Wundersame Weihnacht



Mit einem lauten Knall schlug Sebastian die Tür hinter sich zu. Wütend warf er die Jeansjacke in die Ecke seines Zimmers und ließ sich traurig aufs Bett fallen. Während er mit den aufsteigenden Tränen kämpfte, schaute er auf den beleuchteten Messingstern. Wie der Stern über Bethlehem strahlte dieser elektrisch beleuchtete Stern aus blank poliertem Messing in seinem Fenster. Seine Mutter hatte ihn dort angebracht und täglich steigerte er seine Vorfreude auf Weihnachten.
Morgen war Heiligabend und draußen fielen sogar die ersten Schneeflocken, alle Voraussetzungen für ein wunderschönes Weihnachtsfest waren gegeben, nur seine Mutter hatte ihm die Freude daran gründlich verdorben. Gerade heute beim Plätzchen backen hatte sie ihm mitgeteilt, dass er sich schon einmal mit dem Gedanken anfreunden müsse, dass sein Geschenk in diesem Jahr bei Weitem kleiner ausfallen würde als gewünscht. Bei dieser Ankündigung hatte sie Tränen in den Augen und erklärte ihm, dass sie als allein erziehende Mutter, deren Arbeitgeber die diesjährige Weihnachtsgratifikation gestrichen hatte, ganz besonders sparen müsse. Sebastian wünschte sich ganz weit weg zu sein und wollte damit all diesen Ungerechtigkeiten, die ihm jetzt widerfuhren, entfliehen.
Aber allem voran wollte er es seiner Mutter heimzahlen, ihr einen anständigen Denkzettel verpassen. Mit seinem Verschwinden würde er ihr sogar einen großen Dienst erweisen. Denn ohne ihn würde sie bestimmt viel besser zurechtkommen und müsste nicht jeden Cent zweimal umdrehen, dachte er zornig und erhob sich zu allem entschlossen von seinem Bett. Wenn er erst einmal nicht mehr da wäre, dann würde sie die Sache mit dem Geschenk und dem Sparen mehr als bitter bereuen. Sebastian setzte sich an seinen Tisch, nahm ein Blatt Papier und fing an zu schreiben. Obwohl er noch nicht eingeschult war, konnte er bereits lesen und schreiben, was er seiner Mutter zu verdanken hatte und ihm jetzt zugutekam. Er wollte dorthin, wo sich der Weihnachtsmann das ganze Jahr über aufhielt mit all den bunten, schönen Sachen und Geschenken, die so groß waren, dass sie gar nicht eingepackt werden konnten. Solange er seinen Wunsch  persönlich an den Weihnachtsmann richtete, kullerten seine Tränen aufs Papier und vermischten sich mit der Tinte. Nachdem er fertig geschrieben hatte, faltete er das Stück Papier zu einem Flugzeug, öffnete das Fenster mit dem Stern von Bethlehem und ließ es durch den dunklen Nachthimmel mit all den unzählbaren, lautlosen Schneeflocken gleiten. Erst als es nicht mehr zu sehen war, schloss er das Fenster und legte sich trotzig aufs Bett.
Der Duft der frisch gebackenen Plätzchen zog durch die ganze Wohnung und machte auch vor seinem Zimmer nicht halt. Obgleich sein Magen knurrte, wollte er standhaft bleiben und seiner Mutter die Zähne zeigen. Müdigkeit breitete sich über ihm aus, er schlief ein und wachte mitten im Traumland wieder auf. Ein wunderschöner, alles überstrahlender Engel nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Ort seiner Wünsche. Der Weihnachtsmann war derweil mit seinem voll gepackten Schlitten unterwegs, um all die vielen Geschenke pünktlich abzuliefern. Spielsachen, Musikgeräte, Bücher ... so weit das Auge reichte. Alles lag da, was Sebastians Herz begehrte. Aber sein besonderes Augenmerk galt dem Kleidungsstück, das direkt vor ihm lag. Genau die Jacke, die er sich schon das ganze Jahr über sehnlichst gewünscht hatte und die er jetzt nicht erhalten sollte. Er nahm sie auf, zog sie an und tatsächlich passte sie wie angegossen. Sogar