Westbahnhof

Als er von zuhause wegging, war gänzlich unklar, was werden sollte. Er nahm die U-Bahn in die andere, in ihre Richtung. So vieles war noch zu tun, so vieles zu unterlassen, aber sie hatte er über alles gestellt. Zumindest im Augenblick. Gesehen hatten sie sich ein einziges Mal zuvor, und er wusste jetzt noch nicht, ob seine verfahrene Situation, sie oder der Alkohol Schuld hatten, dass er jetzt in die andere Richtung fuhr. Sechs Tage lagen zwischen dieser Begegnung und heute. Er hatte ihr, gleich Mittwoch, einen Brief geschrieben und natürlich nicht abgeschickt. Sie hätte es ohnehin nicht verstanden. Am Donnerstag hatte er sie dann zweimal angerufen, mittags und abends; sie würden nach dem Wochenende telefonieren.

Wie würde er nach Hause kommen? Wann? Die U-Bahn fuhr ein. In all den sechs Jahren war er erst einmal mit einer anderen zusammen gewesen. Im Ausland. Es gibt ja Männer, denen die Untreue so alltäglich und leicht ist wie Zähneputzen. Die könnte er jetzt beneiden, nur: worum? Er stieg ein und setzte sich nicht, sondern stellte sich in die Mitte des Wagens, auf jene runde Scheibe, um die sich in den Kurven die Garnitur dreht, was ihm bedeutsam schien.

Auf der Universität gibt es ein kleines, stets überfülltes und ständig verrauchtes Buffet, in dem er einen guten Teil seiner Studienzeit zugebracht hatte; auch jetzt, Jahre nach dem Abschluss, kam er ab und zu her, wobei die wissenschaftliche Bedeutung dieser Besuche längst anderen Bedürfnissen gewichen war. Sie war zum ersten Mal hier, als sie sich vor einer knappen Woche kennen gelernt haben. Als die Türen sich nun schlossen, war er nicht mehr sicher, ob die Richtung stimmte, so wenig, wie er wusste, was er dort wollte, wo er hinfuhr. Er wusste nicht einmal, ob er irgendwo hinfuhr oder einfach wegfuhr. Gleichviel: Was er tat, kam ihm schäbig vor, egoistisch und notwendig.

Oja, ich möchte dich auf jeden Fall wiedersehen, rufen wir uns nach dem Wochenende zusammen. Dennoch hatte sie distanziert geklungen und er fragte sich, ob die Distanz in ihrer Stimme den vier Tagen entsprach. Man wird schon sehen, ob sie sich wirklich rührt. Im Lokal hinter der Burg habt ihr euch benommen wie Sechzehnjährige, und nur ganz knapp hast du die letzte Straßenbahn erwischt, so als wäre es egal, wo du heute schläfst und wie und wann du nach Hause kommst. - Du hast irrsinnig schöne Augen; ich glaube, ich habe mich verliebt; ich muss dir etwas sagen... ich dir auch - es ist wahrscheinlich besser, gescheiter, wenn wir...

Zu Hause hast du dann eine Szene gehabt, tags darauf einen eineinhalbseitigen Brief in der Küche gefunden, in dem von überdenken, der Beziehung noch eine Chance geben, Rücksichtslosigkeit die Rede war. Während du ihn beim Zähneputzen lasest, liefen im Radio Nachrichten über ein Erdbeben mit hunderttausend Toten oder mehr, und dir wurde deine Lächerlichkeit bewusst. Du fuhrst dann in die Arbeit, nahmst die U-Bahn in die gleiche Richtung wie immer und bekamst sie den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. (An die hunderttausend Toten musstest du erst wieder denken, als sie sich in den Abendnachrichten auf hundertzwanzig vermehrt hatten.)

Er versuchte, sich an sie zu erinnern: ihre Haare, ihre Augen (die er irrsinnig schön findet, sogar die Farbe wusste er noch), ihr Mund, ihre Figur; ihre Handschrift (sie hat ihm ihre Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben) erinnerte ihn an die einer seiner Schülerinnen, und die ohnedies unscharfen Bilder verschwammen zu einem. Maria, kurze Haare, Daniela, lange Haare. Vielleicht so: Maria, kurzer Name, kurze Haare... Er hatte ja ihre Adresse, eine kleine Wohnung, aus der sie raus wollte. Ich möchte dich auf keinen Fall verlieren, sagt sie ihm, oder er ihr, ob als guten Freund oder mehr. Was von beiden, wusste er nicht, als die U-Bahn anfuhr, die Entscheidung darüber war etwas, das außer ihm lag, so als hätte er nichts damit zu tun.

Burggasse, hörte er und sah, dass aus dem Schnee Regen wurde. Ich hätte irrsinnige Lust mit dir zu schlafen, sagt er; ich auch, sie, aber... Fast alle anderen sind schon gegangen, auch für sie wird es langsam Zeit, die Straßenbahnen fahren nicht ewig. Man beschließt, vernünftig zu sein, es ist besser so. Ich habe mich noch nie in so kurzer Zeit mit einem Menschen so gut verstanden, wirst du ihr schreiben und sagst es ihr vielleicht auch gerade; ich mag dich sehr gern und will dich wiedersehen, wenn du das auch willst. Das schreibst du nur.

