(...) So finde ich also im Gedächtnis die helle Diele der Großmutter wieder, von der aus in gleichmäßigem Abstand die Türen zu den anderen Räumen gingen. Hinten links lag die Küche, ganz in Weiß und ungemein aufgeräumt. Der sogenannte sparhert war an den Rändern emailliert, und die Kochplatte bestand aus einer Reihe konzentrischer Ringe, die man zu meiner Verwunderung abnehmen konnte, um größere oder kleinere Öffnungen zu schaffen. Auf dem Arm der Großmutter betrachtete ich oft mit fasziniertem Staunen das rotlodernde Feuer in diesen Löchern. Auch die Tischplatte aus hellem Marmor übte auf mich einen besonderen Reiz aus. Sie war von einem tiefen, schwarzen und unregelmäßigen Riss durchzogen, der in einem Gegensatz zu den leichten bläulichen Äderungen der Oberfläche stand. Mir machte es Spaß, mit den Augen diesen verschwommenen Arabesken zu folgen, diesen immer neuen Mustern, wie flüchtige Wolkenbilder an einem Frühlingshimmel. Die Küche hatte auch einen großen Balkon, der auf einen düsteren, staubigen Hof mit gestampftem Lehmboden ging.
Mit diesem Hof ist eine der Episoden aus meiner frühen Kindheit verbunden, an die ich mich gut erinnern kann. Nach unserem Umzug in die Via Angheben hatte die Großmutter ein Zimmer an einen jungen, schlanken und freundlich blickenden Offizier vermietet. Eines Tages, als die Großmutter mich auf dem Arm hatte, schenkte mir der Offizier eine Schachtel mit kleinen Schokoladetäfelchen, auf die ich ganz versessen war. Ich sagte nichts, gab aber der Großmutter zu verstehen, daee ich auf den Boden abgesetzt werden wollte. Mit der kostbaren Schachtel in der Hand ging ich auf den Küchenbalkon und warf sie in den Hof hinunter. Die Mama und die Großmutter machten mir heftige Vorwürfe wegen dieses unverständlichen, undankbaren und absolut ungezogenen Verhaltens. Keiner, auch nicht der junge Offizier, verstand, dass diese Geste nichts anderes war als ein unbeholfenes Manöver weiblicher Koketterie. Indem ich mich ablehnend zeigte, wollte ich zu verstehen geben, dass ich nicht leicht zu erobern sei, und erklärte mich bereit zum Liebesgeplänkel.
Danach rannte ich lange Zeit bei jedem Besuch auf diesen Balkon und versuchte drunten meine Schokoladenschachtel zu entdecken, vergeblich geopfert und für immer verloren, zusammen mit dem schönen Offizier, den ich nie wiedersah.
Die größten und geheimnisvollsten Verlockungen im Haus der Großmutter kamen jedoch aus dem Speisezimmer, das auch als Salon diente und dessen Zutritt mir, selbst als ich schon älter war, verwehrt blieb. Die Großmutter hielt es verschlossen und öffnete es nur zu besonderen Anlässen, bei wichtigen Besuchen oder irgendwelchen festlichen Essen. Durchs Schlüsselloch suchte ich neugierig, seine Geheimnisse zu ergründen. Es lag immer im Halbdunkel, fast als ob auch das Licht Würde und Andacht des Raums stören könnten. Die Einrichtung war überladen, doch in meinen Augen gab es nichts Schöneres als die Schale mit farbigen Glasfrüchten in der Mitte der großen Tafel. Das spärliche Licht, das durch die Fenster hereindrang, schien sich ganz in dieser vielfältigen verschwommenen Transparenz zu sammeln, im bald leuchtenden, bald matten Widerschein der dunkelroten, violetten, amarantfarbenen und blauen Formen. Die Äpfel, die Pflaumen, die Birnen und die über den Rand hängenden Weintrauben gaukelten mir eine ferne, märchenhafte Üppigkeit vor. Dieses Zimmer wird für mich immer ein mythisches und unerforschtes Land bleiben, das Atlantis meiner Kindheit.

(...)

