns"

Ein großer Istanbul-Roman über die ruhelose Generation der frühen Republikjahre: Ömer und Macide, beide heimatlos in der vibrierenden Großstadt, suchen ihr Glück und verlieren es wieder.
Als Ömer bei einer Fahrt auf dem Bosporus Macide erblickt, durchfährt es ihn wie ein Blitz: Er kennt diese Frau bereits! Macide bricht alle Brücken hinter sich ab, verlässt ihre Familie und zieht zu ihm in seine Kammer. Eine Weile leben die beiden selig in ihrer eigenen Welt. Doch dann melden sich die Dämonen in Ömer: Zweifel, Unsicherheit, Verlockungen. Wirre Kaffeehaus-Intellektuelle ziehen ihn in gefährliche Abenteuer.
Sabahattin Ali war ein Bahnbrecher der türkischen Literatur. Sein Roman ist eine Liebeserklärung an Istanbul und seine Bewohner. Die junge Republik hat das Oberste zuunterst gekehrt. In den Kneipen, Tanzsälen, Konzert-Cafés, Kinos, dunklen Werkstätten, Märkten und Straßen begegnen sich Luxus und Armut, Absteiger und Neureiche. (Unionsverlag)
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