Für Anfang Februar war der Regen sehr heftig und Schirm hatte er keinen mit. Längenfeldgasse, dachte er in der Thaliastraße, und dass jetzt Ferien wären. Alles anders. Wie würden sie sich begrüßen? Mit einem Kuss, sich leidenschaftlich küssen? Er wusste, dass es an ihm nicht lag, so wie nichts an ihm lag, so als ob es um ihn gar nicht ginge. Wie würde sie ihn begrüßen? Als sie sagt, es ist besser, wenn wir heute vernünftig bleiben, liegt ein Noch in ihrer Stimme, ein Versprechen oder Hoffen. Wie würde er mit einem Noch, das sich ins Jetzt auflöst, umgehen? In dieser Station sind die Bahnsteige seitlich und man muss unten durchgehen, um zum Zug in die Gegenrichtung zu gelangen. Die Türen schließen, als er sich - zum ersten Mal in seinem Leben - dessen bewusst wird. Ich hätte Lust, mit dir zu schlafen, und: ich möchte dich auf jeden Fall wiedersehen. Was hatten diese beiden Sätze miteinander zu tun, wie konnten sie zueinander passen? Erinnern wir uns: Noch vor wenigen Tagen hatte er nicht gewusst, dass es sie gibt, und sie wusste nichts von ihm. Was war in dieser kurzen Zeit passiert, dass sie ihm so wichtig wurde?

Als er das erste und einzige Mal seine Frau betrogen hatte, war er viel nüchterner als um diese Uhrzeit üblich. Das Ganze hatte ihn selbst überrascht; nicht, dass er zuvor nie mit dem Gedanken gespielt hätte, mit einer anderen zu schlafen, nur erstaunte ihn, dass er auch in Wirklichkeit dazu fähig war. Aber auch da war nicht er es, der den entscheidenden Schritt gesetzt hatte. Es ist einfach passiert. Es wäre ihn sogar wie Frevel am Schicksal angekommen, hätte er etwas dagegen unternommen. Als er damals zurückkam, meinte sie, er wäre irgendwie komisch, und er redete sich auf den Flug aus.

Der Zug fuhr wieder an und es regnete. Die letzten Tage musste er sich wiederholt vorhalten lassen sich seltsam zu benehmen. Er wusste, dass es damit zusammenhing, dass er jetzt auch nachmittags trank. Wann sonst? An so einem Nachmittag habt ihr euch kennen gelernt, auf der Uni, wo du schon seit mehr als zwei Jahren nichts mehr verloren hast. Natürlich ist da frei an deinem Tisch, oder an ihrem. Vis-à-vis seid ihr gesessen, bis sich andere dazugesetzt haben und du zu ihr rücken musstest. Und dann kamt ihr ins Gespräch, über irgendetwas, Gott und die Welt, deinen Beruf und ihr Bedürfnis, immer etwas mit den Händen und mit dem Kopf zu tun. Es ist kurz vor sieben, das Buffet will zusperren, beim Gehen entschuldigst du dich in euer beider Namen fürs Überziehen. Kein Problem, er ists gewohnt, von den Arbeitern. Hinter der Burg gibts noch ein kleines nettes Lokal, aber nur auf ein Bier. Zuhause ist dir Wurscht, angerufen hast du und aufwärmen kann mans auch. Sie hat wirklich schöne Augen, das Blau ist echt. Du bestellst noch eine Runde und wunderst dich, dass sie mithält. Die Einzelheiten der nächsten vier Stunden werden dir morgen fehlen, dafür bleibt dir ein schlechtes Gewissen und die Ahnung, dass sich in deinem Leben irgendetwas Wichtiges, Großes ereignet hat. Vielleicht war es das, und du hast dich die letzten sechs Jahre nur geirrt, das in Frankreich war nur ein Vorzeichen, ein zu lange ignorierter Fingerzeig in die richtige Richtung.

Nur langsam und wie mit großer Mühe bewegte sich der Zug weiter. Er war überzeugt, dass sich in seinem Leben gerade etwas Großes, Wichtiges, schwer Wiegendes ereignete. Dabei musste er an die hundertvierundzwanzigtausend Toten denken und über seine eigene Lächerlichkeit lachen.

Alser Straße, hörst du und möchtest aussteigen. Aber es sind Ferien, und alles sollte anders sein. Anders: Du nicht du, du nicht dort, wo du hingehörst, nicht dort, wo dir gesagt wird, dass du hingehörst. Als du aus Frankreich zurückkamst, hattest du ein schlechtes Gewissen, allerdings nicht jenes schlechte Gewissen, das ein Kind hat, das sich am Abend die Zähne nicht geputzt hat und seine Mutter belügt. Hauch mich an! Nicht jenes schlechte Gewissen, das man gegenüber einem Menschen hat, dem man Rechenschaft schuldig ist, oder sich selbst gegenüber, wie das Kind, das schon erahnt, sich nichts Gutes zu tun, wenn es sich den Vorschriften der Eltern widersetzt. Nicht einmal jenes schlechte Gewissen, das einer haben muss, den hunderttausend Tote zum Lachen bringen. Nein, das schlechte Gewissen vor einem Prinzip, das man verletzt.

Ein Mensch, der Prinzipien hat, weiß, wohin er geht. Prinzipien geben ihm die Richtung vor. Er setzte sich grundsätzlich nicht hin in der U-Bahn, außer vielleicht einmal ganz spät abends, wenn er längere Strecken fuhr. Meistens stellte er sich in den Mittelteil des Wagens, so auch jetzt, da er in die andere Richtung fährt. Doch nun geschieht das Seltsame. Anstatt noch die drei Stationen bis zu ihr zu fahren, steigt er aus, läuft die Treppen herunter.

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