In der Nähe der Piazza Dante, im Zentrum von Fiume, wohnte die Großmutter Quarantotto zusammen mit dem Großvater und der Familie der Tante Nina, die damals erst zwei Kinder hatte, Enzo und Elsa. Das jüngste, Italo, kam dann in Triest, im Flüchtlingslager Silos zur Welt.
Das Haus besaß einen imposanten Eingang, dunkel wie eine Höhle und außen von zwei mächtigen Karyatiden flankiert, die, unmittelbar unter dem Architrav stehend, das ganze Gebäude zu stützen schienen. Auch die Wohnung war dunkel und wirkte fensterlos, denn die Großmutter war keine Freundin von Luft und Licht und hielt die Läden immer halb geschlossen. Sie war die treibende Kraft des Hauses. Die anderen, ganz besonders Großvater Antonio, waren lediglich Satelliten, die um ihren anmaßenden Stern kreisten. Großvater Antonio war ein sanftes altes Männchen, asthmatisch und ganz krumm, fast ohne Hals, und er starb wenige Monate nach der Aussiedlung in Como. Er war in Dalmatien, in Ragusa, geboren und hatte, früh verwaist, als Schiffskoch zu arbeiten begonnen. Später eröffnete er in Fiume ein Restaurant, das Lloyd, das mit der Zeit zum bekanntesten und gepflegtesten der Stadt wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging das Lokal pleite, und der Großvater machte nun in der Nähe ein melancholisches Café auf, das ich als düster, verräuchert und immer leer in Erinnerung habe; das einzig Fröhliche darin war das grüne Tuch des großen Billardtischs.
Der Großvater stand völlig unter dem Pantoffel seiner Frau, und daher gab es mit ihm keine größeren Probleme im Zusammenleben, aber zwischen Mutter und Tochter sowie dem Schwiegersohn Rudi war die Beziehung äußerst gespannt, und es krachte häufig. Die Großmutter Maria, die ich seltsamerweise bei ihrem Nachnamen (Quarantotto) nannte, wie ich es auch mit der Großmutter Filippina (Madieri) hielt, war in San Colombano, in der Nähe von Muggia, geboren und stammte aus einer Bauernfamilie. Vom Land hatte sie sich die Härte und die Unerbittlichkeit bewahrt. Ihre Geschwister unterteilte sie in zwei Kategorien: Mit Respekt sprach sie von Matteo, der in Monfalcone Werftarbeiter, und von Giordano, der Taucher geworden war, sowie von dessen Sohn Ernesto, einem großen Flieger, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Dagegen verachtete, ja hasste sie beinahe ihren Bruder Domenico, der Bauer geblieben war, sowie die Schwestern Rosina, ungebildet und Tabakschnupferin, und Teresa, die jüngste, die als verworfen galt, weil sie verführt und nach der erzwungenen Hochzeit sehr bald von ihrem brutalen und versoffenen Ehemann sitzengelassen worden war. Die in Schande empfangene kleine Tochter starb sehr früh und war der einzige Lichtblick im Leben dieser Tante gewesen, die in dem armseligen Zimmer, in dem sie im Alter allein lebte, auf der Glasplatte der Kredenz eine von der Zeit und den Küssen verblasste Fotografie ihres Kindes stehen hatte. Tante Teresa hatte eine Schwäche für meine Schwester, die sie "Goldlöckchen" nannte, wahrscheinlich weil sie in Lucina irgendeine Ähnlichkeit mit ihrer kleinen Tochter entdeckte.
Diese Unterteilung in Kategorien hatte die Großmutter auch auf die eigenen Kinder und Enkel übertragen. Meine Mutter, die Erstgeborene und Sanfteste, war ihr Liebling, und auch Alberto, der Jüngste, wurde mit Zuneigung betrachtet. Die beiden anderen aber, Vittorio und Nina, vor allem jedoch Nina, hatten bei ihr wenig zu lachen. Von den Enkelkindern bevorzugte sie Enzo, der bei ihr in der Wohnung auf die Welt gekommen war, und dann kam ich als Joles Tochter. Die zwei anderen, jüngeren Enkel wurden als quantité négligeable betrachtet, ja mehr oder weniger abgelehnt, da es Mädchen waren. Tatsächlich hatte die Großmutter eine grausige Ansicht von ihrem eigenen Geschlecht und definierte die Frau als "eine Kloake".
Großmutter Quarantotto, halbe Analphabetin und hochintelligent, muss in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein. Ich besitze noch eine Fotografie, auf der sie mit dem Großvater und den vier rasch hintereinander geborenen Kindern zu sehen ist, und ich muss zugeben, dass sie eine Frau von seltener Anziehungskraft war. Meine Mutter erzählte mir, sie, als die Älteste, sei im Ersten Weltkrieg zum Onkel Domenico aufs Land geschickt worden, da die Familie in Fiume nichts zu essen hatte. Dort in Semedella blieb die Mama vom sechsten bis zum neunten Lebensjahr und hütete die Kühe, die Cvika und die Stella, auf der Weide. Als bei Kriegsende die Großmutter kam, um ihre Tochter, die sich fast nicht mehr an sie erinnerte, wieder zu holen, hatte diese den Eindruck, ihr erscheine die Madonna. Seit damals siezte sie, als einzige unter den Geschwistern, ihre Mutter. Auch noch im Alter hatte sich die Großmutter ein majestätisches Auftreten bewahrt sowie edle Züge und prächtige weiße Haare, zart und wie Seide glänzend, obwohl sie sie sehr selten wusch.


Aus "Wassergrün. Eine Kindheit in Istrien" von Marisa Madieri
Aus dem Italienischen von Ragni Maria Geschwend

1947 verändert ein historisches Ereignis die bis dahin kosmopolitische Stadt Fiume, in der Italiener, Ungarn, Kroaten und Slowenen friedlich zusammenleben, und somit auch das Leben von Marisa Madieris Familie grundlegend: Die Italiener werden aufgefordert, die jugoslawische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder nach Italien zu emigrieren. Hunderttausende entscheiden sich für die Emigration.
Marisa Madieri erzählt von dieser Tragödie ohne jedes Pathos, erinnert sich aus dem Abstand von Jahrzehnten an diese Zeit des Umbruchs. (Zsolnay)
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