ein Spiegel stand plötzlich da, in dem er sich ausgiebig und freudestrahlend betrachten konnte. Ein wertvolles und wunderschönes Kleidungsstück von überaus langer Lebensdauer war dieser robuste Lammfellblouson im Fliegerstil. Für das Modell hatte man die Farbe Sand ausgewählt und mit Antik-Finish versehen, wodurch der Blouson noch authentischer wirkte. Mit durchgehendem Reißverschluss, zwei Schubtaschen, sportlichen Schließen seitlich am Bund sowie zwei Innentaschen mit Reißverschluss war er ein treuer Begleiter durch die kalte Jahreszeit. Sebastian hörte nicht nur die Worte des Verkäufers, sondern sah diesen geradewegs und zuversichtlich lächelnd hinter sich stehen, während er sich selber im Spiegel bewunderte. Dennoch verging ihm blitzartig die Freude an seinem schönen, teuren Geschenk, als ihm der Engel zeigte, wie traurig seine Mutter über sein Verschwinden war und sich aus Verzweiflung über den Verlust ihres über alles geliebten Sohnes von einer Brücke stürzte. Sebastian zog die Jacke aus und ließ sie achtlos auf den Boden fallen, während er mit tränenerstickter Stimme den Engel bat, ihn doch wieder nach Hause zu seiner Mutter zu bringen, die er mehr als alles und jeden anderen liebte. Der Engel nahm ihn gütig lächelnd bei der Hand und erklärte ihm, dass nur allein die Liebe das größte Geschenk im Himmel wie auf Erden sei.
Es war Weihnachtsmorgen. Sebastian rieb sich den Schlaf aus den Augen und schaute durch das Fenster mit dem Bethlehemstern auf die einladende geschlossene Schneedecke. Bei dem Anblick des Sterns musste er sogleich an seine Mutter denken, die diesen so liebevoll an seinem Kinderzimmerfenster aufgehängt hatte. Beunruhigt und angsterfüllt schlich er auf der Suche nach ihr durch die Wohnung und fand sie glücklicherweise in der Küche vor. Dort war sie noch immer zugange, ganz leise zwar, um ihn nicht zu wecken. Und wieder stieg ihm der Duft der frisch gebackenen Plätzchen in die Nase. Die Tränen der Freude und Erleichterung liefen ihm bei ihrem Anblick über die Wangen. Wie immer wenn er sie sah, ging die Sonne für ihn auf. Er war Zuhause und seine über alles geliebte Mutter stand vor ihm. Rasch lief er zu ihr hin und umarmte sie wortlos. Sie zog ihn schweigend und verständnisvoll an sich. Sie brauchten keine Worte. Sie verstand ihn, so wie sie immer alles verstand. Sebastian fühlte sich glücklich und geborgen. Er hörte wieder die Stimme des wunderschönen, alles überstrahlenden Engels, der ihm ins Ohr flüsterte, dass nur allein die Liebe das größte Geschenk im Himmel wie auf Erden sei. Als sie am Abend von der Kirche zurückkamen und es Zeit war für die Bescherung, fand Sebastian unter dem Weihnachtsbaum den Lammfellblouson, den er sich so sehr gewünscht und den er in seinem Traum, oder war es gar kein Traum gewesen, so achtlos hatte zu Boden fallen lassen. Hastig schlüpfte er in die Jacke und warf sich voll Dankbarkeit in die Arme, seiner nicht weniger überraschten Mutter. Die kleinen goldfarbenen Glöckchen am Baum fingen leise an zu klingen und Sebastian wusste, dass er dieses wundersame Weihnachtsfest niemals vergessen würde.

(Susanne Ulrike Maria Albrecht)



Susanne Ulrike Maria Albrecht, geboren im November 1967 in Zweibrücken, absolvierte eine Ausbildung zur Gestalterin für visuelles Marketing und eine private Schauspielausbildung. Von ihr erschienen bereits der Band „Umkehr ausgeschlossen“, eben erst der Lyrikband "Weiße Hochzeit" sowie einige weitere Werke in Anthologien und Literaturzeitschriften.
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ET 12/2009