Interview mit Jørn Riel

Jørn Riel, 1931 in Dänemark geboren, nahm 1951-1953 an einer geologischen Expedition in die Arktis teil und begann zu dieser Zeit zu schreiben. Insgesamt verbrachte er 16 Jahre in Grönland. Riels Tätigkeit beschränkt sich jedoch nicht auf Grönland und das Schreiben, er arbeitete auch als Beobachter der Vereinten Nationen auf mehreren Kontinenten. Zurzeit lebt Jørn Riel in Malaysia und Südschweden.


Sandammeer: Jørn, Sie schreiben Geschichten und Romane über die Menschen in der Arktis, vor allem in Grönland. Wenn ich das richtig sehe, spielen Ihre Werke überwiegend in der Vergangenheit, oft vor der Zeit, als Sie selbst dort lebten. "Vor dem Morgen", Ihr dieses Jahr in deutscher Sprache erschienener Roman, ist in einer Zeit angesiedelt, in der die Inuit Grönlands noch keinen regelmäßigen Kontakt mit Europäern hatten. Hat das etwas mit Nostalgie zu tun, oder bot Grönland nach etwa 1950 einfach keinen Stoff mehr für Geschichten?

Jørn Riel: Ob der Hintergrund mit Nostalgie zu tun hat? Nein. Ich kannte die Menschen, die dort lebten, aber in den 1950ern begannen sie allmählich aus Nordost-Grönland zu verschwinden. So bleibt vielleicht etwas von ihnen in meinen Geschichten erhalten.

Sandammeer: Sie haben viele Jahre in Grönland verbracht, an einem Ort also, den die meisten Menschen als extrem unwirtlich bezeichnen würden. Was fasziniert Sie an Grönland so sehr?

Jørn Riel: Vielleicht war es die Einsamkeit, denn es gab dort draußen nicht viele Menschen, bis zum nächsten Nachbarn waren es 50 km, und es gab insgesamt 13 Menschen an der Nordostküste Grönlands, das ist die Entfernung zwischen Kopenhagen und Paris. - Und das Klima zog mich sehr stark an, die Natur. Zudem das Leben dort, das Leben der Eskimos und ihre Philosophie haben mich sehr angezogen. Ich profitiere immer noch von dieser Art zu leben.

Sandammeer: Die Menschen waren sehr aufeinander angewiesen, wie ich in Ihren Kurzgeschichten las.

Jørn Riel: Ja, sehr, und sie teilten alles. Es ist eine alte Tradition der Eskimos, alles zu teilen. Diese Philosophie ist wirklich faszinierend.

Sandammeer: Und diese völlig unterschiedlichen Personen [die Tierfänger aus den Kurzgeschichten] kommen miteinander zurecht, manchmal sehr nahe beieinander in kleinen Hütten, im arktischen Winter, wenn sie nicht viel hinauskönnen ...

Jørn Riel: Ja. Meine ersten drei Jahre in Grönland hindurch lebte ich mit einem Eskimo. Obwohl wir einen grundverschiedenen Hintergrund hatten, wurde er mein bester Freund. Er starb später auf dem Eis ... Es war eine fantastische Erfahrung, einen so engen Freund zu haben.

Sandammeer: Das muss ziemlich einmalig sein, ich meine, so nahe ist man noch nicht einmal einer Ehefrau.

Jørn Riel: Nein, nein, es ist eine ganz andere Art von Liebe als die zu einer Frau. Aber es war ein wirklich tiefes Gefühl, und als er starb, verlor ich etwas. Er war wirklich ganz anders als ich, ich meine, ich hatte studiert, und er konnte weder lesen noch schreiben, aber in mancherlei Hinsicht war er viel gescheiter und wissender als ich.
Eskimos haben nicht diese ... mediterrane Kultur [Riel meint sicherlich die auf der Antike basierende europäische Kultur; Anm. Sandammeer] auf dem Buckel. Sie sind gut gelaunt und für alles offen. Sie nehmen das Leben nicht zu ernst, und sie leben im Jetzt.

Sandammeer: Hat sich das während der letzten Jahrzehnte nicht geändert?

Jørn Riel: Doch, sie haben Fernsehen und Telefone, und der Kontakt zu Europa ist viel häufiger. Als ich dort war, kam einmal jährlich ein Schiff aus Norwegen herüber, blieb ein, zwei Tage, fuhr wieder ab, und wir hatten ein Jahr lang unseren Frieden. Also war es sehr einsam, aber wunderbar. Man hat diese wundervolle Natur, man hat seine Hunde.

Sandammeer: Inzwischen ist die Tierjagd aufgrund von Artenschutzprogrammen verboten worden. In den deutschsprachigen Ländern werden Natur- und Artenschutz sehr ernst genommen, und manch potenzieller Leser mag es irritierend finden, dass Sie über die Tierjagd schreiben. Waren die Aktivitäten der von Ihnen porträtierten Jäger jemals eine Gefahr für die Tierwelt Grönlands?

Jørn Riel: Wenn sich nur dreizehn Jäger an einer so langen Küste aufhalten, können sie niemals eine Gefahr für die Tierwelt darstellen. Im Gegensatz zur Massentierhaltung nutzten wir jeden Krümel der Beute. Wir töteten, um zu überleben. Mittlerweile gibt es zum Beispiel so viele Moschusochsen in Nordost-Grönland, dass es nicht genügend Nahrung für sie gibt, sie fallen Krankheiten und Epidemien zum Opfer. Es gibt dort zudem so viele Eisbären, die sind wie Mücken.

Sandammeer: Also war das nicht wie die moderne Waljagd.

Jørn Riel: Nein, die Waljagd ist scheußlich, genauso wie das Totschlagen von Robben, Tausenden und Tausenden junger Robben. Eskimos würden so etwas niemals tun, nicht über den Grundbedarf hinaus.

Sandammeer: Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal ein Tier töteten?

Jørn Riel: Neunzehn, es war ein Eisbär. Wir mussten es tun, weil dieser Eisbär angriff. Wir konnten nichts tun, außer ihn zu erschießen. Wir haben ihn an die Hunde verfüttert. Wir hatten 21 Hunde, und sie brauchten ein Kilo Fleisch pro Hund und Tag.

Sandammeer: Ihre Geschichten - ich beziehe mich auf "Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf" - enthalten eine bezaubernde und verblüffende Mischung aus Melancholie, Tragik und mitreißendem Humor. Sie schreiben, dass Sie die Grundlagen für Ihre Geschichten in alten Erzählungen der grönländischen Fänger gefunden und diese ausgeschmückt haben. Ist dieser wundervolle Humor, der den Leser selbst in sehr spannenden Passagen in lautes Lachen ausbrechen lässt, Teil der ursprünglichen Geschichten oder aber Ihres viel gerühmten Erzähltalents?

Jørn Riel: Beides. - Beides, weil ich zwar während meiner ersten Jahre in Grönland als Navigator gearbeitet habe, als Navigator und Stationsleiter bei einer Expedition, aber wir waren bei dieser Expedition nur zwei, und so gab es nicht viel zu leiten. - Um uns waren die Berufsjäger, und wir lebten drei Jahre lang mit ihnen. Wir teilten ihre traditionelle Lebensart, und darüber schreibe ich in diesen Kurzgeschichten.

Sandammeer: So existierte beispielsweise Anton wirklich? [Anton schließt sich direkt nach dem Abitur den Jägern in Nordost-Grönland an, Anm. Sandammeer.]

Jørn Riel: Anton ist, glaube ich, ein Abbild von mir. Insgesamt gibt es elf Bände über diese Jäger, und ich arbeite am zwölften. [Siehe letzte Frage, Anm. Sandammeer.]

Sandammeer: Oh, ich hoffe, dass er auch ins Deutsche übersetzt wird?


Jørn Riel: Ja, ich hoffe, dass der Unionsverlag damit fortfährt.

Sandammeer: "Vor dem Morgen" ist zunächst ein sehr stimmungsvoller Roman. Eine Inuit-Großmutter und ihr kleiner Enkel verbringen den Sommer auf einer Insel dicht vor Grönland, um für ihre Sippe Wintervorräte vorzubereiten. Als sie nicht wie vereinbart am Ende des Sommers abgeholt werden, warten sie ab und sehen dann nach, was mit der Sippe los ist. Sie müssen feststellen, dass alle außer ihnen von einer Epidemie hingerafft worden sind und sie, die alte Frau und der noch nicht einmal halbwüchsige Junge, nach ihrem Verständnis die letzten Menschen auf der Welt sind. Eine Weile kämpfen sie gegen den unerbittlichen arktischen Winter und seine Gefahren an. Die Großmutter begreift jedoch, dass sie keine Chance haben - und selbst wenn sie den Winter überlebten, wäre der Junge nach ihrem Tod völlig allein. Aus Liebe zu dem Kind überlässt sie sich und den Jungen, ohne dass er es bemerkt, dem Tod durch Erfrieren im Schlaf.
Was beginnt wie eine romantische Erzählung über eine heile Welt, erhält plötzlich eine erschütternde Dramatik, die den Leser auch nach dem Ende des Buchs nicht loslässt. Denn es wirft Fragen auf: Darf ich einen geliebten Menschen, für den ich verantwortlich bin, in einer ausweglosen Situation aus Mitleid töten? In Deutschland zum Beispiel ist das ein sehr umstrittenes Thema. Hätten Sie wie die Protagonistin gehandelt?


Jørn Riel: Ja. Ja, das würde ich tun. Ich denke, Ninioq ist eine sehr, sehr mutige Frau. Ihre Liebe zu dem Jungen ist so groß, dass sie das für ihn zu tun bereit ist. - Der Verlauf der Geschichte war mir von dem Augenblick an klar, als ich auf die Knochen stieß. [Beim Besuch einer unbewohnten kleinen Insel vor Grönland fand Jørn Riel Skelette einer Frau und eines Kindes. Aus diesem Fund entstand die Idee zum Roman. Anmerkung Sandammeer.] Ich hatte keinen Zweifel darüber, was geschehen war. Vielleicht ist es nicht so passiert, das weiß ich nicht, aber für mich war es klar.

Sandammeer: Wenn Sie das Schicksal beispielsweise in den Dschungel Südamerikas verschlagen hätte oder in die Sahel-Zone, wären Sie dann wohl auch ein erfolgreicher Schriftsteller geworden? Die Frage drängt sich auf, weil Ihre "Schreibe" so eng mit Grönland, mit der Arktis verflochten zu sein scheint.

Jørn Riel: Das kommt daher, dass nur meine Bücher über die Arktis ins Deutsche übersetzt wurden. Aber ich habe 31 Bücher geschrieben, und sie sind über alle Teile der Welt, über Südamerika und den Fernen Osten, Südostasien, Afrika - Kongo ... So gibt es ein breites Spektrum an Büchern von mir, ganz unterschiedliche Bücher. Einige Bücher sind ernst, andere amüsant, von allem ein wenig.

Sandammeer: Aber ich glaube, sie sind nicht ins Englische übersetzt worden, ich habe ein bisschen im Internet recherchiert und nichts auf Englisch gefunden.

Jørn Riel: Stimmt, nicht ins Englische. Aber meine Bücher sind in, wenn ich mich richtig erinnere, zwanzig Ländern veröffentlicht worden, das letzte war Chile. Sie wurden ins Französische, ins Italienische, ins Spanische und viele weitere Sprachen übersetzt.

Sandammeer: Mögen die Leser aus englischsprachigen Ländern Ihre Art des Schreibens nicht?

Jørn Riel: Ich weiß es nicht, aber ich glaube das nicht, denn die Kanadier haben jetzt einen Film aus "Vor dem Morgen" gemacht, der fast fertig ist und nächstes Jahr in Toronto vorgestellt wird.
[Bezüglich der Übersetzungen, Anm. Sandammeer:] Ich mache keine Werbung für mich, sondern ich schreibe und hoffe, dass die Werbung von selbst kommt. Ich bin kein Geschäftsmann.

Sandammeer: Glauben Sie, dass der Film die ganze Tiefe des Romans erfassen wird?

Jørn Riel: Oh ja, das glaube ich, weil ich die Regisseurin kenne. Es handelt sich um eine Frau, und das ist gut für den Film. Sie kann alle Gefühle der Eskimofrau dem armen Jungen gegenüber teilen, weil sie eine Frau ist. Sie [Marie-Hélène Cousineau, Anm. Sandammeer] hat schon einen bekannten Film über Eskimos gemacht ["Atanarjuat - Der schnelle Läufer", mehrfach preisgekrönt, u. a. in Cannes, Anm. Sandammeer], daher denke ich, dass sie auch einen guten Film aus "Vor dem Morgen" macht. Ich hoffe, dass er ein Erfolg wird, denn ich hätte es gern, wenn die Geschichte weitergetragen würde.

Sandammeer: Sie sind in einem Alter, in dem die meisten Menschen längst ihre Rente genießen. Wir haben es schon angeschnitten, Sie schreiben weiterhin. Können wir noch einmal kurz darauf eingehen?

Jørn Riel: Ich arbeite an meinem zwölften Kurzgeschichtenband. Außerdem arbeite ich an meiner Autobiografie. Aber da mein Leben noch nicht fertig ist, wird sie erst nach meinem Tod veröffentlicht werden.

Sandammeer: ... Der hoffentlich noch weit entfernt ist ...

Jørn Riel: Das hoffe ich auch ...

Sandammeer: ... Also sind Sie nicht wie all diese jungen "Stars", die mit 25 Jahren ihre Autobiografie schreiben.

Jørn Riel: Es ist nicht gut, eine Autobiografie zu schreiben, wenn man nicht weiß, was noch passieren kann. Vielleicht ist das Ende die aufregendste Erfahrung im Leben. Es ist immer spannend zu beobachten, was passiert.

Sandammeer: Das ist eine sehr kluge Feststellung zum Schluss. Jørn, wir danken Ihnen herzlich für das Interview und wünschen Ihnen alles Gute und weiterhin viel Erfolg!


Das Interview führte Regina Károlyi am 05.10.2006 am Stand des Unionsverlags auf der Frankfurter Buchmesse.
Übersetzung der Fragen ins Englische und der Antworten aus dem Englischen: Regina Károlyi.